Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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mal niesen, ohne dass er seinen Generälen Bericht erstattet.“ Er fuhr sich durch den Bart, erhob sich von seinem Holzstuhl und trat ans Fenster. „Hab ich dir je erzählt, wie ich zum ersten Mal den König getroffen habe?“

      „Nein, davon hast du nie was gesagt.“

      „Sein Erbe war geboren, der jetzige Fürst Qubertín. Ein feiger Hund, wenn du mich fragst, aber ich schweife ab. Der alte König richtete ein großes Turnier aus, um die Geburt zu feiern. Ich bin mit meinem Vater in die Königsstadt geritten und habe das Monument des Großen Richters vor dem Königspalast gesehen. Ich war fünfzehn Jahre alt. Beim Turnier habe ich mit dem König gesprochen. Ich weiß nicht mal mehr, worüber. Nur seine goldene Robe und seine Krone, die im Sonnenlicht geschimmert hat, sind mir in Erinnerung geblieben.

      „Zehn Jahre später kamen die Echsen aus ihrem fernen Land im Westen. Mit Schiffen überquerten sie das Reich des Großen Richters und kauften dem alten Ilarovich die Wüste ab. Aber wie hatten sie das Meer überqueren können? Ungläubige, die von den Walen des Heiligen Ozeans hätten verschluckt werden müssen? Das Volk fing an, unseren Glauben zu hinterfragen, sich vom Großen Richter abzuwenden, während die Schuppigen reicher wurden. Mit ihrem Handel, ihren Verträgen, ihren Waren aus fernen Ländern. Der König musste im Krieg beweisen, dass unsere Kultur die stärkere war. Aber wir haben versagt.“

      Während er seine Rede hielt, ging er im Raum auf und ab. Das tat er häufig: Reden halten und hektisch herumlaufen, während seine Worte lauter wurden. Er blieb vor Saoana stehen. Seine stahlblauen Augen waren feucht und funkelten im Kerzenlicht. Er seufzte und seine Stimme zitterte, klang nicht mehr kraftvoll. „Seit dem Krieg sind wir schwach, haben den Glauben an unsere Kultur und Stärke verloren. Fürsten und Grafen sind machtlos. Alte Männer in dunklen Burgen, die nur tun dürfen, was die Echsen ihnen vorschreiben. Wir sind selbst schuld. Zu viele Menschen sind im Glaubenskrieg gefallen, zu viele Familien sind zerbrochen.“

      Saoana erinnerte sich an Tiogans Rückkehr und an die Leiche in seinen Armen, die er durch die Stadt getragen hatte. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie ihn weinen sah. „Seit vierzehn Jahren bete ich für eine Gelegenheit, das wiedergutzumachen“, sagte er. „Jetzt ist sie endlich da. Diese Flüchtlinge, die zu Hunderten in den Norden strömen, werden Etovernem beschäftigen, die Stadt anfällig machen. Die Boten, die du gesehen hast, werden die anderen Fürsten darum bitten, eine Heerschau abzuhalten. Es ist an der Zeit, eine Armee aufzustellen, es ist an der Zeit, Rache zu nehmen. Für unsere Familien und für das, was verlorengegangen ist.“

      Er umarmte Saoana, küsste ihre Stirn. Sie roch seinen Schweiß, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und erschrak, als sie seine Knochen spürte und bemerkte, wie dünn er geworden war.

      Karren

      Roren hörte Vogelgezwitscher, und als er die Augen öffnete, sah er den blauen Himmel und die Kronen von Buchen. Sie zogen an ihm vorbei wie Wolken. Sonnenlicht durchbrach das dichte Blätterdach, blendete Roren. Als ein Ruck durch seinen Körper ging, spürte er, dass er auf hartem Holz lag. Sein Kopf ruhte auf einem Sack Kartoffeln und der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Hölzerne Räder knarzten. Roren lag auf einem Karren. Dann vernahm er noch etwas; es waren Schrittgeräusche. Er wollte sich aufsetzen, spannte Bauch und Nacken an, hob den Kopf, doch sank zurück. Roren atmete schwer und hustete. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

      „Guten Morgen, endlich wach?“, fragte jemand. Ein Fremder trat an den Karren. Sein Gesicht war dreckig, Brandblasen zogen sich über die rechte Wange. „Roren, richtig? Dachten, du wärst hinüber.“ Der Mann lächelte, zeigte seine dunkelgelben Zähne.

      „Wo bin ich?“, fragte Roren. Seine Stimme klang heiser.

      „Irgendwo im Fürstentum Rygmoor. Auf dem Weg nach Norden.“ Der Fremde zeigte in Fahrtrichtung.

      „Wer bist du?“

      „Feronin. Komme aus Gerwind.“

      Roren erinnerte sich an das Aufblitzen von Stahl, an das Gefühl von Blut auf seinem Gesicht und an goldene Augen. „Warum sind wir nicht in Seros?“, fragte er.

      Feronin presste die Lippen zusammen. „Ist niedergebrannt, genau wie unser Dorf am Tag davor. Nachdem die Etarianer abgezogen waren, sind wir geflohen, weg von den Grauen. Ob es sie gibt der nicht, haben keine Lust, das rauszufinden, da versuchen wir unser Glück lieber im Norden. Mussten an Seros vorbei. Als wir angekommen sind, waren die meisten Dorfbewohner tot oder verschwunden. Die wenigen, die übrig waren, haben sich uns angeschlossen. Tut mir echt leid.“ Es lag Mitleid in seiner Stimme. „Schreckliche Sache.“

      Roren schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren rissig. Als würde die Hitze des Feuers sie immer noch austrocknen. Er sah, wie seine Frau in Flammen stand und sich verbrannte Haut vom Gesicht seiner Tochter schälte. „Ariane … Hilla?“, fragte er.

      „Ihnen geht es gut. Sitzen auf einem Karren weiter vorne.“

      Roren atmete erleichtert aus und richtete den Blick wieder auf die Baumkronen. Sein Rücken schmerzte und er hatte das Gefühl, seine Muskeln bestünden aus Stein. Seine rechte Hand juckte. Als er sich dort kratzen wollte, griff er ins Leere.

      „Du warst den ganzen Tag … weggetreten“, sagte Feronin, starrte dabei auf Rorens rechten Arm. „Wenn du nicht bewusstlos warst, hast du wirres Zeug gestammelt und geschrien. Haben dich vor deinem Dorf gefunden, lagst im Dreck wie ein Toter. Verflucht, das war aber auch ein Anblick. So viel Blut. Und die Hand lag da einfach so rum. Hast aber noch geatmet, zwar sehr schwach, aber immerhin. Wir konnten nicht sagen, ob du es schaffen würdest. Sind ja keine Heiler. Einige meinten, du würdest die Nacht nicht überstehen. Doch hier bist du. Blass, aber lebendig.“

      Das Jucken wurde unerträglich. Ein Kribbeln und ein Ziehen, als würden Käfer über Rorens Hand krabbeln und in die Haut beißen. Aber es gab nichts zu kratzen, das Jucken blieb. Roren biss die Zähne zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An das Plätschern des Flusses hinter seinem Haus, die Gerüche des Waldes während einer Jagd und das Lachen seiner Tochter. Dann wurde das Jucken von dem Gedanken an ein neunjähriges Mädchen verdrängt. Roren fragte: „Wie geht es meiner Tochter?“

      „Nun, sie isst kaum und klagt über Schmerzen. Aber wir konnten keine Wunden finden. Vielleicht hat sie einfach Angst oder Heimweh. Bei Kindern weiß man ja nie, nicht wahr?“

      Roren hielt sich mit der Hand am Holzrahmen des Karrens fest und zog sich hoch. Holzsplitter bohrten sich in seine Handfläche. Es knackte mehrmals in seinem Rücken. Roren stöhnte. Die Welt drehte sich. Schatten und weiße Punkte jagten durch sein Blickfeld.

      „Ganz ruhig“, sagte Feronin. „Nicht, dass du wieder ohnmächtig wirst.“

      Roren schaffte es, sich aufzusetzen. Sein Blick klärte allmählich auf, die Welt bekam wieder Farbe. Er sah das Grün der Bäume, den unebenen Weg, auf dem der Karren gezogen wurde, und die Menschen, die dem Karren durch den Wald folgten. Es waren Alte und Schwache, darunter nur wenige Frauen und keine Kinder. Die Dörfler trugen verkohlte Kleidung, kaum mehr als Lumpen. Schwarz und löchrig. Ihre Blicke waren auf den Boden gerichtet. Roren erkannte, dass sie dem Tode näher waren als dem Leben, dass etwas verloren gegangen war, etwas Wichtigeres als Arme oder Beine oder ein gefülltes Lebensmittellager. Und er wusste, dass der lange Weg in den Norden erst begonnen hatte. „Bring mich zu ihr.“ Er streckte sich. Knochen knackten. „Bitte, ich muss meine Tochter sehen.“

      Roren legte einen Arm um Feronins Schulter, und mit seiner Hilfe gelang es ihm, Schritt für Schritt an die Spitze der Flüchtlingskolonne zu gelangen. Auf einem morschen Karren, der von einem dürren Esel gezogen wurde, saß seine Tochter. Ihre strohblonden Haare waren verdreckt, fielen ihr ins Gesicht. Für einen kurzen Augenblick dachte Roren, dass sie tot sein musste. Hillas Haut hatte die Farbe von Milch, ihr Blick war ausdruckslos auf ihre Füße gerichtet, die über dem Boden baumelten wie die Zweige einer Trauerweide. Und als der Karren über einen Erdhügel rollte, schwangen sie leblos hin und her. „Hilla?“, fragte Roren.

      Sie hob den Kopf, ihre blauen Augen waren klar und kalt. Doch sie lächelte,