Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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Saoana.

      Bevor Tiogan antworten konnte, betrat ein Mann den Garten. Er schien jünger als Saoanas Vater zu sein und war wesentlich kleiner. Er trug eine Lederrüstung, die sich über seinen dicken Bauch spannte. Tiefe Falten zogen sich durch sein Gesicht, das Lächeln hatte etwas Großväterliches.

      „Albin, alter Freund.“ Tiogan erhob sich und ging mit offenen Armen auf den Mann zu. Sie umarmten sich.

      „Schön, Euch wiederzusehen“, sagte Fürst Albin Rygmoor. „Wie lang ist es her? Fünf Jahre?“

      „Sechs, wir haben uns seit der Beerdigung Eurer Frau nicht gesehen.“

      „Ja … sechs Jahre ist das schon her, was?“ Albin seufzte und betrachtete Tiogans Brust, als wäre sie ein Fenster, durch das er in die Vergangenheit blicken konnte. „Aber lasst uns nicht von Vergangenem sprechen“, sagte er. „Reden wir stattdessen über das, was vor uns liegt.“ Er wandte sich Saoana zu. „Meine Liebe, es ist mir eine Freude, Euch zu sehen.“ Saoana streckte ihm die Hand entgegen und er küsste sie. „Ihr seid groß geworden“, sagte er. „Und so schön … Ihr habt hübsche rote Haare, wie Euer Vater sie einst hatte.“

      „Das waren noch Zeiten“, sagte Tiogan. Die Fürsten lachten und Tiogan fuhr sich durch die Haare. „Mittlerweile ist alles schütter und grau.“

      Bei Erwähnung der Farbe erstarb Albins Lachen, wurde zu einem gezwungenen Lächeln. „Und da ist die liebe Fernora“, sagte er schließlich. Er ging auf die Fürstin zu und küsste ihre Hand. „Auch Ihr seid schöner geworden.“

      „Ihr seid zu freundlich“, sagte sie. „Ihr seht ebenfalls hervorragend aus. Kommt, setzt Euch und speist mit uns. Fühlt Euch ganz wie zu Hause.“

      „Gerne, gerne. Ich muss schon sagen, das Wetter in Aureld ist wärmer, als ich es in Erinnerung habe“, sagte Albin, während er sich setzte und Wein in einen großen Becher goss. „So schwül hier. Hätte ich das gewusst, ich wäre nicht in Lederrüstung gekommen.“

      Tiogan setzte sich ihm gegenüber. „Ich hoffe, dass Ihr nicht zu sehr ins Schwitzen geratet.“

      „Die paar Tage werde ich schon überstehen. Bei meiner Ankunft habe ich Zelte vor der Stadt gesehen. Ich nehme an, ich bin nicht der erste Fürst, der Euch die Ehre erweist?“

      „Die Fürsten Ubar und Hoh sind bereits eingetroffen. Die anderen werden in den nächsten Tagen erwartet.“

      Saoana hatte am Morgen auf der Stadtmauer gestanden und auf die Zelte geblickt, die sich vor den Toren Austadts erstreckten. Die Getreideernte war vorüber und die Speicher gefüllt. Seit dem gestrigen Abend liefen Männer der Fürsten auf dem Acker umher. Sie riefen und lachten und brieten Fleisch, das die Luft mit dem Geruch von Festlichkeit und besinnlichem Abendessen erfüllte. Lagerfeuer brannten unter blauem Himmel und Saoana stellte sich vor, worüber sich die Männer unterhalten mochten. Essen, Frauen, Kriegsgeschichten. Sie waren alle gekommen, um den Namenstag ihres Vaters zu feiern.

      „Sechzig Jahre, ist das zu fassen“, sagte Albin. „Ihr seht jünger aus, alter Freund.“ Die Männer lächelten sich an, doch Saoana entging nicht, dass sie etwas hinter diesem Lächeln verbargen. Krieg und alte Wunden.

      Die Bediensteten brachten Speisen. Es dauerte nicht lange, bis der Tisch mit gebratenen Hähnchenkeulen, Kartoffeln und frischem Brot gefüllt war. „Wird uns Euer Sohn nicht beehren?“, fragte Fernora.

      „Oh doch, das wird er. Er sollte bald hier sein. Er wollte mit unseren Männern reden. Die Reise war lang und Owin möchte sich für ihre Treue bedanken.“ Albin warf Saoana einen Blick zu, der sagte, sie solle es wertschätzen, dass ein so gefühlvoller und ehrbarer Mann um ihre Hand bat. Sie lächelte müde und schenkte sich Wein ein.

      „Hoffentlich kommt er, bevor das Fleisch kalt wird“, sagte Tiogan und griff nach einer Hähnchenkeule.

      Fett triefte von Albins Händen. Er hatte bereits drei Hähnchenkeulen verdrückt. Fetttropfen liefen sein Handgelenk entlang, und seine Lippen glänzten, als er mit der Zunge das Fett wegleckte. Saoana hörte ihn schmatzen und sah zerkautes Fleisch auf der Zunge des Fürsten. Als Albin seine Zähne in die vierte Keule schlug und erneut mit offenem Mund zu kauen begann, verzog Saoana das Gesicht. Diesen Fremden, der mit ihr am Tisch saß und fraß, als wäre er ein verhungernder Hund, den würde sie bald Vater nennen müssen.

      „Saoana, stimmt etwas nicht?“, fragte ihre Mutter.

      „Nein, es ist alles in Ordnung“, sagte sie und nippte am Wein.

      „Saoana, meine Liebe“, sagte Albin, „wenn Euch etwas bedrückt, nur raus damit. Es gibt nichts Besseres, als sich seine Sorgen von der Seele zu reden.“ Saoana öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch Albin hob die Hand. „Sagt nichts, ich weiß, was Euch betrübt … Ihr habt Angst vor dem Bund mit meinem Sohn. Mir ging es nicht anders, als ich meine Frau heiraten musste. Ja, da hatte ich vielleicht weiche Knie, das kann ich Euch sagen. Aber das legt sich. Spätestens wenn Ihr Willet seht und die Burg … ein wunderbarer Ort, wirklich. Ich bin sicher, Ihr werdet Euer neues Zuhause schnell ins Herz schließen … ja, ich muss gestehen, ich habe noch nie ein derart schmackhaftes Hähnchen gegessen. Vorzüglich.“

      Tiogan tupfte sich mit einem Tuch über den Mund und sagte: „Genug der Höflichkeiten. Hast du getan, worum dich mein Bote gebeten hat?“

      Albin hörte auf zu kauen, starrte auf seinen Teller. Ob ihn das Geduztwerden oder die forsche Frage überraschte, konnte Saoana nicht sagen. Er schluckte kräftig und sagte: „Tiogan, ich …“

      „Hast du oder hast du nicht?“

      „Ich habe meinen etarianischen Beobachter einkerkern lassen. Er wird seinen Generälen keinen Bericht erstatten.“

      „Gut.“

      Saoana fiel auf, dass sie Xaviin seit geraumer Zeit nicht gesehen hatte. Er saß häufig allein in seiner Kammer nahe des Burgfrieds. Ab und an schlenderte er durch die Stadt oder spazierte gedankenverloren über den Burghof. Wenn Saoana ihn ansprach, war er stets aufgeschreckt, als wäre er aus einem Traum erwacht, und wenn Saoana nicht schlafen konnte und durch die Burg wanderte, hatte sie ihn häufig auf dem Wehrgang stehen und zum Mond hinaufblicken sehen. „Vater, wo ist Xaviin?“, fragte sie.

      Tiogan presste die Lippen zusammen. „Nun, du weißt sicherlich, dass wir … Pläne haben, meine Liebe. Da ist es nicht von Vorteil, wenn die Echse uns in die Quere kommt, rumschnüffelt und seinen Anführern mitteilt, was wir hier machen. Ich habe ihn ins Verlies sperren lassen.“ Er sagte das in einem Ton, der Saoana an ihre Kindheit erinnerte. An eine Zeit, in der Tiogan ihr die Welt erklärt und Saoana vieles nicht verstanden hatte. Ein sanfter und langsamer Singsang, seine Du-kannst-das-nicht-verstehen-Stimme. Er nickte und das Thema war vom Tisch. Er wandte sich wieder Albin zu. „Und das andere?“

      Fürst Rygmoor leerte seinen Weinbecher mit einem Zuge, sagte dann: „Die Schmieden arbeiten seit meiner Abreise unermüdlich.“ Er musterte die gebratene Haut des Hähnchens vor ihm. „Ich bin zuversichtlich, dass zehntausend Rygmoorer mit uns in den Krieg ziehen werden.“

      Tiogan grinste zufrieden. „Gut, sehr gut.“

      „Aber wird das ausreichen, alter Freund? Wir brauchen die Unterstützung der anderen Fürsten, wenn wir siegreich sein wollen.“

      „Nach den Festlichkeiten werden wir sehen, wo wir stehen. Ich bin sicher, wir werden mit unserem Anliegen auf offene Ohren stoßen.“

      „Und die Grauen?“

      Tiogan schlug auf den Tisch. Geschirr klirrte und Albin zuckte zusammen. „Es gibt keinerlei Beweis für ihre Existenz! Unsere Lage ist schon ernst genug, da will ich nicht über den Wahrheitsgehalt von Ammenmärchen nachdenken.“

      „Aber die brennenden Dörfer …“

      „Panische Bauern, die Barbaren aus den Bergen für Graue halten. Sie flüchten und zünden ihr Hab und Gut an, anstatt es Wilden zu überlassen. Das habe ich dir doch schon erklärt!“

      Dann schritt Fernora