Heidy Fasler

Liebe-VOLL AUSGENOMMEN


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Einzige waren, das uns Geschwister differenzierte. Behütet wuchsen wir in einer recht harmonischen Familie auf, in der unsere Mutter das Zepter führte und unser Vater für den Unterhalt sorgte. Die Autorität ging aber eindeutig von unserer Mutter aus.

      3

      David hat inzwischen auf der Straße vor Vaters Wohnblock angehalten. Ich steige aus, laufe neben der Rasenfläche hinüber zum Eingang und drücke neben dem Namensschild ‚Walter Graf‘ zweimal kurz auf den Klingelknopf. Es ist das mit Vater vereinbarte Zeichen, dass ich es bin. Kurz danach erscheint er auf dem Balkon, winkt mir zu, geht zurück ins Wohnzimmer, schließt die Balkontüre und zieht schwungvoll den Vorhang vor das Fenster. Als er den Eingang seines Blocks verlässt, wirft er aus lauter Gewohnheit einen Blick in den Briefkasten.

      Er trägt der Jahreszeit angepasste lockere luftige Kleider und einen geflochtenen Strohhut, der ihm einen vornehmen Anstrich verpasst. Er ist, außer einem kleinen Wohlstandsbäuchlein, von schlanker Statur, besitzt noch immer volles, inzwischen weißes Haar und sieht jünger aus, als er effektiv ist. Vom Aussehen her vergleichen wir ihn mit dem Schauspieler Spencer Tracy, auch wenn wir ihm nicht die gleichen Charakterzüge, wie sie dieser Star in den Filmen verkörpert, zuschreiben können. Trotzdem haben wir ihn gern und er nimmt einen wichtigen Stellenwert in der Familie ein. Allein die Einladungen zu allen Geburtstagen innerhalb der Familie füllen einen großen Teil seines Terminkalenders. Familientraditionen sind in unserer Familie nicht nur obligatorisch, sie sind heilig. Dazwischen treffen wir uns zu Picknicks und Ausflügen, an denen Vater immer teilnimmt. Weil er überall dabei ist, kennt er auch die meisten unserer Freunde. Er kann sich nicht beklagen, dass er einsam ist. Als Wittwer allein, ja, aber nicht einsam. Dazu ist er zu gut in seine Familie eingebunden und integriert.

      Zur Begrüßung streckt er mir seine leeren Hände entgegen, denn er bringt nie etwas mit, wenn er eingeladen ist. Im Vergleich zu Mutter, die in Sachen Mitbringsel sehr großzügig war, ist er das pure Gegenteil. Dafür kennt er sich in elektrischen Dingen aus. In unseren Haushaltungen brachte er jede Lampe zum Glühen, defekte Maschinen zum Laufen, oder zog eine neue Steckdose, wenn wir eine brauchten. Jetzt, da er älter ist, hat das Werken etwas nachgelassen und er verbringt lieber Zeit in der freien Natur, als in seinem Bastelzimmer.

      Ich weiß nicht wieso, aber heute bin ich nicht mit ihm einverstanden, dass er Kelly nichts mitbringen will. Ich helfe ihm auf der Beifahrerseite beim Einsteigen und bemerke, wie er umständlich in der einen Hosentasche ein Portemonnaie und in der anderen eine Zigarrenschachtel zur Seite schiebt, bevor er sich hinsetzt. Den Umstand, dass er eine Geldbörse auf sich trägt, will ich nutzen.

      Als ich wieder hinter David auf dem Rücksitz sitze, flüstere ich ihm zu, dass er zum Bahnhof fahren und dort anhalten soll. Dann lehne ich mich nach vorne und frage Vater: »Hast du kein Geschenk dabei?«

      »Nein. Weshalb?«, fragt er erstaunt.

      »Weil Kelly heute Geburtstag hat und sie sich auch sonst viel um dich kümmert. Sie ist immerhin dein Enkelkind und Lynn ist dein Urenkelkind. Du könntest ihnen wirklich einmal etwas schenken. Es muss nichts Großes sein. Es geht um ein Zeichen der Wertschätzung. David fährt zum Bahnhof. Dort haben die Geschäfte am Sonntag geöffnet und ich kaufe für dich eine Kleinigkeit ein. Aber ich möchte, dass du es bezahlst, damit es ein Geschenk von dir ist! Zwei Tafeln Schokolade kosten nicht alle Welt.«

      »Wieso jetzt plötzlich?« fragt er, dazu neigend, den Pfennigfuchs in sich zu übertreiben.

      Ich gehe nicht darauf ein, denn inzwischen sind wir am Bahnhof angekommen und David ist mit dem Wagen in eine Parkbucht gefahren.

      Ich steige aus, laufe um den Wagen herum zur Beifahrerseite, öffne die Türe und schaue Vater von oben herab erwartungsvoll an. Als er merkt, dass ich es ernst meine, zögert er einen Moment, zieht sein Portemonnaie hervor und klappt es auf. Von oben sehe ich einen Zehner, zwei Zwanziger und einen Hundert-Euroschein darin stecken. Er zieht den Zehn-Euroschein heraus und streckt ihn hoch. »Wenn du meinst«, brummt er, nicht sehr erfreut.

      »Ja, ich meine!«

      Ich schnappe den Geldschein und verschwinde im Laden. Dort entscheide ich mich für eine kleine Schachtel Pralinen und eine Tüte Bonbons und achte darauf, dass beides nicht mehr als zehn Euro kostet, denn heute habe ich keine Lust, selbst noch etwas beizusteuern.

      Letztes Jahr habe ich mich im Dezember bei Vater erkundigt, ob er im Sinn hätte, Helene Kramer, seiner Haushaltshilfe, etwas zu Weihnachten zu schenken. Da er verneinte, habe ich ihm eine Flasche Champagner besorgt und ihn, da ich ihn kenne, gebeten, diese mit einem Batzen - aus seinem Sack - an Frau Kramer zu verschenken. Später antwortete er auf meine Nachfrage, dass er ihr nur den Champagner übergeben hat, weil man, wie er mit einem Augenzwinkern meinte, nicht alles auf einmal verschenken soll. Das war sehr schlau von ihm und gegenüber Frau Kramer hat er bestimmt nicht erwähnt, dass der Champagner auf meine Kosten ging. Diese und ähnliche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich in der Schlange vor der Kasse stehe und hoffe, dass es bald vorwärtsgeht. Hier im Laden ist es angenehm kühl, aber David, Vater und der Hund sind draußen der Hitze ausgesetzt. Endlich bin ich an der Reihe, bezahle rasch, eile zurück zum Wagen, drücke Vater die Süßigkeiten und die paar Cents vom Wechselgeld in die Hand und steige hinten ein. David startet den Motor und lenkt den Wagen zur Autobahn.

      Nach einer halben Stunde treffen wir bei Kelly ein. Sie wohnt in einem kleinen Dorf und besitzt, zusammen mit ihrem Mann, in einer gepflegten Einfamilienhaussiedlung ein kleines, schmuckes Häuschen. Heute haben sie auf der Rasenfläche im Garten, zusätzliche Sitz- und Tischgarnituren mit Sonnenschirmen aufgestellt und die Tische festlich gedeckt. Wir treffen als letzte ein. Vater gratuliert Kelly zum Geburtstag, drückt ihr die Mitbringsel in die Hand und läuft mit mir und David in den Garten, wo wir fröhlich empfangen werden. Weil Vater ein gutes Gedächtnis hat, nennt er bei der Begrüßung jeden beim Namen. Nebst ein paar Verwandten von unserem Schwiegersohn, ist meine Familie fast vollzählig vertreten.

      Meine ältere Schwester Toni ist mit ihrem Exmann und ihren beiden erwachsenen Töchtern Sandra und Nicole mit deren Partnern anwesend. Toni ist trotz ihrer modernen Aufgeschlossenheit eine mütterliche Erscheinung und manchmal etwas blauäugig.

      Mein jüngerer Bruder Robert ist in Begleitung seiner langjährigen Partnerin da. Er hat als einziger die schwarzen Haare unserer Mutter geerbt und war mit seinen blauen Augen schon in der Schule der Schwarm aller Mädchen.

      Nur mein ältester Bruder Frank und seine Frau Lore fehlen, weil Kelly sie dieses Jahr nicht eingeladen hat. Weil die beiden bisher an jedem Fest von Kelly dabei gewesen sind, sich ihr gegenüber aber nie revanchiert haben, hat Kelly beschlossen, diese einseitige Sache zu beenden.

      Es ist so heiß, dass zuvor alle unter den Schatten spendenden Sonnenschirmen nah zusammengerückt sind, aber jetzt für Vater den besten Platz frei geben.

      Kelly und unser Schwiegersohn tischen Getränke und Kuchen auf und sind besorgt, dass jeder auf seine Kosten kommt. Die Zeit plätschert dahin und es geht lustig zu und her. Vater, der mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck inmitten dieser fröhlichen Schar sitzt und sich eine Zigarre angesteckt hat, pafft genüsslich vor sich hin und hört der Unterhaltung zu. Wir genießen den schönen Tag, das gemütliche Beisammensein, stoßen mit Sekt auf Kellys Geburtstag an und sind froh, dass die kleine Lynn mit Struppi beschäftigt ist. Sie hat die Aufgabe übernommen darauf zu achten, dass der Hund nicht ins Haus flitzt, denn er und ihre Meerschweinchen sind nicht die besten Freunde, und dummerweise fühlt sich Struppi von diesen angezogen, wie ein Bär vom Honig. Vater drängt sich selten auf, wenn er ein Bedürfnis hat und da das alle wissen, kümmern sich alle fürsorglich um ihn. Am Austausch der Neuigkeiten und Nettigkeiten nimmt er nur wenig teil und wirkt irgendwie abwesend. Will man etwas von ihm wissen, muss man ihn direkt ansprechen. Weil man mit den neusten Informationen durch ist und somit alle wieder auf dem aktuellsten Stand sind, wendet sich Sandra, die jüngere Tochter meiner Schwester Toni, an ihn.

      »Großpapa, geht es dir gut?«, fragt sie.

      »Bestens. Kürzlich haben mich Frank und Lore zu einem Ausflug an den Rennsteig mitgenommen. Franks Patentochter war auch dabei. Das ist eine