Heidy Fasler

Liebe-VOLL AUSGENOMMEN


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sich die junge Mutter - unsere spätere Großmutter – ihren Lebensunterhalt in der nahen Fabrik. Sie lebte bis kurz vor ihrem Tod in der spartanisch eingerichteten Wohnung, die ihr von der Fabrik zur Verfügung gestellt und für die ihr die Miete vom Lohn abgezogen wurde. In seinem Umkreis galt Vater als schönster Knabe weit und breit, und auch als schnellster, weil er jeden Wettlauf gewann. Später wurde er in der Leichtathletik ein As und hätte es weit gebracht, wenn nicht der zweite Weltkrieg seiner sportlichen Karriere ein Ende gesetzt hätte. Dafür entwickelte er im Krieg, er war in der Gebirgsinfanterie, die Leidenschaft zum Klettern und bestieg, Jahre später, fast alle Viertausender in der Schweiz.

      Schon in seiner Kindheit hielt er sich am liebsten in der freien Natur und bei den Tieren auf. Einer seiner Onkel sorgte dafür, dass er nach der Schulzeit eine Lehre absolvieren und ins Berufsleben einsteigen konnte. Im zweiten Weltkrieg lernte er auf einem Heimurlaub seine erste Frau kennen. Die beiden heirateten und Frank kam im letzten Kriegsjahr zur Welt. Um besser über die Runden zu kommen, vermieteten sie in ihrem Haus ein Zimmer. Mit dem letzten Untermieter machte sich seine Frau auf und davon und überließ Mann und Kind ihrem Schicksal. Frank war damals zwei Jahre alt. Mein Vater verlor nie ein Wort über seine Kindheit, selten über seine Jugend und schon gar nicht über seine erste Ehe. Alles was ich weiß, hat mir meine Mutter erzählt.

      Niemand in der Familie traute unserem Vater das selbständige Leben zu, das er nun als Witwer führt. Er ist trotz seinem hohen Alter kerngesund, braucht keine Medikamente, aber zum Lesen eine Brille. Wir empfinden es als großes Glück, dass er so rüstig ist. Seinen Haushalt besorgt er nahezu allein, nur alle vierzehn Tage sieht eine Haushalthilfe, zum Rechten.

      Von unserer Mutter ließ er sich, kurz bevor sie starb, erklären, wie man eine Waschmaschine bedient, Einzahlungen tätigt und Rechnungen bezahlt. Wir haben uns gewundert, dass er das in seinem Alter noch gelernt hat und jetzt alles selbstständig alles auszuführen weiß. Wir müssen uns um ihn auch keine finanziellen Sorgen machen. Soviel wir wissen, fließt auf ein Konto auf der Dorfbank eine Altersrente, mit der er seinen Lebensbedarf deckt und die regelmäßig anfallenden finanziellen Verpflichtungen, werden im Lastschriftverfahren jeden Monat von einem Konto abgebucht, das er auf der Citybank eingerichtet hat und auf das die Rente seiner Pensionskasse eingeht. Er profitiert heute davon, dass die Firma, bei der er bis zu seiner Pensionierung angestellt war, das Pensionskassensystem sehr früh eingeführt und er zusammen mit dem Arbeitgeber über Jahrzehnte in diese Kasse eingezahlt hat.

      Für unsere Bedenken, was seine Selbständigkeit betrifft, hatten wir gute Gründe. Unsere Mutter ließ selten, aber doch ab und zu die Bemerkung fallen, dass sie fünf Kinder großziehen musste. Damit traf sie den Nagel auf den Punkt, denn sie musste unseren Vater gelegentlich an einfache Anstandsregeln mahnen, die wir seit unserer Kindheit intus hatten. Ich habe nie verstanden, weshalb sich Vater diese nie merken konnte. Und Mutter hielt sich immer an die Sache. Nie hörten wir sie ein wüstes Wort aussprechen, so wie sie auch uns verboten hat, Schimpfwörter in den Mund zu nehmen, wenn wir Kinder uns gestritten haben. Hin und wieder deutete Mutter an, dass unser Vater und sein Sohn Frank dem Schicksal dankbar sein können, dass die beiden unter ihre Fittiche gekommen sind, denn ohne sie hätten die Zwei mit größter Wahrscheinlichkeit ein Leben am Rande der Gesellschaft gefristet. Damit konnten wir nicht viel anfangen. Wir gingen davon aus, dass sie Vaters fehlendes Rückgrat meinte, das sie oft bemängelte, oder weil sie bei ihm stets mit den Benimmregeln missionieren musste. Solche Sachen halt. Auch bei Frank gab es keine Anhaltspunkte, außer vielleicht, dass er jeweils liebend gern seine Auslagen anderen aufbürdet. Hatten er und Lore bei sich zu Hause Besuch erwartet, rief Frank immer unsere Mutter an und jubelte ihr unter einem Vorwand seine Gäste unter. Nachdem sie nicht mehr da war, versuchte Frank mir, oder meinen Geschwistern, seine Gäste aufzudrücken, aber wir wiesen seine Selbsteinladungen immer öfters ab. Worüber wir uns aber ärgern und dem Frieden zuliebe nichts sagen, ist, wie er sich bei gemeinsamen Restaurantbesuchen die Bezahlung der Zeche vorstellt. Er bestellt immer den teuersten Wein und die besten Gerichte, während wir uns nach der Decke strecken. Geht es ans Bezahlen, besteht Frank auf die Teilung der Rechnung durch die Anzahl Personen am Tisch, wobei er sich und Lore jeweils als eine Person rechnet. Zähneknirschend dulden wir das, weil es das einzige ist, das uns an ihm stört. Ansonsten haben wir ihn gern, finden seinen Humor toll, er ist immer freundlich und, das muss man ihm lassen, immer zur Stelle, wenn man ihn braucht. Und schließlich haben wir alle einen Makel.

      5

      Am Montagmorgen bin ich um sieben Uhr die erste, die in der Agentur eintrifft. Normalerweise komme ich nie so früh ins Büro, weil ich zuvor mit Struppi einen Abstecher in die Umgebung mache, aber heute kann ich es kaum erwarten, etwas über diese Frau in Erfahrung zu bringen.

      Zusammen mit meinem Geschäftspartner Marc, führe ich in Kaltbad eine Treuhandagentur. Marc ist fünf Jahre jünger, als ich und wir haben uns bei einem Expertenweiterbildungskurs kennen gelernt. Er sieht sehr gut aus - sein Studium hatte er sich mit Modeljobs finanziert – ist überzeugter Single, trotzdem sehr umgänglich und verfügt über einen gesunden Menschenverstand. Bei der Weiterbildung arbeiteten wir am selben Projekt und haben im Team sehr gut zusammen funktioniert. Deshalb haben wir beschlossen, die Zusammenarbeit zu wagen und haben es bis jetzt nicht bereut.

      Für unsere Agentur haben wir in der Nähe des Dorfzentrums, im Parterre einer Liegenschaft, ein Geschäftslokal gemietet. Das Lokal besteht aus vier Räumen. Je einen Raum haben Marc und ich in Anspruch genommen und diese mit modernen Büromöbeln und EDV eingerichtet. Im Eingangsbereich, wir nennen ihn ‚Lobby’, stehen ein gewinkelter Schreibtisch, der mit Computer, Drucker und einer Telefonanlage ausgerüstet ist, ein Rollcontainer, diverse mit Ordnern gefüllte Regale, ein Kopiergerät und ein Aktenschrank. Den vierten Raum, gleich neben der kleinen Küche, haben wir mit einem viereckigen Glastisch und schwarzen Lederstühlen ausgestattet, und nutzen dieses Zimmer für Besprechungen, oder als Pausenraum.

      Normalerweise ist Struppi bei mir im Büro, außer, wenn er ein- bis zweimal pro Woche, von Vater abgeholt wird, der mit ihm danach durch die Wälder streift. Allerdings muss ich Vater, bevor er sich auf den Weg macht, die Hälfte der Leckerlis aus seiner prall gefüllten Taschen nehmen, damit der Hund nicht zu dick wird. Vater kann noch weniger wie ich, diesem speziellen Hundeblick widerstehen, bei dem die meisten weich werden. Ich wünschte mir, ich könnte diesen traurigtreuen Hundeblick bei potenziellen Kunden aufsetzen, ich würde jeden Auftrag nach Hause bringen.

      Für Vater, Struppi und mich ist es eine win-win-Situation. Der Hund kommt tagsüber zu längeren Ausflügen, Vater bleibt in Bewegung, und ich weiß durch diesen Kontakt immer, wie es ihm geht. Da heute kein Vater-Struppi-Tag ist, bleibt der Hund bei mir im Büro.

      Eine Studie die besagt, dass Tiere motivierend auf das Arbeitsklima wirken, bestätigt sich auch bei uns. Lena, unsere Lehrtochter im zweiten Lehrjahr, die den Fokus ihrem Alter entsprechend auf Jungs, Mode, Kosmetik und Discos - Lena nennt sie ‚Dance Clubs' - legt, findet Struppi toll. Am Anfang wollte sie ihm unermüdlich das Apportieren beibringen und brachte ihn soweit, dass er die Post in den Fang nahm. Aber jedes Mal, wenn er mit den Briefen in der Schnauze in mein Büro laufen sollte, ließ er sie auf halbem Weg fallen. Lena gab es schließlich auf. Aber die Freude blieb und wehe, wenn der Hund einmal einen Tag nicht da ist, weil David einen freien Tag und Zeit hat, ihn zu hüten. Lena ist an diesen Tagen mürrisch und schiebt fast eine depressive Krise. Marc hat mit Hunden nicht viel am Hut, aber nichts dagegen, dass er hier ist und überwindet sich sogar, ihm ab und zu mit der Hand über den Kopf zu streichen.

      Ein eigenes Geschäft zu führen ist praktisch, da ich niemanden fragen muss, wenn ich mich vom Arbeitsplatz entfernen will. Da mein Vater in Kaltbad wohnt, stehe ich ihm nicht nur am Wochenende, sondern auch unter der Woche zur Verfügung. Er ist froh, wenn ich ihm wichtige Briefe schreibe, ihn zum Einkaufen begleite und für ihn Besorgungen mache. Nicht wenige Male nimmt er meine Chauffeurdienste in Anspruch, wenn ihm die Wege für seine Vorhaben zu weit, oder die Nutzung der Bahn zu umständlich sind. Meist hole ich die Zeit, die ich dafür aufwende, am Abend nach. Mein Vater verliert nie ein Wort darüber, denn er steckt seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr im Arbeitsprozess und hat keine Ahnung, wie schnelllebig alles geworden ist. Erst nachdem die Familie in Kaltbad ansässig geworden ist, kamen nach und