Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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verhungern zu sehen.

      „Ah, Owin, da bist du ja!“ Albin hob die Hand und winkte seinem Sohn zu. Owin war groß und schlank. Er sah gut aus. Er hatte kurze schwarze Haare und einen dichten und gepflegten Bart. Er schritt durch den Garten, als wäre es seine liebste Beschäftigung, durch das Grün zu spazieren und den Duft der Blumen und Sträucher wahrzunehmen, während allmählich die Sonne unterging. Sein Gang war federnd und vorsichtig, so als wäre er darauf bedacht, keine Fußspuren auf dem Gras zu hinterlassen. Er trug eine einfache Lederrüstung, genau wie sein Vater. Als er an den Tisch trat, küsste er die Hand Fürstin Fernoras, bevor er sich Saoana zuwandte.

      Sie streckte ihm die rechte Hand entgegen und während Owin seine Lippen auf ihrem Handrücken presste, blickte er ihr lange in die Augen, so als wolle er den Moment auskosten, ihre Schönheit aufsaugen, bevor er seinen Blick auf etwas anderes richten müsse. Er lächelte und sagte: „Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Euch kennenzulernen, meine Dame. Oder sollte ich sagen, Euch wiederzusehen?“

      Saoana nickte respektvoll. „Die Freude ist ganz meinerseits.“

      Nachdem Owin seinen Vater und Tiogan gebührend begrüßt hatte, setzte er sich Saoana gegenüber. „Ich bin überrascht“, sagte Owin. „Ich habe Austadt karg und unwirtlich in Erinnerung. Mit Einwohnern, die so kalt sind wie die Steine, aus denen die Stadt besteht. Doch meine Erinnerung hat mich wohl getäuscht. Eure Gastfreundschaft lässt nichts zu wünschen übrig.“ Er blickte Saoana wieder in die Augen. „Wart Ihr jemals in Willet?“, fragte er sie. Saoana schüttelte mit dem Kopf. Owin sagte: „Ihr müsst wissen, Willet hat keine Mauern. Die Stadt liegt mitten im Wald. Die Holzhäuser unseres Volkes ruhen in den Schatten von Linden. Doch hier … hier ist alles so groß und voller Menschen. Und überall ist Stein. Häuser, Straßen, Mauern. Also verzeiht mir, wenn ich mich während meines Aufenthalts nicht zurechtfinden werde. Das ist alles so … ungewohnt.“

      Saoana sah in seine braunen Augen, die verträumt in die Ferne zu blicken schienen. Ein Mann, den sie zum ersten Mal nach dreizehn Jahren sah und den sie nicht kannte, obwohl Tiogan ihr das Gegenteil weismachen wollte, saß ihr gegenüber, und für einen Moment verspürte Saoana Verständnis und Zuneigung für ihren künftigen Gemahl. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass Owin nur nach Austadt gereist war, weil es in seiner Pflicht stand, sein Vater es verlangte. Sie lächelte, doch ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.

      Als Albin seinen Sohn fragte, ob er Hunger habe, ließ Owin seinen Blick über den Tisch schweifen und verneinte. Seine Miene war ausdruckslos und wirkte abwesend, seine Augen stierten ins Leere. Als wäre sein Geist in Willet geblieben, während der Körper seine Heimat verlassen hatte; und die Angst, den Rest ihres Lebens als seelenlose Hülle in Willet zu verbringen, ohne Freunde und ohne Liebe, umklammerte Saoana und ließ sie nicht mehr los.

      Fürst Tiogans Namenstag war gekommen. Der Sternenhimmel funkelte über den Köpfen der Gäste und Fackeln erhellten den Burghof. Es war die Idee des Fürsten gewesen, die Feierlichkeiten unter freiem Himmel abzuhalten. Es war Sommer und die Nächte waren warm. Das sei bestes Wetter für eine Feier an frischer Luft, hatte Tiogan gesagt.

      Saoana trug ihr feinstes Kleid - ein dunkelrotes aus kabalischer Seide - und stand neben ihrem Vater. Die anderen Fürsten überreichten ihm Geschenke. Teure Kelche, einen Dolch mit goldenen Gravuren, Kleidung aus feinsten Stoffen. Als sie Saoana erblickten, lobten sie Tiogan für seine Tochter, die zu einer wunderschönen Frau herangewachsen war. Alle sieben Fürsten erwiesen Tiogan Respekt, und Saoana stand an seiner Seite wie eine Statue, die bewies, welch schöne Kreatur aus seinem Samen entstanden war. In der Nähe spielte jemand auf einer Laute. Ein Barde sang ein Lied über große Fürsten und Könige aus grauer Vorzeit.

      Tiogan hatte verboten, dass Juana das Fest besuchte. Ein einfaches Dienstmädchen hätte hier nichts zu suchen, meinte er. Owin war ebenfalls abwesend, warum wusste Saoana nicht und niemand vermochte es ihr zu sagen. Allein stand sie da, hatte niemanden zum Reden und ließ sich von fremden Männern begutachten.

      Die Fürsten begannen, Wein zu saufen. Die angesehensten Ritter der Fürstentümer unterhielten sich über ihre Kampfkünste und die Vorzüge ihrer Heimat, während ein Fass nach dem anderen geleert wurde. Saoana kümmerte das wenig. Sie wollte nicht hier rumstehen und sich anstarren lassen, wollte einfach fort. Fort von den urteilenden Männern und allein sein. „Vater, darf ich gehen?“ Tiogan warf ihr einen abschätzigen Blick zu und gestattete es.

      Saoana schritt über den Burghof und sah den Stadtvogt, ein Mann mittleren Alters namens Marillo. Abseits des Geschehens lehnte er an einer Säule und trank aus einem silbernen Becher. Gelangweilt beobachtete er die saufenden Gäste. Wie ein Mann, der lediglich an einer Feier teilnahm, weil es von ihm verlangt wurde. Seine schulterlangen Haare hingen ihm ins Gesicht und Wein tropfte auf seinen Ziegenbart, während er seinen Kelch leerte. „Meine Herrin, wo geht Ihr hin?“, fragte Marillo. Er lallte.

      „Ich möchte mir kurz die Beine vertreten.“

      „Habt wohl keine Lust auf Festivitäten, he?“

      Sie lächelte. „Nein, nicht sonderlich.“

      „Kann ich verstehen, aber Ihr solltet es genießen. Wer weiß, wann wir wieder feiern können. Es wird lange dauern, wegen den Plänen Eures Vaters und allem.“ Traurigkeit lag in seiner Stimme.

      „Wir werden schneller wieder feiern, als Ihr glaubt, Stadtvogt. Ihr werdet sehen.“ Sie versuchte, aufmunternd zu klingen. Stattdessen klang sie müde.

      „Da wäre ich mir an Eurer Stelle nicht so sicher, Herrin.“

      Saoana stand auf dem Wehrgang und sah die Lagerfeuer der Soldaten in der Ferne. Kleine orangefarbene Lichter in der Finsternis. Saoana hatte in den letzten Tagen viele Menschen kennengelernt - Fürsten, Ritter, Knappen - und die Vorstellung, dass sie alle im Abyssus wiedersähe, bereitete Saoana Kopfschmerzen. Sie würden im Abyssus über sie urteilen, das hatte Tiogan ihr beigebracht. Dann spräche der Große Richter sein Urteil, und Saoana würde als etwas wiedergeboren werden; und selbst das Wort eines unbedeutenden Knappen hätte Gewicht. Nicht so viel wie das ihres Vaters oder das ihrer Mutter, doch nichtsdestotrotz ein Gewicht.

      Saoana hörte Männerstimmen. Sie johlten und lachten und feixten. Sie war froh, auf dem Wehrgang zu stehen, wo die Männer nicht mit ihr sprechen konnten, ihre neugierigen Augen abwesend waren. Hier oben musste Saoana nicht lächeln, keine Freundlichkeiten vortäuschen. Hier war sie Saoana, und das konnte sie nur sein, wenn sie allein war.

      „Das sind eine Menge Lichter, hm?“ Eine Stimme ertönte hinter Saoanas Rücken. Sie drehte sich um und erblickte einen alten Mann in einem goldenen Gewand aus Seide, das im Mondlicht glitzerte. Saoana hatte ihn an diesem Abend schon einmal gesehen, als sie neben ihrem Vater stand und den Fürsten zulächelte.

      „Guten Abend“, sagte sie. „Ich freue mich, Euch hier anzutreffen, Fürst Kabalos.“ Ihre Stimme war tonlos. Sie hatte diese Freundlichkeiten einstudiert. Es lag keine Aufrichtigkeit hinter diesen Worten, und das Grinsen auf dem Gesicht des Fürsten zeigte ihr, dass er es bemerkte.

      „Redet nicht so einen Unsinn. Ich weiß, dass Ihr hier oben seid, um allein zu sein“, sagte er. „Ich kann es Euch nicht verdenken. Das Geschwätz über Krieg und Echsen raubt mir ebenfalls den letzten Nerv.“ Fürst Kabalos war der älteste unter den Fürsten. Tiogan hatte erzählt, dass er über achtzig Jahre alt sei.

      Kabalos deutete auf die Lagerfeuer in der Ferne und sagte: „Beängstigend, oder? So viele Männer, alle schwer bewaffnet … und das ist nur unser Gefolge, nicht einmal Soldaten. Einfache Stadtwachen, ja, das ist alles, was sie sind. Und keine zweihundert Mann. Stellt Euch vor, wie es hier aussehen würde, wenn Euer Vater bekäme, was er von uns verlangt. Die Armeen aller Fürstentümer. Achtzigtausend Mann vor seinen Toren. Aber - verzeiht mir, wenn ich das sage - Euer Vater leidet an Hirngespinsten. Er glaubt, der Krieg sei unvermeidlich. Ein Irrglaube, wenn Ihr mich fragt.“

      Während er sprach, sagte Saoana kein Wort. Sie vernahm den Geruch von Wein, der von Fürst Kabalos ausging, und er machte nach jedem Satz eine Pause, so als müsse er die Worte in seinen Gedanken ordnen, bevor er sie aussprach. Er nippte an seinem Wein, wartete darauf, dass Saoana