Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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Jahren nicht verblasste. „Ich habe …“

      „Ich will das nicht hören, nicht schon wieder.“

      Atoz schwieg.

      „Du hast eine Verpflichtung unserem Volk gegenüber, verdammt“, sagte Muutuq. „Jedes Mal muss ich mir dein Gejammer anhören. Es reicht. Du bist ein Held, eine Statue von dir wird bald in der Heldenhalle stehen und du wirst auf dem Mond mit den Hohen Kriegsherren speisen. Du bist der Schwarzgeschuppte, der von den Kriegsherren Gesegnete. Hör auf, das ständig anzuzweifeln.“

      „Um auf den Mond zu gelangen, müsste ich erst sterben.“

      Muutuq nickte. „Ja, vielleicht blicken wir alle bald dem Tod ins Antlitz.“

      Atoz runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

      „Eine Taube ist gekommen. Nachricht von deinem Bruder.“

      „Von Xaviin?“ Atoz‘ Bruder hatte einst im Sonnenturm gelebt, dort Verträge aufgesetzt und Schlachtpläne geschmiedet. Seinem taktischen Kalkül war es zu verdanken, dass die Etarianer den Glaubenskrieg schnell für sich entscheiden konnten. Eine Tatsache, über die Xaviin nie gesprochen hatte.

      Muutuq sagte: „Fürst Tiogan Aureld feiert nächste Woche seinen sechzigsten Namenstag.“

      „Und?“

      „Es heißt, die anderen Fürsten werden daran teilnehmen, allesamt. Seit vierzehn Jahren haben sie sich nicht mehr versammelt, jedenfalls nicht alle gleichzeitig. Ich könnte schwören, die hecken was aus. Sie wollen sich an uns rächen, da bin ich mir sicher.“

      „Was sollen wir dagegen unternehmen?“

      „Was können wir schon tun? Wir können nur warten und uns wappnen. Wenn sie Krieg wollen, können sie Krieg haben. Sie haben damals verloren, sie werden wieder verlieren.“

      Atoz war sich da nicht so sicher. Vierzehn Jahre der Unterdrückung - nichts anderes war die Herrschaft der Etarianer für die Menschen - mussten etwas bewirkt haben. Wut und Rachsucht und den Willen, das zurückzuholen, was ihnen genommen wurde. „Gaitaan und ich haben heute einen Marktstand geschlossen“, sagte Atoz. „Der Händler wollte Fleisch an die Menschen verkaufen.“

      „Hm, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gierigeren unter uns die Gelegenheit nutzen, den Menschen Gold aus den Taschen zu ziehen. Wie viel Fleisch?“

      „Ich weiß es nicht genau. Es waren viele Kisten.“

      Muutuq zuckte mit den Schultern. „Das wird häufiger vorkommen, damit müssen wir uns abfinden. Wir können lediglich jene bestrafen, die wir erwischen.“

      „Wir sollten den Verkauf von Fleisch erlauben. Zu angemessenen Preisen.“

      Muutuq erstarrte, blickte drein, als hätte Atoz ihn angespuckt. „Bist du des Wahnsinns?“ Seine Stimme war leise, fast ein Zischen.

      Atoz zwang sich, ruhig zu bleiben, während er sagte: „Sollten wir den Flüchtlingen nicht helfen? Ist es nicht besser so? Für uns, für sie, für die Frieden in der Stadt? Was ist mit dem Friedensvertrag? Wir haben den Menschen versprochen, für ihren Schutz zu sorgen, solange sie unsere Verbote einhalten. Hast du das vergessen?“

      „Du hast uns den Sieg beschert, nun willst du unserem Feind beistehen?“ Enttäuschung lag in Muutuqs Stimme. „Wenn der Superiorius davon erführe … bei der Sonne.“ Muutuq fuhr sich über die Stirn und sagte: „Als Nächstes willst du sie noch in die Stadt lassen, wie? Friedensvertrag hin oder her, du weißt, wie unser Volk ist. Sie würden die Flüchtlinge lynchen. Öffneten wir den Menschen die Tore, sie würden nicht lange überleben. Und wir haben ohnehin nicht genug Nahrung, um sie durchzufüttern. Es treffen derzeit kaum Schiffe in Iogunhafen ein. Wieder ein Engpass.“

      Iogunhafen lag wenige Wegstunden nördlich von Etovernem. Als die Etarianer Vernland erreicht hatten, gingen sie zuerst in Iogunhafen vor Anker. Es hatten nur wenige Bewohner Widerstand geleistet. Laut den Geschichtsbüchern war es bloß eine Keilerei gewesen, die wie alle etarianischen Siege mit einem Vertrag endete. Muutuq sagte: „Wo wir gerade vom Hafen sprechen. Dein Besuch kommt mir sehr gelegen.“ Auf seinem Schreibtisch lag das Papier, das er gelesen hatte, als Atoz eingetreten war. Muutuq hielt es hoch und sagte: „Eine Nachricht kam aus Iogunhafen. Einige Soldaten sind desertiert.“ Er reichte Atoz das Dokument.

      „Warum?“

      „Sie wollten auf ein Schiff gelangen, zurück nach Etasia segeln. Offenbar weil sie Angst vor den Grauen haben.“

      „Das glaube ich nicht“, sagte Atoz. „Die Grauen sind ein Problem der Menschen. Es ist nicht einmal geklärt, ob es sie überhaupt gibt. Hast du die Soldaten verhören lassen?“

      Muutuq schnaubte. „Natürlich. Glaubst du, ich mache das zum ersten Mal? Sie haben von jemand Grauem gefaselt. Anscheinend haben sie etwas gesehen.“

      Atoz betrachtete das Papier und die geschwungenen Buchstaben darauf, las jedoch nicht. Er fragte: „Etwas Graues? Was kann das sein?“

      „Als wir die Deserteure dazu befragen wollten, sind sie in Panik geraten. Haben sich geweigert, weiterzusprechen.“ Muutuq erhob sich und trat ans Fenster. Er sagte: „Wie dem auch sei, sie sind desertiert und werden ihre gerechte Strafe erhalten.“

      „Gerechte Strafe? Du meinst Hinrichtung?“

      „Ganz genau. In der großen Arena … und du sollst der Henker sein.“ Muutuq drehte sich um und lächelte.

      „Ich?“ Hitze stieg Atoz ins Gesicht. Seine Rüstung wurde eng, das Schwert an seiner Hüfte schwer. Sein Herz schlug schneller, seine Hände zitterten. Die Vorstellung, Blut zu vergießen, erschwerte ihm das Atmen. „Ich habe seit vierzehn Jahren niemanden getötet. Warum jetzt, warum ich? Kann das nicht ein gewöhnlicher Henker übernehmen?“

      „Nun … nennen wir es einen symbolischen Akt. Du sagst es selbst, wir hatten seit vierzehn Jahren keinen bewaffneten Konflikt mehr; und ich fürchte, unser Volk hat vergessen, was es heißt, Etarianer zu sein. Wir werden ihnen dieses Gefühl zurückgeben. Wir werden die Deserteure grau anmalen, dann wirst du sie köpfen. Es ist wichtig, dass du als Kriegsheld ein Zeichen setzt. Du musst beweisen, dass du noch genauso tödlich bist wie zur Zeit des Glaubenskrieges. Wenn das Volk deine Stärke sieht, werden sie wissen, dass sie nichts zu befürchten haben. Weder Graue noch rachsüchtige Fürsten.“

      Atoz umklammerte das Papier, hörte es rascheln. Er dachte an den Menschenkönig und die Angst in seinem Blick, als Atoz ihn aufgeschlitzt hatte. Dann sah er Meero. Seine Schuppen waren voller Blut. Er stand über dem toten König, hatte Atoz angelächelt und zufrieden genickt. Atoz räusperte sich, verdrängte die Erinnerungen. „Ich werde niemanden hinrichten, weil er Angst hat. Erst recht keine Soldaten“, sagte er und bereute seine Worte, als er Muutuqs bebende Nüstern sah.

      Der Obergeneral schlug mit der Faust gegen einen Holzschrank. „Wie kannst du es wagen, dich zu widersetzen? Ich hab mich wohl verhört! Du kannst nur froh sein, dass ich dich kenne, seit du geschlüpft bist. Sonst hätte ich dich schon längst aus der Stadt geworfen. Ich bin dein Obergeneral!“ Er betonte jedes Wort. „Es gibt nichts zu diskutieren! Du wirst nächste Woche diese Bastarde hinrichten, oder ich werde dafür sorgen, dass dein Kopf rollt, hörst du? Held hin oder her. Wenn du nicht tust, was ich befehle, dann … verflucht, dann hacke ich dir eigenhändig den Kopf ab.“

      Atoz konnte dem nichts entgegnen. Er wusste nicht, ob Muutuq diese Drohung ernst meinte, wollte es auch nicht herausfinden. Stattdessen schwieg er, erhob sich, legte das Papier auf den Tisch und ging zur Tür.

      „Menschen helfen und Befehle verweigern …“, sagte Muutuq. Seine Stimme zitterte vor Wut. „Nicht nur das Volk hat vergessen, was es heißt, Etarianer zu sein, scheint mir.“

      „Was es heißt, ein Etarianer zu sein?“, fragte Atoz. „Was würde wohl der Superiorius sagen, wenn er erführe, dass wir hilflose Menschen vor unseren Toren verhungern lassen?“ Der Obergeneral entgegnete nichts, trat wieder ans Fenster. Atoz verließ den Raum.

      Die Kuppel