Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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zeigte sich unbeeindruckt, sagte bloß: „Sehr wohl.“ Er lächelte und verneigte sich, dann machte er kehrt und verließ den Saal.

      Tiogan leerte seinen Wein mit einem Zug. Dann musterte er den Becher, als befänden sich Worte darauf, die ihm sagten, was zu tun sei. Tiogan nickte und sagte, er habe etwas zu erledigen. Nachdem er den Raum verlassen hatte, schmeckte Saoana das Hähnchen nicht mehr und ihre Mutter blickte besorgt in das Kaminfeuer.

      Der Vollmond warf ein fahles Licht auf die Dächer von Austadt. Saoana stand auf dem Wehrgang der Burg und lehnte sich gegen eine Zinne. Sie blickte auf die Stadt und die wogenden Getreidefelder jenseits der Wirtshäuser und Marktstände, dann schloss sie die Augen. Eine Brise streichelte über ihr Gesicht. Saoana stellte sich vor, dass der Wind Gelächter zu ihr trug. Das Gelächter von angetrunkenen Männern, die in Kaschemmen Geschichten erzählten; das Lachen von Frauen, die sich mit Freundinnen über den neusten Tratsch amüsierten; und das Kichern von Kindern, die von ihren Vätern gekitzelt wurden. Erinnerungen überkamen Saoana.

      Sie hatte vor einem Altar gestanden, unten im Verlies. Sie war elf Jahre alt gewesen. Neben ihr hatte Tiogan gekniet. Er stank nach Wein und Schweiß und war lediglich mit einem weißen Leinentuch bekleidet. „Komm, meine Kleine, lass uns zum Großen Richter beten.“

      Saoana kniete nieder und spürte kalten Stein, der gegen ihre Haut drückte und rote Striemen hinterließ. Ihr Schatten flackerte im Licht der Fackeln. Saoana sah den Großen Richter auf dem Altar, eine Skulptur, so groß wie eine Männerhand. Sie stellte einen Greis dar, der auf einem weißen Wal ritt. Die blauen Augen des Gottes musterten Saoana, und obwohl sie gewusst hatte, dass die Augen bloß Saphire waren, fühlte sie sich beobachtet.

      „Auf dass die Menschen, denen wir zu Lebzeiten begegnen, ein gerechtes Urteil über uns sprechen mögen, wenn wir ihnen im Abyssus gegenüberstehen. Möge der Große Richter unsere Absichten erkennen und uns unseren Taten entsprechend wiederauferstehen lassen. Als Fürsten, Bauern oder Straßenköter“, hatte Tiogan gesagt und Saoana angesehen, als wolle er sagen, sie solle ihm keine Schande machen. Dass sie sich benehmen und tun solle, was er verlange, sonst würde er im Abyssus schlecht über sie urteilen. Saoana hatte den Blick gesenkt und die Hände zum Gebet gefaltet.

      Eine Stimme riss sie aus ihrer Erinnerung. „Ihr solltet Euch zu Bett begeben, meine Dame.“ Xaviin stand hinter ihr.

      „Was macht Ihr hier oben?“, fragte Saoana.

      Der Etarianer trat näher. Er hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und blickte zum Nachthimmel. „Ich komme gerne hier hoch. Der Anblick des Mondes beruhigt mich.“

      „Könnt Ihr nicht schlafen?“

      Er zuckte mit den Schultern. „Ich … nein, in letzter Zeit nicht so gut.“ Er sah Saoana nicht an, betrachtete stattdessen den Mond, als gäbe es nichts Schöneres.

      „Er ist Eurem Volk heilig, richtig?“, fragte Saoana.

      „Ich bin überrascht. Woher wisst Ihr das? Euer Vater wird es Euch nicht erzählt haben, nehme ich an.“

      „Ich vertreibe meine Zeit mit dem Lesen dicker Bücher, meistens im Garten.“ Sie versuchte vergebens, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen.

      „Es stimmt, der Mond ist die Heimat der Hohen Kriegsherren, ruhmreiche Anführer der etarianischen Nation.“ Saoana wusste, dass es für Etarianer keinen Gott gab. Stattdessen verehrten sie ihre verstorbenen Krieger, die Heldentaten vollbracht hatten. „Mein Bruder wird nach seinem Tod auch dort leben“, sagte Xaviin.

      „Ich wusste nicht, dass Ihr einen Bruder habt. Wenn er nach seinem Tod auf dem Mond ruhen wird, dann muss er ein Held sein, nicht wahr?“

      „Ja, das ist er. Er hat im Glaubenskrieg … nun, er hat Großes vollbracht.“

      Die Brise wurde stärker und die Getreidefelder am Horizont bewegten sich hin und her. „Dann ist Eure Familie hoch angesehen?“, fragte Saoana.

      „Nein, bei uns Etarianern muss man sich hohes Ansehen selbst erarbeiten, ungeachtet der Herkunft. Meine Eltern waren einfache Seeleute, ich bin nur der Berater eines Menschen. Atoz hingegen … er ist viel mehr.“

      „So weit entfernt von Eurer Heimat zu sein, das macht Euch bestimmt zu schaffen.“

      „Ein wenig.“ Er senkte den Kopf. „Es ist nicht einfach, der einzige Etarianer in einer so großen Stadt zu sein. Überall Menschen, da hab ich schon manchmal Heimweh. Die wenigen etarianischen Händler und Soldaten, die gelegentlich Austadt besuchen, ändern daran auch nichts. Mein Volk verlässt Etovernem äußerst ungern, wisst Ihr? Nur, wenn es nötig ist. Hier draußen erstrahlt die gezackte Sonne nicht.“

      Sie schwiegen einen Moment, dann fragte Saoana: „Vermisst Ihr Euren Bruder?“

      „Manchmal. Ich weiß noch, wie wir als Kinder lachend durch die Straßen Etovernems gelaufen sind. Egal, was wir gespielt haben, ob Verstecken oder Fangen oder Raufen, ich war ihm stets unterlegen. Ich schätze, Atoz war schon immer für Höheres bestimmt.“

      „Warum?“

      Xaviin lächelte. „Er hat schwarze Schuppen und goldene Augen. Das kommt bei unserem Volk ausgesprochen selten vor. Nur einmal in hundert Jahren, heißt es. Es ist ein Zeichen des Segens der Hohen Kriegsherren.“

      „Deshalb wird er von seinem Volk verehrt? Weil er schwarze Schuppen hat?“

      „So ist es Tradition.“ Er machte kehrt und schickte sich an, den Wehrgang zu verlassen. „Nun denn, es ist spät und ich muss mich zu Bett begeben. Ich will versuchen, wenigstens etwas Schlaf zu finden. Ich wünsche Euch eine erholsame Nacht, meine Dame. Ich hoffe, wir bekommen häufiger die Gelegenheit, uns so angenehm zu unterhalten.“ Er verneigte sich und lächelte. Anders, als er beim Abendessen gelächelt hatte. Wärmer und aufrichtiger. Bevor er ging, warf er einen letzten Blick auf den Mond.

      Saoana schlenderte über den Hof der Burg. In Gedanken war sie bei Xaviin und seinen Worten über die Kriegsherren und ihre Ruhestätte am Nachthimmel. Vielleicht lebten die Helden der Etarianer tatsächlich auf dem Mond, vielleicht wurden sie von jemandem zu Göttern erhoben. Eine Belohnung für ein Leben des Kampfes und der Aufopferung. Könnte es dann nicht auch stimmen, dass Menschen in den Abyssus gelangten? Dass dort entschieden wurde, was sie im Nachleben sein würden, welche Belohnung Saoana für ihr Leben bekäme? Vielleicht hatte ihr Vater recht und der Große Richter beobachtete sie und ihre Taten; und wenn sie als ehrbare Person wiedergeboren werden wollte, musste sie tun, was von ihr verlangt wurde, auch wenn das bedeutete, Owin zu heiraten und den Rest ihres Lebens in Rygmoor zu verbringen.

      Das Quietschen einer Tür unterbrach Saoanas Gedanken. Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drang Licht und Männer der Stadtwache traten heraus. In voller Rüstung marschierten sie über den Burghof. Ihre schweren Stiefel schepperten bei jedem Schritt und Schwerter baumelten von ihren Gürteln. Saoana konnte nicht sagen, ob sie gesehen wurde. Falls dem so war, störte es die Stadtwachen nicht. Sie schauten nicht nach rechts und links, zielstrebig marschierten sie Richtung Stallungen und verschwanden in den Schatten der Burg. Ein lautes Husten ertönte aus dem Arbeitszimmer.

      Auf dem Schreibtisch standen Kerzen. Tiogan saß vor einem Schrank, der mit Dokumenten vollgestopft war. Die Luft roch nach Wachs und altem Papier. Der Fürst blickte aus dem Fenster zu den Sternen, bemerkte Saoanas Anwesenheit nicht. „Warum war die Stadtwache hier?“, fragte sie.

      Bei dem Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen. „Verflucht, schleich dich nicht so an“, sagte er und seufzte. „Du hättest das nicht sehen sollen.“

      „Wohin hast du die Wachen geschickt?“

      „Sie überbringen den Fürsten eine Nachricht.“

      „Allen?“

      „Ja, ich lade alle zu meinem Namenstag ein.“

      „Aber du kannst die meisten nicht ausstehen.“ Sie zögerte, überlegte. Etwas stimmte nicht. „Warum reiten die Boten bei Nacht aus? Warum in voller Rüstung?“ Tiogan starrte stumm in eine Kerzenflamme, als hoffte er, seine Tochter dadurch verscheuchen