André Schaberick

Der Tod ist mein Freund


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Beine, die ebenfalls unter Kontrolle der Tentakel waren, begannen zu zittern.

      „Nein, kannst du nicht. Versuch es doch mal.“

      „Es kann nichts passieren. Es kann gar nichts passieren. Das ist alles nur irrationale Angst, oder wie man das nennt. Ich bin es nur nicht gewohnt. Ich bin ganz entspannt und locker. Und ich kann nicht herunterfallen. Ich bilde mir all meine Angst nur ein.“

      Vor lauter Aufregung versteifte sich sein ganzer Körper. Dies spürte das Tori natürlich sofort.

      „Du musst lockerer werden. Wenn du so steif auf mir hängst, kann ich nicht fliegen. Atme tief durch. Lass deine Arme locker von dir herabhängen.“

      Samuel konzentrierte sich auf seine Arme und versuchte, die Muskeln zu entspannen. Es funktionierte beim Zahnarzt, warum nicht auch hier?

      „Ist es so besser?“

      „Ja, so ist es gut. Und nun konzentriere dich auf deine Beine. Sie müssen locker in der Luft pendeln.“

      Leichter gesagt als getan. Samuel gab sich die größte Mühe. Was kam da bloß auf ihn zu?

      „Ich kann wirklich nicht herunterfallen?“

      „Nein, Samuel, wenn ich es dir doch sage.“

      Auch seine Beine bekam er unter Kontrolle. Nun lockerte sich auch der Rest seines Körpers, und er saß nicht mehr wie ein verkrampfter Stock auf dem Hals. Eigentlich war es hier oben ganz bequem. Warum er so eine Angst hatte, konnte er sich gar nicht erklären.

      Immer fester packten die Tentakel zu, sodass sein Oberkörper wie in den Sitzen einer Achterbahn festgehalten wurde.

      Durch die Tentakel wurden das Tori und Samuel zu einer Einheit.

      Samuel spürte, dass sein ganzer Körper keine Chance mehr hatte, auch nur fingerbreit hin oder her zu schaukeln. Er saß wie einbetoniert auf dem Rücken fest. Das nahm ihm zumindest einen Großteil seiner Angst. Endlich konnte er sich nahezu komplett entspannen.

      „Wir werden nun abheben. Es wird anfangs ziemlich heftig schaukeln, aber das ist völlig normal. Hab keine Angst, vertrau mir, setze ein freundliches Lächeln auf. Schau nicht so verkrampft.“

      Das Lächeln hatte Samuel völlig vergessen. Er war einer der ersten Menschen, der auf einem Tori fliegen durfte. Er sollte ein Grinsen auf dem Gesicht haben, das breiter als der Mund des Tori war. Stattdessen fiel es ihm momentan noch etwas schwer, zu lächeln. Aber dann! Dann kam es plötzlich doch hervor. Ein freundliches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

      „Ich bin jetzt bereit, du kannst abheben.“

      „Können kann ich immer, aber darf ich auch?“

      „Ja, du darfst.“

      Schon begann das Tori, seine gewaltigen, mit Haut bespannten Flügel auszubreiten und damit zu wedeln. Ein enormer Wind strich ihm um den Körper, Staub wirbelte auf, Gras und Steine flogen durch den plötzlichen Sturm durch die Luft. Dann hoben sie ab. Kaum hatte es zwei oder dreimal mit den Flügeln geschlagen, befanden sie sich schon weit über dem Boden. Es schaukelte tatsächlich ziemlich heftig. Da Samuel aber mit dem Tori fest verbunden war, hatte er kaum noch Angst. Immer mehr kam sein Lächeln von Herzen.

      Plötzlich flatterte das Tier heftiger. Samuel spürte, dass sich die Richtung von senkrecht nach oben in waagerecht änderte. Als säße er auf einer Rakete, ging es nun vorwärts. Das Tori streckte den Körper, Samuel lag jetzt flach auf seinem Hals. Dank der Stromlinienform und dem Windschatten hinter dem großen Kopf bekam er nicht so viel Wind in die Augen, wie er befürchtet hatte. Er konnte sehr gut seine Augen offen halten. Und das lohnte sich. Von hier oben hatte er einen atemberaubenden Blick über die Natur. Büsche und Bäume wurden ganz klein unter ihnen und schossen nur so an ihnen vorbei. Sie hatten nun die Flughöhe der umliegenden Berge erreicht. Das Tori hatte wirklich nicht zu viel versprochen, es ging stets geradeaus. Es flog keine Kurven. Samuel war sprachlos, er wurde von seinen Glücksgefühlen übermannt. Also tat er das, zu was er in seinem Zustand noch in der Lage war: Jubeln vor Freude.

      „Juhuuu! Das ist super nice!“, rief er und genoss den Flug.

      Es war atemberaubend, überwältigend, unglaublich und… dafür gibt es mal wieder keine Worte. Selbst der Start eines Tornado Düsenjets konnte nicht prickelnder sein. Die unglaubliche Beschleunigung raubte ihm die Sinne. Das Tori wurde immer schneller. Das war nicht mehr fliegen, das war Tornado.

      „Fliegst du immer so schnell?“

      „Das ist die normale Geschwindigkeit, wenn ich längere Strecken fliege. Es geht noch schneller, aber dann wird es anstrengend für mich. Die jungen Toris fliegen aber tatsächlich schneller, viel schneller.“

      „So ist es schon in Ordnung.“

      „Hast du den Mut, ein wenig aufregender zu fliegen? Vielleicht ein paar Kurven? Und ein wenig mehr Spaß?“

      „Natürlich habe ich Lust. Es wäre das Nächste gewesen, das ich dich gefragt hätte. Aber du warst schneller.“

      „Ja, ja, das hätte ich jetzt auch gesagt. Aber warte ab, es wird gleich lustiger.“

      „Oh Gott, was kommt jetzt?“

      Würde Samuels Puls nicht schon wie eine Dampfmaschine rattern, hätte er jetzt damit angefangen.

      Das Tori drehte sich plötzlich auf den Kopf. Samuel blickte, wenn er nach oben schaute, in Richtung Erde. Aber so blieb es nicht, denn im selben Moment änderten sie ihre Richtung - in Richtung der Erde. Schneller als im freien Fall schossen sie nun nach unten. Es trieb Samuel die Tränen in die Augen. Doch er konnte sie nicht abwischen, weil er von den Tentakeln festgehalten wurde, die nun so hart wie Eisenstangen waren. Er ließ also die Tränen einfach fließen.

      „Aaaaah!“

      Samuel schrie aus voller Kehle, während es senkrecht nach unten ging. Kurz vor dem Aufprall auf den Boden zog das Tori wieder nach oben und schoss mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit über die Baumwipfel. Es ging nun wieder Richtung Himmel, schnell gewannen sie an Höhe. Schon war die Welt wieder ganz klein.

      Als wäre es nicht schon genug der Fliegerei, vollführte das Tori nun Saltos und Luftrollen. Eigentlich hatte es versprochen, dies nicht zu tun, aber Samuel hatte nichts dagegen.

      Fliehkräfte wie bei einer Raumsonde, die in den Himmel katapultiert wird, wirkten auf ihn. Fast hätte sich Samuel in die Hose gemacht, an manchen Stellen hätte er sich gern übergeben. Doch er schaffte es, einzuhalten. Er genoss den wilden Flug. Es machte einen unbeschreiblichen Spaß!

      „Juhuuu! Das ist klasse, Noch einen Salto!“

      Anstatt zu speien, feuerte Samuel das Tori an, noch atemberaubender zu fliegen. Noch riskanter sollte der Flug werden. Und er wurde riskanter! Senkrecht nach oben, dort einen Parabelflug nach unten in Richtung Erde und knapp vor dem Boden eine scharfe Kurve, anschließend ging es wieder senkrecht nach oben. Mittlerweile hielt sich Samuel noch nicht einmal mehr an den Tentakeln fest. Er ließ alles mit sich geschehen.

      Schließlich landete das Tori erschöpft, aber gekonnt auf dem Fußboden und lockerte seine Tentakel. Sie fielen von Samuel ab, sodass er vom Hals des Tori absteigen konnte. Sicher hatte er nun eine neue Frisur. Er stand wieder auf seinen eigenen Füßen. Allerdings hielt dieser Zustand nur für einen Augenblick an, dann fiel er auf dem Boden. Sein Gleichgewichtssinn war völlig durcheinander.

      „Wow, war das ein Flug!“

      Samuel konnte nicht mehr aufhören zu lachen und rieb sich gleichzeitig den Hintern, denn der Fall auf seinen Allerwertesten hatte ziemlich wehgetan. Doch das war ihm egal. Der Spaß ließ ihn alles vergessen.

      Auch das Tori musste lachen, aber es lachte nicht mit, sondern über Samuel.

      „Hey, warum lachst du über mich? Für meinen ersten Flug mit einem Tori war ich doch gar nicht so schlecht, oder etwa doch?“

      „Du warst echt klasse, wie sieht es denn in deiner Hose aus?“

      „Nichts