Stefan Mitrenga

Goschamarie Der letzte Abend


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sein, mit den beschlagnahmten Lebensmitteln versorgte er seine Familie und die zwölf Soldaten, die bei ihm lebten. Wenigstens war vor kurzem seine Frau gestorben.

      Ein Schmarotzer weniger, dachte Kenna und lächelte grimmig.

       „Pass auf Kenna! Deine Ziegen reißen schon wieder aus!“Ravenna kam zu ihr auf die Wiese und trieb zwei der Tiere vor sich her.„Danke Ravenna. Die sind einfach so gerissen. Irgendwie spüren sie es, wenn ich nicht aufmerksam bin und nutzen es sofort aus.“„Dann bist du vielleicht nicht zur Ziegenhirtin geboren!“Die junge Frau lachte und schob sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie war drei Jahre älter als Kenna und erst im vergangenen Sommer mit ihren Eltern im Dorf sesshaft geworden. Ihr Vater verdiente sein Geld als Händler und war ständig damit beschäftigt Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Für Kenna war Ravenna wie eine große Schwester. Sie hatte Verständnis für ihre kindlichen Träumereien und hatte ihr schon oft gute Ratschläge gegeben. Außerdem hatten sie immer etwas zu lachen, wenn sie zusammen waren.Zwei Jungen aus dem Dorf liefen vorbei und starrten Ravenna mit großen Augen an. Sie waren selbst noch Kinder, doch Ravennas schwarze Mähne zog ihre Blicke magisch an. Viele der jungen Männer im Dorf sahen sich gerne nach ihr um. Im Gegensatz zu Kenna zeigte Ravennas Körper bereits deutlich die Formen einer Frau und sie bekam fast jeden Tag eindeutige Angebote.„Was soll denn sonst aus mir werden außer einer Ziegenhirtin?“, fragte Kenna niedergeschlagen. „Ich kann doch nichts anderes. Na ja … und nicht mal das bekomme ich richtig hin.“Ravenna nahm sie lachend in den Arm.„Du kannst alles werden, was du willst. Du bist noch so jung. Glaub mir: auch du wirst deinen Weg finden.“Kenna zog die Stirn kraus.„Meinst du, ich könnte eine Kriegerin werden?“, fragte sie zögerlich. „Wer weiß … nur die Götter kennen deinen Weg. Ich werde einmal Händlerin werden wie mein Vater. Der Handel liegt mir. Vater lässt mich schon jetzt vereinzelt Geschäfte machen.“Kenna verstand nicht, was am Handel so toll sein sollte. Man schuf nichts und arbeitete nicht. Der Verdienst bestand lediglich darin, Dinge teurer zu verkaufen, als man sie selbst eingekauft hatte. In ihren Augen grenzte das an Betrug.„Dann wirst du hier im Dorf bleiben?“, erkundigte sich Kenna hoffnungsvoll.„Nein. Ein Händler im Dorf reicht aus. Ich werde in die große Siedlung oberhalb des Flusses gehen und dort mein eigenes Geschäft aufbauen.“Kenna kannte die Siedlung, die einen halben Tagesmarsch entfernt lag und rümpfte die Nase.„Aber da wohnst du ja Tür an Tür mit den Römern …“„Na und?“, sagte Ravenna gleichgültig. „Das sind in meinen Augen nur zusätzliche Kunden, die bei mir kaufen werden. Vielleicht werde ich dort sogar vermögend und kann mir ein großes Haus bauen … oder eine kleine Burg!“Beide Mädchen lachten bei der Vorstellung, die doch so unwahrscheinlich war.„Jetzt bist du aber die Träumerin“, flachste Kenna. „Glaub mir: es wird hier niemals einen Ort geben, den die Menschen Ravennas Burg nennen!“Ravenna legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen.„Aber ich darf davon träumen!“

      8

      Am Abend besuchte Walter Streifenkollege Hans, der an der Fundstelle grimmig Wache schob. Ein kleiner Pavillon, diesmal die schmucklose Polizeivariante, schützte die Knochen vor dem Wetter und bot auch dem Polizisten Unterschlupf. Walter hatte ihm einen seiner Gartenstühle vorbeigebracht. So konnte er wenigstens sitzen.

      „Mit besten Grüßen von Liesl“, sagte Walter und drückte Streifenkollege Hans eine Thermoskanne Kaffee in die Hand. „Zum Aufwärmen. Es soll heute Nacht wieder kalt werden.“

      Streifenkollege Hans nickte dankbar und goss dampfenden Kaffee in den abgeschraubten Deckel.

      „Ich muss zum Glück nur noch bis um acht hier rumsitzen, dann werde ich abgelöst.“

      „Kommt Manni?“

      „Nee, er hat Kevin eingeteilt.“

      Walter erinnerte sich an den jungen Polizisten, der während der Ermittlungen zu den Bauernmorden als Personenschützer zum Einsatz gekommen war. Mit mäßigem Erfolg. Walter hoffte, dass er wenigstens auf ein paar Knochen aufpassen konnte.

      „Ich muss los“, verabschiedete er sich. „Der Stammtisch ruft.“

      Streifenkollege Hans erwiderte nichts, doch der Neid stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er tätschelte Balu liebevoll die Flanke und ließ sich seufzend auf seinem Gartenstuhl nieder.

      Walter hatte den Kragen seiner Jacke aufgestellt und zog den Hals ein. Der Wind hatte aufgefrischt und strich unangenehm um seine freiliegenden Waden. Vor der Wirtschaft stand immer noch die Tafel, die den vegetarischen Vesperteller anpries. Er war zur Zeit der Renner bei der Goschamarie und lockte unzählige Gäste an. Wer genau hinsah, konnte erkennen, dass am Preis eine Zahl geändert worden war. Aus zehn Euro waren zwölf geworden. Walter, der Maries Vorstellungen von „vegetarisch“ kannte, schüttelte den Kopf und fragte sich, wie lange das noch gut gehen würde.

      Kitty kam aus der Scheune geschlendert und begrüßte Balu mit einem Nasenstupser. Als Walter die Gaststube betrat, verschwanden die beiden Tiere unauffällig unter der Eckbank.

      „Do bisch ja endlich. Hon di scho vermisst“, rief Marie freudig und brachte Walter zwei geöffnete Flaschen Bier. Walter ahnte, dass Maries Sehnsucht nach ihm ihrer Neugier geschuldet war. Er war sich sicher, dass bereits jeder im Dorf vom Fund in der Baugrube wusste und gierig auf mehr Informationen wartete.

      Die Gaststube war zur Hälfte belegt. Auf den freien Tischen standen Schilder mit der Aufschrift „Reserviert“. Marie hielt sich so die Möglichkeit offen, Gäste, die ihr nicht passten, nach Hause zu schicken.

      Walter freute sich, dass seine Freunde schon da waren, vermutete aber auch hier die Neugier als Antrieb.

      „Hab gehört, du hast einen Friedhof in der Nachbarschaft?“, fragte Theo, noch bevor Walter den ersten Schluck getrunken hatte. „Hast du den Täter schon?“

      Jeder im Dorf wusste von Walter und seinen Freunden bei der Polizei.

      „Jo, dees war an Schreck!“, platzte Marie dazwischen. „I hon scho dänkt, sie hättet dr Opa gfunda“.

      Alle starrten sie an.

      „Jetzt luagat doch it so … des war doch blos an Scherz. Aber wie isches Walter? Wär flacket do und wär hotn umbrocht?“

      „Ich habe keine Ahnung“, begann Walter zögerlich. „Die Pathologin hat die Überreste nur kurz angeschaut und ist dann wieder abgereist. Meinte, da sei sie nicht zuständig.“

      Elmar, der mit Anne, der Assistentin von Dr. Kurz liiert war, runzelte die Stirn.

      „Warum das denn? Nach allem, was mir Anne erzählt hat, sind menschliche Überreste doch genau ihr Ding.“

      Walter nahm einen großen Schluck Bier und wedelte den Zigarettenrauch weg, den Elmar ihm entgegen gepustet hatte.

      „Zu alt“, sagte er einsilbig und unterdrückte einen Hustenanfall.

      „Die Kurz ist zu alt, um die Überreste zu untersuchen?“, fragte Elmar ungläubig.

      „Nein, nicht die Kurz … die Knochen sind zu alt.“

      „Vo wieviel Johr schwätz mr dänn do?“, mischte sich Marie ein. „Vierzge? Fuffzge?“

      Walter schüttelte den Kopf. „Frau Dr. Kurz sprach von mindestens tausend Jahren. Wahrscheinlich sogar älter. Genauer konnte sie es auf den ersten Blick nicht sagen.“

      „Dann ist es ein Fall für das Landesdenkmalamt. Die werden einen Archäologen schicken“, wusste Max und zog genüsslich an seiner Zigarre. „Das wird den Vorstand nicht freuen!“

      „Warum das denn?“, fragte Theo, der ungewöhnlich friedlich neben Peter saß.

      „Weil dann solange nicht weitergebaut werden darf, bis der Archäologe seinen Segen dazu gibt. Wenn der meint, man müsste eine Ausgrabung machen, kann das Monate - vielleicht sogar Jahre dauern.“

      Ein elegant gekleidetes Ehepaar betrat die Gaststube und schaute sich suchend um. Angesichts der vielen reservierten Tische waren sie unschlüssig, was sie tun sollten. Marie musterte die beiden genau, bevor sie sie begrüßte.

      „Wir haben leider nicht reserviert“, sagte der Mann kleinlaut. Er war groß