Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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das Starkbier meines Vaters. Das Zeug hätte den stärksten Hirsch umgehauen.“

      „Und du warst so glücklich an dem Abend.“

      „Das bin ich noch immer.“

      Sie blickte ihn lange an, presste die Lippen zusammen.

      Roren sagte: „Damals haben wir unter dem Sternenhimmel miteinander geschlafen. Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl erinnern, unser erstes Mal. Wir lagen im Gras und haben uns angesehen. Es gab nur uns beide. Du hast nach Himbeeren und Wein gerochen.“

      Ariane kletterte zu ihm ins Bett und schmiegte sich an ihn. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und er spürte, wie ihre Brüste seinen Arm streiften und ihr Atem auf seiner Haut kitzelte. Er streichelte ihren Rücken. Er liebte es, Dinge zu berühren. Sie gaben viel über ihre Natur preis, wenn man sie berührte. Die Rauheit eines Steins, das Gefühl von Wildnis beim Berühren von Baumrinde, die Klarheit und die Lebendigkeit des Wassers. Wenn er seine Frau berührte, spürte Roren ihre Seele. So sanft und voller Leben. Doch heute war ihre Haut seltsam kühl. „Kaum zu glauben, dass dein Vater schon so lange tot ist, hm?“, fragte sie, sah dabei aus dem Fenster. „Sieben Jahre schon.“

      „Ja, manchmal kommt es mir vor, als wäre er erst gestern gestorben. Verfluchtes Fieber.“

      „So viele sind tot. Und es werden mehr sterben. Vielleicht heute Nacht“, sagte Ariane. Eine Träne kullerte über ihre Wange. Nur eine einzige.

      „Heute wird niemand sterben. Nicht ich, nicht du und erst recht nicht Hilla. Das verspreche ich dir“, sagte Roren. „Ich liebe dich.“ Er küsste ihre Stirn. Sie schmeckte salzig.

      Roren konnte nicht schlafen, er wollte es auch gar nicht. Er stieg aus dem Bett. Ariane atmete ruhig und regelmäßig, während sie schlief. Er zog leise seine Jagdkleidung an und griff nach seinem Bogen. Roren strich mit dem Daumen über die Sehne, spürte die Spannung, die auf ihr lag und den Tod bedeuten konnte. Dann streichelte er über die Federn an den Pfeilen. Federn, die einst einem Tier gehört hatten, das wild und frei gewesen war. Roren verließ das Haus.

      Im Dorf war es still. Keine Feuer brannten in den Häusern, niemand wanderte durch die Nacht; doch als sich Roren umsah, fühlte er sich beobachtet. Er hatte das Gefühl, wilde Tiere hockten im Dickicht und beäugten ihn. Füchse, Eichhörnchen, Rehe. Tiere, die er in den Wäldern getötet hatte. Er hatte mit seinem Bogen gezielt, langsam ausgeatmet, losgelassen, gespürt, wie die Pfeilfedern seine Hand streiften, und dann war etwas gestorben. Heute riefen die Tiere seinen Namen, lockten ihn in die Dunkelheit, in den Abyssus. Roren schloss die Augen und sah Seros brennen. Seine Frau lief schreiend durch die Nacht. Ihre Haare standen in Flammen. Hilla lag blutüberströmt in ihrem Bett. Roren atmete tief durch, und als er die Augen öffnete, hatte sich nichts verändert. Er war allein, das einzige Geräusch war das Heulen einer Eule.

      Rorens Schritte klangen ungewöhnlich laut, als er zu dem Weg ging, der nach Gerwind führte. Rauch hing noch immer über dem Dorf, aus dem die Grauen kommen würden. Roren wartete auf eine Bewegung, auf Lichter oder Stimmen. Lange stand er da und erwartete die Ankunft der Grauen. Er sah nur Bäume und Schatten und das Funkeln der Sterne. Wind strich über seine Haut und trug die Düfte von Blumen und Gräsern zu ihm, die Gerüche des Sommers. Sie wirkten beruhigend. Roren lauschte dem Rascheln der Blätter; und als der Wind abflaute, raschelten die Blätter weiter und Äste knackten. Roren drehte sich um. Hinter ihm stand jemand.

      Das Wesen war einen Kopf größer als er. Roren hörte, wie es atmete. Luft strömte aus den Nüstern der flachen Schnauze. Schwarze Schuppen bedeckten den Körper des Fremden. Sie machten ihn fast eins mit der Finsternis. Wären da nicht der Glanz seines Kettenhemdes und die Augen, die Roren neugierig musterten. Die Pupillen waren schwarze Schlitze inmitten von Gold. Die Anspannung fiel von Roren ab. Ein Etarianer stand vor ihm, sie waren endlich gekommen. „Bin ich froh, euch zu sehen“, sagte Roren. „Ich dachte schon, ihr würdet nie kommen, um uns zu helfen. Und ich weiß nicht, was heute Nacht noch passiert wäre. Die Grauen sind nah. Sag, gibt es sie denn? Weißt du das? Warum seid ihr sonst hier?“

      Die Echse sagte nichts. Mehrere Etarianer schlichen durch den Wald, betrachteten die Hütten von Seros.

      „Eine Schande, dass ihr nicht heute Mittag eingetroffen seid“, sagte Roren. „Dann würde unser Ältester noch leben und die meisten unserer Männer wären noch da. Sind alle abgehauen.“ Die goldenen Augen des Etarianers verengten sich. Roren sagte: „Keine Sorge, sie haben Karren und Kinder dabei. Weit können sie nicht gekommen sein. Ich bin sicher, wir holen sie schnell ein. Die Männer werden euch im Kampf gegen die Grauen unterstützen, darauf könnt ihr euch verlassen.“

      Der schwarze Etarianer sagte mit rauer und kehliger Stimme: „Wir sind nicht hier, um euch zu retten.“

      „Was?“ Stahl blitzte auf. Ein Schwert raste auf Rorens Gesicht zu. Reflexartig trat er einen Schritt zurück und hob abwehrend den Arm. Die Klinge fuhr durch Haut, Muskeln und Knochen. Warme Flüssigkeit sprudelte auf Rorens Gesicht, brannte in den Augen. Seine rechte Hand hing in einem merkwürdigen Winkel vom Handgelenk. Roren versuchte, die Finger zu bewegen. Nichts geschah. Er wollte weglaufen, doch ihm war schwindelig.

      Erneut fuhr das Schwert auf ihn nieder, schnitt durch Fleisch und Knochen. Etwas fiel zu Boden. Roren senkte den Blick. Eine Hand lag vor ihm. Wie ein Insekt lag sie da, fremdartig und ekelerregend. Blut strömte aus dem Stumpf, schimmerte im Mondlicht. Roren spürte keine Schmerzen, und doch schrie er bei dem Anblick, bis ihn jegliche Kraft verließ und er verstummte. Seine Beine gaben nach und er ging auf die Knie. Er wollte den Etarianer fragen, wessen Hand das sei, doch das Sprechen erschien zu anstrengend.

      Jemand rief etwas, die schwarze Echse grinste und wandte sich wortlos ab. Die Nacht wurde dunkler. Roren hörte das Rascheln der Blätter nicht mehr, alle Geräusche klangen weit entfernt und dumpf. Weitere Etarianer traten aus dem Wald. Sie trugen Fackeln in den Händen und näherten sich dem Dorf. Dann stoben Funken in den Nachthimmel.

      Steine

      Saoana saß auf einem Schimmel und ritt an der Seite ihres Vaters durch ein Waldstück. Die Leibgarde folgte ihnen. Fünf Mann in schwerer Rüstung, die auf Hengsten stumm die Umgebung beobachteten. Ein Pferd schnaubte, Grillen zirpten im Dickicht.

      „Wir hätten die Echsen abschlachten sollen“, sagte Tiogan. Er war ein dünner, großer Mann. Ein grauer Bart umrahmte sein Gesicht, sein Haupthaar begann sich zu lichten. Er war aufgebracht, seit Tagen schon. Saoana fühlte sich unwohl, wenn er sich über die Etarianer aufregte. Ihr Bauch grummelte dann und sie traute sich nicht, etwas zu sagen, wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Tiogan sagte: „Ohne ihre Verbote hätten wir noch ein Heer, das die Dörfer beschützen könnte. Da würden die Bauern nicht fliehen, nur weil sie glauben, Graue überfielen sie. Graue, welch Schwachsinn. Ich sage dir, wer die Dörfer angreift. Barbaren aus den Bergen, die leichte Beute machen wollen. Das ist alles. Der König hätte sich darum gekümmert, bevor es zum Problem geworden wäre. Doch jetzt fürchten sich die Bauern, weil sie Altweibergeschichten über Menschenfresser glauben. Als ob wir nicht genug Sorgen hätten.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Für all das sind nur die Echsen verantwortlich, niemand sonst.“

      Tiogan war der Herrscher von Aureld, eines Fürstentums im Herzen von Vernland. Vor vierzehn Jahren hatte er gegen die Echsen gekämpft und diese Zeit nie vergessen. Manchmal schwärmte er davon, wie er schwitzend im Wüstensand gestanden und Seite an Seite mit den anderen Fürsten Blut vergossen hatte. Damals, als es noch einen König gab, für den sie gestorben wären. Seitdem nannte er die Fürsten Brüder und blickte oft verträumt gen Norden.

      Als Saoana mit ihrem Vater den halbdunklen Wald hinter sich ließ und vom Sonnenlicht geblendet wurde, fragte sie: „Was willst du gegen die Angriffe unternehmen?“ Sie fuhr sich durch ihr rotes Haar, das in ihrem Gesicht klebte. Schweißflecken breiteten sich unter ihren Achseln aus, verdunkelten das blassblaue Kleid. Saoanas sommersprossige Arme waren gerötet und schmerzten. Ein Leiden, das alljährlich wiederkehrte, immer wenn der Sommer anbrach.

      Tiogan trug ein dunkelblaues Gewand aus Brokat