Stefan Mitrenga

Goschamarie Der letzte Abend


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„Das ist ein Tatort! …“, äffte er Kripo-Hubert nach. „Als ob wir das nicht kapiert hätten, ha!“„Genau. Und er vergisst dabei eins: unsere Sinne sind viel besser als seine“, ärgerte sich Balu. „Was meinst du? Hast du etwas gerochen?“, fragte Eglon, der nicht so nah an den Schädel herangekommen war. „Nein, habe ich nicht“, antwortete Balu. „Dann wissen wir also auch nicht mehr als die Menschen“, sagte Eglon enttäuscht. „Das ist so nicht ganz richtig“, erklärte Balu zögerlich. „Ich habe nichts gerochen, richtig. Aber genau das ist der Punkt: ich hätte etwas riechen müssen! Das bedeutet: wer immer da liegt … er liegt da bereits verdammt lange.“Eglons Ohren zuckten nach vorne. „Du meinst, der liegt da schon mehrere Jahre?“„Oh ja“, bestätigte Balu. „Ich denke, der liegt da schon sehr viele Jahre. Wirklich sehr viele. Das ist auf jeden Fall niemand, den wir gekannt haben.“

      7

      „Was meint ihr, wer das ist?“, fragte Liesl und schenkte Kaffee nach.

      Die Polizisten mussten auf die Pathologin warten und hatten die Einladung zu Kaffee und Kuchen gerne angenommen. Nur Streifenkollege Hans war am Fundort der Leiche zurückgeblieben, Manni würde ihn in ein paar Minuten ablösen.

      „Keine Ahnung“, nuschelte Kripo-Hubert mit vollem Mund. „Aber es sieht so aus, als läge die Leiche schon sehr lange da. Ich bin kein Experte, aber das ganze Gewebe war schon verwest und es gab auch keinerlei Leichengeruch mehr.“

      „Kannst du dich an irgendwas erinnern, was hier früher mal passiert ist, Walter?“, fragte Manni.

      „Da fällt mir nichts ein. Auch nicht, dass irgendjemand verschwunden ist. Das hätte im Dorf ganz bestimmt die Runde gemacht.“

      „Komisch, dass man die Knochen nicht früher gefunden hat“, sinnierte Liesl. „Beim Pflügen hätte man doch auch auf sie stoßen müssen.“

      „Nicht unbedingt“, widersprach Kripo-Hubert. „Soweit ich weiß, war hier schon über dreißig Jahre eine Streuobstwiese. Die wird nicht gepflügt. Und selbst wenn es davor ein Acker war, werden die Geräte damals nicht so tief gereicht haben. Da gab es noch nicht diese Riesenmaschinen wie sie heute auf den Äckern fahren.“

      Streifenkollege Hans klopfte an den Türrahmen. „Ist noch Kaffee übrig?“

      „Was machst du denn hier?“, blaffte Kripo-Hubert ihn an. „Du kannst doch den Fundort nicht unbeaufsichtigt lassen!“

      „Ruhig bleiben“, winkte Streifenkollege Hans ab und nahm dankend eine Tasse Kaffee von Liesl entgegen.

      „Die Kurz ist da. Gerade angekommen. Sie hat nach euch gefragt.“

      Kripo-Hubert trank hastig den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse in die Spüle. „Na dann … Liesl, danke für alles. Wir sehen uns ja sicher noch.“

      Auch Manni bedankte sich und folgte Kripo-Hubert nach draußen. Nur Streifenkollege Hans blieb sitzen und lud sich ein großes Stück Kuchen auf den Teller.

      Walter war den beiden Polizisten gefolgt und stand wieder an der Absperrung. Die Pathologin trug einen weißen Papieroverall und Handschuhe und versuchte mit einem kleinen Spachtel und einem Pinsel den Schädel freizulegen.

      „Das ist kein Job für mich“, sagte sie kurz darauf und streifte die Handschuhe ab. „Die Knochen sind sehr alt. Da bin ich nicht zuständig.“

      Kripo-Hubert runzelte die Stirn. „Wer ist dann zuständig?“

      „Ich würde sagen das Landesdenkmalamt“, erklärte Dr. Kurz.

      Kripo-Hubert warf noch einmal einen Blick auf den Schädel. „Wie alt schätzen Sie die Knochen denn?“

      „Auf den ersten Blick? Mindestens tausend Jahre … wenn nicht zweitausend. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich die Knochen im Labor habe. Wenn es dazu kommt. Wie gesagt: bei so alten Funden ist das Landesdenkmalamt zuständig.“

      „Was isch jetzt eigentlich? Kann i denn weiter schaffa?“, fragte Sabit, der die ganze Zeit untätig bei seinem Bagger gestanden hatte.

      „Da habe ich schlechte Nachrichten“, erklärte Dr. Kurz. „Bevor die vom Landesdenkmalamt nicht hier waren, wird nichts angerührt. Ihr Chef kann sie für die nächsten Tage woanders einteilen. Und auch schlechte Nachrichten für euch Jungs …“, sie wandte sich an Kripo-Hubert, „… die Fundstelle muss bewacht werden. Tag und Nacht. Aber nicht von mir.“

      Sie packte ihre Tasche und lief zu ihrem Auto, das sie an der Straße abgestellt hatte.

      „Ich sag euch Bescheid, wenn ich was höre!“

      Kripo-Hubert, Manni und Walter blieben zurück und schauten sich unschlüssig an. Endlich gesellte sich auch Streifenkollege Hans wieder zu ihnen. Er kaute noch am letzten Stück Kuchen.

      „Gibt’s was Neues?“, fragte er ahnungslos.

      „Du hast die erste Schicht“, knurrte Manni.

      Walter ging noch einmal näher an die Fundstelle heran und ging in die Knie. Dr. Kurz hatte den Schädel weitgehend freigelegt. Nun blickte er Walter mit leeren Augenhöhlen an.

      „Wer zum Teufel bist du?“

      104 nach Christus

      „Kenna! Kenna!!! Hör auf zu träumen und kümmere dich um die Tiere!“

      Kenna schreckte hoch und blickte sich suchend nach den Ziegen um, die ein paar Meter entfernt im Garten ihrer Mutter standen.

      „Schau doch nur, was sie schon wieder angerichtet haben“, rief ihre Mutter vorwurfsvoll und Kenna versuchte panisch die Tiere mit ihrem Stock aus dem Garten zu jagen. Nur widerwillig liefen die Ziegen auf die Wiese hinaus, nicht ohne noch das ein oder andere Blatt abzuzupfen.

      „Was ist nur los mit dir?“, fragte ihre Mutter kopfschüttelnd. „Andere Kinder in deinem Alter leisten schon viel mehr, aber du schaffst es nicht einmal auf vier Ziegen aufzupassen.“

      Kenna antwortete nicht, senkte verlegen den Blick und trieb die Tiere weiter vom Garten weg.

      Wie sie diese Arbeit hasste. Den ganzen Tag den blöden Viechern beim Fressen zuschauen und wenn sie nur kurz nicht aufpasste, nutzten sie ihre Chance und büxten aus. Durfte ein zwölfjähriges Mädchen nicht auch mal seine Gedanken schweifen lassen?

      Sie brauchte ihre Träume, um das eintönige Leben auf dem Hof zu ertragen. In ihrer Fantasie war sie eine Kriegerin, eine berühmte sogar. Sie zog an der Spitze ihrer Männer in die größten Schlachten gegen die verhassten Römer und war ein ums andere Mal siegreich. Am schönsten fand Kenna die Vorstellung, nach einer ruhmreichen Schlacht ins Dorf zurückzukehren. Wie sie hoch zu Ross die Straße hinunter ritt, auf jeder Seite des Sattels ein Dutzend abgeschlagener Köpfe des Feindes, die mit den Bewegungen des Pferdes hin und her pendelten.

      Genährt wurden ihre Träume von Kians Erzählungen. Kian war ihr Großvater und schon weit über sechzig Sommer alt. Er war der älteste Mann im Dorf und hätte sich zu früheren Zeiten Druide genannt. Kians Vater war der letzte Druide des Dorfes gewesen, dann hatten die Römer den Berufsstand verboten. Trotzdem hatte er, wie es Tradition war, sein gesamtes Wissen an seinen Sohn weitergegeben und so fungierte Kian heute als Heiler in ihrem Dorf. Doch nicht nur das: wann immer es Probleme oder Streitigkeiten gab wurde sein Rat gesucht und meistens waren alle Parteien mit seiner Lösung einverstanden.

      Am meisten liebte Kenna ihren Großvater für die vielen Geschichten aus der alten Zeit, als ihr Volk noch frei und unabhängig war. Sie hatten sich schon lange vor Kians Geburt ereignet, doch er erzählte sie so lebendig, als wären sie eben erst passiert.

      „Der Kampf gegen die Römer“, flüsterte Kenna und blickte instinktiv in Richtung des Waldes, hinter dem sich das Haus des Römers befand, in dem er und sein Gefolge lebten. Schon hunderte Male hatte sie fantasiert, wie ihr Leben wohl aussähe, hätten ihre Vorfahren die eine entscheidende Schlacht gewonnen.

      Dabei ging es ihrer Familie nicht schlecht. Ihr Vater war als Zimmermann ein angesehener Mann im Dorf und ihre Mutter hatte von Kian viel über die Kunst des Heilens gelernt. Sie waren fleißig und lebten