Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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wo eine Büste des Superiorius stand. Atoz hatte einst ein Gemälde des Superiorius gesehen. Der Vater aller Etarianer hatte eine weiße Robe getragen und eine silberne Krone ruhte auf seinem Haupt. Im Hintergrund erhob sich der Sonnenpalast. Groß und prunkvoll und so rund wie der Mond.

      Eine Vielzahl der Bürger kam oft in die Heldenhalle, um sich an vergangene Glanzzeiten zu erinnern und um zukünftigen Heldentaten entgegenzufiebern. Doch Atoz war nicht hier, um seinen Respekt zu bekunden. Er betrachtete die steinernen Gesichtszüge eines Helden, der die Invasion eines längst vergessenen Feindes zurückgeschlagen hatte. Auf der Gedenktafel zu seinen Füßen stand, dass seine Schuppen schwarz gewesen waren. Atoz dachte an Meero, der mit ihm gegen den Menschenkönig gekämpft hatte, berührte dabei die Statue und fuhr mit den Fingern über die Wölbungen und Vertiefungen des Helden. Es war alles so glatt, so unnatürlich.

      „Ich glaube nicht, dass man die anfassen darf.“

      Atoz drehte sich um. Gaitaan stand hinter ihm. „Da bist du ja endlich“, sagte Atoz.

      „Kannst du mir nun sagen, warum du mich hier treffen wolltest?“, fragte Gaitaan.

      „Ich brauche deine Hilfe.“

      „Wobei?“

      „Du hast doch gute Verbindungen zum Militär, oder nicht? Du bist bei den Soldaten sehr beliebt, du musst für mich einige von ihnen rekrutieren.“

      „Was für Soldaten? Und wofür?“

      „Männer, die mir die Treue schwören würden, auch wenn das bedeuten könnte, den Obergeneral zu verärgern.“

      „Was soll das? Was hast du vor?“

      Gaitaan war Atoz‘ bester Freund, sein einziger Freund, wenn er darüber nachdachte. Sie hatten ihre Jugend zusammen verbracht, hatten gemeinsam die Militärausbildung gemeistert und Seite an Seite im Glaubenskrieg gekämpft. Wenn er ihm nicht vertrauen konnte, wem dann? „Ich muss ihn suchen.“

      „Wen?"

      „Den zweiten Schwarzgeschuppten.“

      „Was? Du meinst … Was ist in dich gefahren?“

      Atoz sagte: „Ich habe das Gefühl, dass uns ein Krieg bevorsteht. Entweder gegen die Grauen oder gegen die Menschen. Und ich bin mir sicher, dass Meero eine Rolle darin spielen wird.“

      Gaitaans Augen weiteten sich. Er sah sich um und sagte: „Erwähne diesen Namen nicht. Wenn das jemand hört, bekommst du Schwierigkeiten, und zwar gewaltige.“

      „Das ist mir gleich. Ich muss ihn finden.“

      „Du … du bist doch verrückt. Vergiss das lieber wieder. Niemand hat ihn seit seiner Verbannung gesehen. Wahrscheinlich ist er schon vor Jahren gestorben.“

      „Und wenn nicht? Wenn er noch da draußen ist?“

      Gaitaan sagte: „Atoz, wir haben viel zusammen durchgemacht, denk nur mal an unsere ersten Jahre beim Militär. Du vertraust mir doch, oder? Dann hör auf mich, wenn ich dir sage, dass das keine gute Idee ist. Dieser Verräter ist gefährlich.“

      „Vermutlich hast du recht. Aber bedenke eines: Meero kennt die Stadt, er kennt uns, unsere Schwachstellen.“

      Gaitaan verfiel in Schweigen. Atoz sagte: „Wenn Meero lebt, dann müssen wir ihn finden, bevor es unsere Feinde tun. Er weiß zu viel über Etovernem, könnte unseren Gegnern alles verraten. Und er hat vierzehn Jahre in Vernlands Wildnis verbracht. Vielleicht weiß er, ob es die Grauen gibt, wer sie sind und was sie wollen. Vielleicht kennt er sogar die Fürsten, könnte mit ihnen reden. Wir müssen Meero finden. So schnell wie möglich.“

      Atoz verschwieg die Deserteure und die Drohungen des Obergenerals. Die Suche nach Meero eilte vielleicht nicht, aber Atoz wollte nicht herausfinden, ob ihn der Obergeneral für Ungehorsam köpfen würde. Also nutzte er das stärkste Gefühl, das Etarianer kannten, um Gaitaan davon zu überzeugen, die Stadt zu verlassen. Die Liebe für die eigene Nation. Alleine würde Atoz in der Wildnis nicht lang durchhalten, das war ihm bewusst.

      „Warum jetzt? Warum nicht früher?“, fragte Gaitaan.

      „Hast du denn vorher vermutet, dass die Menschen etwas planen? Und hast du geglaubt, es gäbe Graue?“

      „Ich bin mir jetzt noch nicht sicher, ob es sie gibt.“

      „Und die Fürsten, sie wollen Rache. Der Obergeneral nimmt an, dass sie bald in den Krieg ziehen werden. Das müssen wir verhindern. Unserer Heimat zuliebe.“

      Gaitaan betrachtete die Statue des Helden, seufzte und sagte mit leiser Stimme: „Ich möchte nicht, dass unserer Nation Unheil widerfährt. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

      „Danke. Du bist ein wahrer Freund.“

      „Versteh mich nicht falsch, ich halte dieses Vorhaben für wahnsinnig. Dieser Etarianer wird kaum mit sich reden lassen, sollte er noch am Leben sein. Ich glaube nicht, dass er uns helfen wird. Nicht mit den Grauen, nicht mit den Menschen. Und falls der Obergeneral von der Sache erfährt, rollen Köpfe.“

      „Ich verstehe das. Wenn du niemanden findest, der uns begleiten würde, dann haben wir wenigstens versucht, den Frieden zu wahren.“ Sie umarmten sich zur Verabschiedung, dann verließ Gaitaan die Heldenhalle.

      Atoz blieb vor der Statue des Kriegshelden stehen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie eines Tages seine Statue in diesem Raum stünde. Aus dem gleichen Marmor. Glatt und weiß, rein und unbefleckt. Es fühlte sich falsch an. Atoz schloss die Augen und Erinnerungen aus dem Glaubenskrieg überkamen ihn. Wie so häufig, wenn er die Augen schloss. Erinnerungen an Blut und Tod.

      Etarianische Brüder lagen im Sand. Ihre Gliedmaßen waren abgetrennt, Blut vermischte sich mit dem Sand zu einem bräunlichen Matsch. Die Etarianer riefen nach ihren Familien, ihren Geschwistern, Eltern, Frauen. Und dann wurden aus Etarianern Menschen, die ebenso qualvoll schrien und verbluteten. Menschen, die Atoz niedergestreckt hatte.

      Er umklammerte sein Schwert. Als er die Augen öffnete, hatte er das Gefühl, die Statue des Kriegshelden würde grinsen. Böse und schadenfroh. Atoz atmete schneller, seine Rüstung wurde schwer. Alles wirkte eng und bedrohlich. Die Wände kamen auf ihn zu, wollten ihn zu einem blutigen Fleck zerdrücken. Blut tropfte aus den Augen der Statue. Sie schrie.

      „Mein Bein … wo ist mein Bein? Bitte, es tut so weh.“

      „Meine Augen! Ich kann nichts sehen.“

      „Sieh, was du angerichtet hast, Mörder!“

      Die Stimmen prasselten auf Atoz ein. Die Luft roch nach Kupfer, nach Blut. Fast greifbar. Der Boden färbte sich rot, war voller Gedärm, das schleimig schimmerte. Atoz wollte sein Schwert wegwerfen und seine Rüstung ablegen, doch es war ihm nicht möglich. Die Scharniere, Laschen und Gürtel konnten nicht gelöst werden. Er lief zum Ausgang, stürmte keuchend aus der Halle und ignorierte die Worte der verwirrten Wachen.

      Das Plätschern der Seen vor dem Sonnenturm tat Atoz gut, beruhigte ihn. Die gezackte Sonne auf der Turmspitze leuchtete orangerot im Abendhimmel. Aber es war nur ein Metallklumpen, glanzlos und ohne Wärme. Atoz fasste einen Entschluss.

      Er würde die Deserteure in der Arena nicht hinrichten, keine Schlachten führen, keine menschlichen Leben nehmen. Ein Krieg hatte ihm gereicht. Er wollte Menschen und Etarianer vor Leid bewahren, einen weiteren Krieg verhindern, bevor er stürbe. Wenn er dafür sein Volk verraten und sich mit einem Verbrecher verbünden müsste, dann würde er es tun. Dann gäbe es nach seinem Tod keine Ruhestätte auf dem Mond, keine Statue in der Heldenhalle. Die Menschen würden Atoz schnell vergessen, die Etarianer ihn verachten. Dann bliebe nur die Dunkelheit; und es wäre gut so.

      Namenstag

      Tiogan und Fernora saßen im Garten der Burg. Die Fürstin trug ein prunkvolles, dunkelblaues Kleid, eines, das sie nur anzog, wenn hoher Besuch erwartet wurde. Zwischen Holunderbeersträuchern und bunten Blumen stand ein Holztisch, auf dem sich Gedecke für das Abendessen