Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


Скачать книгу

Es waren die Männer, die das Lebensmittellager ausgeräumt und den Ältesten umgebracht hatten. Glasige Augen glotzten ins Nichts, ihre Körper waren weiß und übersät mit Fliegen und Wunden. Einigen Männern fehlten Gliedmaßen. Gedärm hing aus aufgeschlitzten Bäuchen.

      Ogwen beugte sich über eine Leiche und betrachtete die Wunden. Das Blut war dunkel und festgetrocknet. „Die liegen schon länger hier“, sagte Ogwen.

      Ariane stand steif inmitten der Leichen. Ihre Haare wehten im Wind wie eine zerrissene Flagge. Sie hielt Ausschau nach etwas, das sie nicht sehen wollte. Und dann fand sie es. „Eron!“ Sie lief auf einen Toten zu, der unter einer Buche saß. Sein bleiches Gesicht wirkte puppenhaft und war auf Gebüsch gerichtet. Erons Überreste ruhten im Schatten des Baumes. Ariane lehnte ihre Stirn an Erons und schluchzte. Roren wollte zu ihr gehen, sie trösten, doch er ekelte sich. Vor dem Toten und dem Leichengeruch; und er fürchtete sich vor Arianes Körper, vor der Wärme, die sie ausstrahlte.

      „Was meinst du, Ogwen, waren das die Grauen?“, fragte Feronin.

      Der Älteste fuhr mit dem Finger über eine Schnittwunde, sagte: „Nein, ich erkenne Wunden, die von einem etarianischen Krummschwert verursacht wurden, wenn ich sie sehe. Das waren die Echsen.“

      Rorens Magen verkrampfte und sein Mund fühlte sich trocken und tot an. „Vielleicht waren es Wegelagerer“, hörte er sich sagen, obwohl er wusste, dass Ogwen mit seiner Vermutung recht haben musste.

      „Glaub ich nicht“, sagte der Älteste. „Die Kleidung ist noch da. Die Karren ebenfalls.“

      „Hast du nicht gesagt, sie hätten euer Lebensmittellager ausgeräumt, Roren?“, fragte Feronin.

      „Ja.“

      „Gut“, sagte Ogwen. „Wir nehmen die Karren mit. Mal sehen, wie viel Proviant sie haben.“ Er stand auf und ging zurück zu den anderen, sagte noch: „Wenn jemand neue Schuhe braucht …“ Er zeigte auf die Leichen, dann verschwand er durch die Büsche.

      „Haben hier wohl Rast gemacht“, sagte Feronin, während er einem Toten die Stiefel abstreifte. „Wer ist so herzlos und schlachtet Flüchtlinge ab? Und wie konnten die Echsen sie verfolgen? Ob die Menschen wittern?“

      Arianes Schluchzen wurde lauter, der Wind schien es zu verstärken. Roren ließ seinen Blick über die Bäume schweifen. Er befürchtete, jeden Augenblick erschlagen zu werden. Von dem schwarzen Etarianer mit den goldenen Augen, der ihm auflauerte, um zu Ende zu bringen, was er in der Nacht der Flammen begonnen hatte. Als Roren die Leichen betrachtete, Männer, mit denen er aufgewachsen war, fiel ihm etwas auf. Etwas stimmte nicht. „Die Männer haben das Lebensmittellager ausgeräumt und sind zusammen mit ihren Familien geflohen.“

      „Und?“, fragte Feronin.

      „Wo sind die Frauen und Kinder? Die Leichen sind allesamt erwachsene Männer.“

      Feronin sah sich um. „Beim Abyssus, du hast recht.“

      „Sind alle verschwunden“, sagte Roren. Dann lauschte er dem Flattern und Krächzen der Krähen, während Ariane ihren toten Bruder umarmte und weinte.

      Helden

      Die Augen des Händlers weiteten sich, als er Atoz erblickte. „Meister Atoz? Was verschafft mir die Ehre?“, fragte er, deutete dann auf die Auslage seines Marktstands. Aureldisches Brot, Fennah-Kraut, einige Kessel. Nichts Ungewöhnliches. „Wollt Ihr etwas kaufen?“

      „Seid Ihr Daarq?“, fragte Atoz.

      „Gewiss. Ich kann Euch das Brot empfehlen. Heut Morgen frisch gebacken.“ Die rotgeschuppte Stirn des Händlers glänzte im Schein der Sonne.

      „Wir sind nicht deshalb hier“, sagte Gaitaan. Er stellte sich dicht neben den Händler. „Uns wurde mitgeteilt, dass Ihr mit verdächtigen Waren handelt.“ Atoz hatte zusammen mit Gaitaan Wachdienst. Eine undankbare, langweilige Aufgabe. Es gab kaum Streitereien in den Straßen, geschweige denn Verbrechen. Meist mussten sie in brütender Hitze durch Etovernem patrouillieren, hatten nichts zu tun. Dabei trugen sie schwere Rüstungen, die schnell so heiß wurden, dass man sie kaum anfassen mochte. Atoz war dank seiner Stellung vom Wachdienst verschont geblieben; aber das war, bevor die Flüchtlinge kamen.

      „Verdächtige Waren? Das ist unmöglich. Jemand muss mich verleumdet haben“, sagte der Händler. Er klang überrascht und empört zugleich. Fast überzeugend, wäre da nicht das Zittern in seiner Stimme. „War es Heetran? Dieser Mistkerl. Ich sage Euch, der lügt. Macht er immer. Neulich, als ich ihm einen Topf verkauft habe, da …“

      Atoz hob die Hand, bedeutete dem Händler zu schweigen. „Wer uns geschickt hat, ist unwichtig.“

      Immer mehr Etarianer blieben vor dem Marktstand stehen, reckten ihre Hälse und zeigten auf Atoz. Gaitaan umrundete die Auslage, begutachtete die Waren, lugte in umstehende Kisten. Er fragte: „Wo habt Ihr es versteckt?“

      „Ich habe gar nichts. Ich weiß nicht, was Ihr meint.“

      „Wo ist Euer Warenlager?“, fragte Atoz. „Hier im Marktviertel? Zeigt es uns. Wir durchsuchen es, und wenn wir nichts finden, dann werden wir Euch für die Unannehmlichkeiten entschädigen.“

      „Es sei denn, Ihr widersetzt Euch.“ Gaitaan legte eine Hand auf sein Schwert; der Händler bemerkte es, zuckte unwillkürlich zurück. Gaitaan fragte: „Wärt Ihr nun so freundlich, uns den Weg zu zeigen?“

      Daarq seufzte. „Schätze, ich habe keine andere Wahl, hm?“

      „Es wird nicht lange dauern“, sagte Atoz. Er lächelte ihm zu, der Händler sah es nicht. Mit gesenktem Haupt verließ er seinen Marktstand, Atoz und Gaitaan folgten ihm.

      Gemeinsam entfernten sie sich vom Geruch frisch gebackenen Brotes und von neugierigen Etarianern. Atoz spürte, wie ihre Blicke ihn verfolgten. Es war nicht alltäglich, einen Kriegshelden im Marktviertel anzutreffen, noch dazu in voller Rüstung. Doch das Volk glotzte Atoz nicht deswegen an. Es waren seine schwarzen Schuppen, die in ganz Etovernem Aufmerksamkeit auf sich zogen.

      Etovernem war die Heimat der Etarianer in Vernland und die größte Stadt des Kontinents. Sie lag mitten in der Wüste. Eine Mauer aus Sandstein umschloss die kreisförmige Stadt. Die Gebäude bestanden aus Lehm. Einfache, schmucklose Hütten reihten sich aneinander, verliehen Etovernem eine rotbraune Färbung. Auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben.

      Während Atoz und Gaitaan dem Händler folgten, tummelten sich Etarianer verschiedenster Farben auf den Märkten der Stadt. Sie handelten miteinander und karrten Waren durch die engen Gassen. Neben dem Marktplatz befand sich eine Militärkaserne. Atoz konnte sich gut an seine Zeit der Ausbildung erinnern. Schwerter schwingen und Muskeln stählen; bis sein Körper bei jeder Bewegung schmerzte und Erschöpfung und Hitze ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit getrieben hatten.

      Die ärmsten Etarianer lebten nahe der Mauer. Sie waren meist einfache Händler, die nicht lange im Militär gedient hatten. Ihre Häuser waren klein und baufällig. Aber wenn man in Richtung Innenstadt ging, so wie Atoz dies tat, wurden die Gebäude größer und solider. Je näher man der Stadtmitte kam, desto prunkvoller waren die Lehmbauten. Hier lebten Generäle und Heerführer und Veteranen. Im Zentrum der Stadt stand der Sonnenturm, einhundert Meter hoch und aus Marmor. Der Turm ragte wie eine weiße Lanze in den blauen Himmel.

      Atoz setzte seinen Weg durch die Stadt fort, blickte dabei auf die gezackte Sonne aus Gold, die auf der Spitze des Sonnenturms thronte und glänzte. Das Wappen der etarianischen Nation hatte die Flüchtlinge angelockt. Zwei Monate waren seit der Sichtung der Grauen vergangen, und seitdem strömten Menschen nach Etovernem, in der Hoffnung, einem Krieg mit ihren Märchengestalten entgehen zu können. Atoz hatte die Menschen gesehen.

      Als die ersten Flüchtlinge vor den Toren standen, patrouillierten Atoz und Gaitaan auf der Stadtmauer. Aus acht Metern Höhe hatte Atoz die Gesichter der Menschen nicht erkennen, nicht sehen können, wie alt oder in welchem Zustand sie waren. Es waren ungefähr zwanzig. Mit festen Stimmen hatten sie um Einlass gebeten. Doch