Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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sie nicht, das verspreche ich.“

      Roren kniete neben dem Ältesten, dessen Gesicht angeschwollen war. Er blutete aus Mund und Nase und sagte: „Roren, mein Bester.“ Der Älteste versuchte zu lächeln. Ihm fehlten mehrere Zähne.

      „Es tut mir so leid“, sagte Roren. Er legte eine Hand auf die Brust des Ältesten, konnte seinen schwachen Herzschlag spüren. „Ich hätte eingreifen sollen.“

      „Ich habe Dohan getötet“, sagte der Älteste.

      „Ja, das hast du.“

      „Dafür wird er sich im Abyssus rächen, nicht wahr?“ Seine Stimme wurde leiser.

      „Der Große Richter wird die Wahrheit erkennen.“

      Der Älteste kicherte gurgelnd. Dann hustete er Blut. „Bist ein guter Junge, Roren, schon immer gewesen.“

      „Rede nicht weiter, du musst dich ausruhen.“

      „Ja … glaubst du auch, dass es die Grauen gibt? Dass sie kommen werden?“

      „Ich weiß es nicht.“ Er nahm die Hand des Ältesten. „Ich weiß es wirklich nicht.“

      „Dennoch bleibst du hier?“

      „Seros ist meine Heimat. Und Hilla … mit ihrer Krankheit. Sie würde eine Reise nicht überstehen. Es wäre Folter für sie.“

      „Was … was wirst du tun?“

      „Ich bin ein Jäger und der beste Bogenschütze, den du je gesehen hast, das hast du mal gesagt, erinnerst du dich?“ Der Älteste nickte kaum merklich. Roren sagte: „Ich kenne die Wälder, jeden Baum, jeden Hügel. Ich werde den Grauen meine Hilfe anbieten. Ich werde tun, was immer sie verlangen, wenn sie das Dorf und meine Familie verschonen.“

      „Und wenn sie es nicht tun?“

      „Dann werde ich sie erschießen und nach meinem Tod um Vergebung bitten.“

      „Wen erschießen?“ Roren antwortete nicht.

      Als der Älteste aufhörte zu atmen, küsste Roren seine Stirn und wünschte ihm, dass er im Nachleben als Fürst wiedergeboren werde.

      Die Sonne ging unter, und das Dorf war wie ausgestorben. Nur die Alten und Schwachen waren geblieben und spazierten ziellos zwischen den Hütten umher. Ihre Blicke wanderten über den Boden, als würde sich dort ihr Lebenssinn verbergen und sie müssten nur lang genug auf Dreck starren, um ihn zu finden. Die Menschen waren still. Kein Kinderlachen, keine Frauen beim Dorftratsch, keine Männer, die sich über die Jagd unterhielten. Nur die Blätter der Bäume raschelten im Wind und der nahegelegene Fluss plätscherte. Das Rad der alten Mühle drehte sich quietschend und die Vögel sangen unverändert ihr Lied. Die Sonne verschwand am Horizont und tauchte die Holzhütten von Seros in ein sattes Orange. Das Lebensmittellager war zerstört. Die Tür hing aus den Angeln und das Innere war leer, verwüstet, ohne Ordnung. Vor dem Lager trocknete Blut auf dem Boden. Niemand hatte die Leichen des Metzgers und des Ältesten fortgeräumt. Sie lagen im Schatten des Lagers, als gehörten sie da hin.

      Roren hatte das Lager vor zwei Jahren zusammen mit den anderen Männern errichtet. Es erschien ihm so lang her, wie eine Geschichte aus einem Buch, irgendwo in einer staubigen Bibliothek. Das Gemäuer sollte als Rettung dienen, falls eines Tages ein Krieg vor ihrer Haustür stünde. Eine Lebensmittelreserve in einer Zeit des Abwartens, ohne Möglichkeit zum Handel mit anderen Siedlungen. Roren strich mit der Hand über den rauen Stein des Gemäuers, wandte sich dann ab.

      Er ging vorbei an den Holzhütten, die für Dörfer des Fürstentums Rygmoor bezeichnend waren. Seros war kaum mehr als eine Ansammlung solcher Hütten. Vor Ewigkeiten waren sie an einem Fluss errichtet worden, eine Siedlung mitten im Wald. Die Jagd und der Handel mit anderen Dörfern hielt Seros am Leben, und es war nicht unüblich, dass Menschen aus Gerwind nach Seros zogen und umgekehrt. So war es immer gewesen, so würde es immer bleiben. Das hoffte Roren. Er beobachtete den Sonnenuntergang und sah seine eigene Hütte am Fluss. Rauch strömte aus den Öffnungen im Dach. Ariane bereitete das Abendessen zu. Der Rauch zog dunkle Striemen über den rötlichen Himmel. Roren befürchtete, es wäre das letzte Mal, dass hier jemand Essen kochte.

      Hilla saß auf einem Hocker und ließ die Beine baumeln. Sie trug ein einfaches weißes Leinenkleidchen und atmete schwer. „Hallo Liebes“, sagte Roren.

      Hilla sagte: „Vater, gleich gibt's was zu essen.“ Sie zeigte auf einen Topf, in dem Suppe blubberte. Ariane stand vor dem offenen Feuer, über dem der Topf hing, und blickte gedankenverloren in die Flammen.

      „Da komme ich ja gerade rechtzeitig“, sagte Roren.

      „Hast du Liese gesehen?“, fragte Hilla.

      „Deine Strohpuppe?“

      „Ja.“

      „Nein, das habe ich nicht. Aber sie kann ja nicht weggelaufen sein, oder?“ Er zwinkerte ihr zu. „Nach dem Essen helfe ich dir suchen, ja? Wir werden sie finden.“

      Hilla lächelte, wie neunjährige Mädchen lächelten, wenn man ihnen eine Geschichte über Prinzessinnen und Prinzen erzählte. Aber da war kein Leuchten in ihren Augen. Sie lächelte nur für ihn. Damit er es sich einprägte, bevor Hilla nicht mehr lächeln könne.

      Roren war mit ihr in Willet gewesen, der Hauptstadt des Fürstentums Rygmoor. Das Gehen fiel ihr schwer, sie klagte über Schmerzen. Ein alter Mann mit schlechten Augen hatte Hilla angesehen. Er war Heiler, kannte sich mit allerlei Beschwerden aus. Er hatte Hilla untersucht, hier draufgedrückt, dort getastet, und dann gesagt, sie sei todkrank. Ihre Muskeln würden allmählich verschwinden. Der Heiler sagte, er hatte einst einen Mann gekannt, dem es ähnlich ergangen war. Zuerst die Beschwerden beim Gehen, später fiel ihm das Sprechen schwer. Am Ende fehlte ihm die Kraft zum Atmen, er sei erstickt. Hilla würde dasselbe Schicksal ereilen. Es sei der Zorn des Großen Richters, flüsterte der Heiler, eine Bestrafung für Vergehen in einem früheren Leben. Doch für welche Tat vermochte er nicht zu sagen. Dann waren Roren und Hilla nach Hause gegangen und er hatte Ariane alles erzählt. Seine Frau hatte ihn mit feuchten Augen angeblickt. Trauer lag in ihrem Blick, Trauer und Wut, als wäre ihre Tochter bereits gestorben. Und Roren wusste, dass er eines Tages an Hillas Bett treten und sie tot vorfinden würde. Manchmal wünschte er sich, er wäre nie zum Heiler gegangen.

      Die Suppe kochte über. Ariane hatte vergessen, umzurühren. Der Anblick erinnerte Roren an die Hitze und an die Stimmen und an das Blut. Erinnerte ihn daran, wie die Gemüter alter Freunde hochgekocht waren, sie zu Mördern gemacht hatten. „Scheiße“, sagte Ariane.

      „Sowas sagt man nicht“, sagte Hilla.

      Roren sagte: „Ganz recht. Als Strafe muss Mami dir heute eine Geschichte erzählen, bevor du schlafen gehst.“

      „Oh ja. Machst du das, Mami?“

      „Sicher.“ Sie drehte sich nicht zu ihrer Tochter um und es lag keine Wärme in ihrer Stimme. Dass ihr Bruder Seros zusammen mit den anderen verlassen hatte, schien sie mehr mitzunehmen, als sie zeigen wollte. Roren wusste, dass sie auch gegangen wäre. Ohne zu zögern, ohne zurückzublicken, einfach fort. Wäre Hilla nicht, wäre seine Frau an diesen Tag nach Norden gezogen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Seros war nicht mehr wie früher, würde es nie mehr sein; und nach den gestrigen Flammen wirkten die Schatten vor den Fenstern dunkler.

      „Hat ihr die Geschichte gefallen?“, fragte Roren.

      „Sie ist schnell eingeschlafen“, sagte Ariane.

      Der Mond schien ins Schlafzimmer. Es war noch immer sehr warm. Roren lag nackt auf dem Bett und schwitzte trotzdem. Ariane streifte ihre Kleidung ab. Das Leinenkleid fiel zu Boden und entblößte Arianes verschwitzten Körper. Ihr Bauch war flach und wunderschön. Ariane hatte einige Narben, die von der Schwangerschaft stammten, aber das machte sie anziehender, weiblicher. Diese Male verdeutlichten die Verbindung zwischen ihr und Roren. Hilla war vor neun Jahren unter diesen Streifen herangewachsen. „Erinnerst du dich an das Dorffest damals?“, fragte Roren.

      „Damals?“