Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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lauschten den Geräuschen der Umgebung und warteten auf Ungewöhnliches. „Warst du auch im Krieg?“, fragte Feronin.

      Roren sagte: „Ja, als Bogenschütze in Kabalos.“

      „Hm, ziemlich weit weg vom Kriegsschauplatz.“

      „Ich habe den ersten Etarianer gesehen, als schon alles vorbei war. Kann mich noch gut an die Farbe seiner Schuppen erinnern. Sie waren so grün wie Moos und seine Augen hatten die Farbe von Holz. Er hat gesagt, die Menschen hätten verloren, der König sei erschlagen worden und die Fürsten hätten kapituliert. Ich wusste nicht genau, was das bedeuten würde, hatte mich sogar gefreut. Endlich nach Hause. Zurück zur Jagd und zu Ariane, in die ich damals frisch verliebt war.“

      „Wie alt warst du?“

      „Siebzehn.“

      „Ich war neunzehn. Musste in Velikigrad kämpfen.“

      „Dann warst du ja mittendrin.“

      „Ja, so ziemlich. Hab aber nicht lange durchgehalten. Eine Echse hat mir einen Pfeil in den Bauch gejagt.“ Er hob sein verkohltes Leinenhemd und zeigte auf eine Narbe rechts neben dem Bauchnabel. „Hat verflucht wehgetan, sag ich dir.“

      „Das glaub ich. Ich hab gehört, sie benutzen Giftpfeile.“

      „Diese Echse offenbar nicht, sonst wär ich nicht hier.“

      „Stimmt.“

      Und damit war das Gespräch über Kriege und alte Leiden beendet und Feronin wandte sich neueren Geschehnissen zu. „Was weißt du über die Grauen?“, fragte er.

      „Nicht viel.“ Roren erinnerte sich an alte Weiber und ihre Märchen. Seine Mutter hatte ihm häufig von den Grauen erzählt, meist nachdem er unartig gewesen war. Geschichten über riesenhafte, verunstaltete Menschenfresser, die gerne freche Kinder verspeisten. „Sie leben im Grovoll-Gebirge, im äußersten Süden Vernlands“, sagte Roren. „Sie sollen aschgraue Haut haben, aber das kann auch gelogen sein, ich habe nie einen gesehen. Wer hat das schon?“

      „Ist nicht gelogen.“ Feronin und Roren wandten sich um und sahen, wie Ogwen an das Feuer trat.

      „Du solltet schlafen, Ältester“, sagte Feronin.

      „Kann nicht, mein verdammter Rücken macht das Liegen auf dem Boden nicht mehr mit. Ja, das Alter.“ Er stemmte die Hände in die Hüfte, streckte sich und stöhnte. Dann setzte er sich vor die brennenden Zweige und kratzte sich am Bart. „Ich hab mal einen gesehen.“

      „Einen Grauen?“, fragte Roren.

      Ogwen sagte: „Sie sind tatsächlich grau, ist also nicht gelogen. Aber ihre Augen, die sind pechschwarz. Und die Grauen sind groß. Der maß mindestens zwei Meter.“

      „Wo hast du ihn gesehen?“, fragte Feronin.

      „Im Süden von Rygmoor, vor fünfundzwanzig Jahren, während eines Jagdausflugs. Er ist durch die Wälder gestreift, als hätte er etwas gesucht.“

      „Und er hat dich nicht bemerkt?“ fragte Roren.

      „Nein, ich hatte Glück.“

      „Bist du sicher, dass es keiner vom Bergvolk war? Ich hab gehört, in den südlichen Bergen leben eine Menge Barbaren.“

      „Sah nicht wie ein Mensch aus, wenn ihr mich fragt. Nein, so kann kein Mensch aussehen.“ Er stocherte mit einem Stock in der Glut des Lagerfeuers. „Jedenfalls war es das erste und einzige Mal, dass ich so eine Gestalt zu Gesicht bekommen habe.“ Während er sprach, vermied der Älteste jeglichen Blickkontakt, und Roren wurde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte, als er preisgeben wollte. „Roren, du solltest dich hinlegen“, sagte der Älteste nach einer Weile. „Ich übernehme die Wache für dich. Schlaf und komm wieder zu Kräften. Du siehst noch arg mitgenommen aus.“

      „Nun gut, wenn du so bereitwillig meine Wache übernehmen willst, sag ich nicht nein.“ Er erhob sich, wünschte Ogwen und Feronin eine erholsame Nacht und machte sich auf dem Weg zum Schlafplatz seiner Familie. Die beiden lagen unter einer Buche. Die Zweige wölbten sich über sie, wirkten wie eine große Hand. Roren blickte zurück zum Lagerfeuer. Der Älteste und Feronin unterhielten sich noch. Feronin schaute in Rorens Richtung.

      Als sich Roren neben seine Frau legte, öffnete sie die Augen. „Da bist du ja“, sagte sie und lächelte verschlafen.

      „Warum schläfst du nicht?“, fragte er.

      „Ich habe nachgedacht.“

      „Worüber?“

      „Über unsere Leute. Du weißt schon, die Familien, die Seros vor dem Angriff verlassen haben. Sie müssen hier vorbeigekommen sein, oder? Sie haben denselben Weg genommen.“

      „Ich denke schon.“

      „Heißt das, es könnte sein, dass wir meinen Bruder und seine Frau treffen?“

      „Möglich wär’s“

      „Das fänd ich schön“, sagte sie, setzte sich auf und küsste Roren. Als er ihre Zunge spürte und ihren Speichel schmeckt­e, konnte er den Gedanken, der in ihm aufgeblitzt war, trotzdem nicht verdrängen. Er dachte an die Worte, die er an den schwarzen Etarianer gerichtet hatte. Frauen, Kinder, Karren und der lange Weg gen Norden. Er hatte dem schwarzen Etarianer alles erzählt, und er war sich sicher, dass die Echsen Eron und den anderen gefolgt waren. Roren fühlte sich schlecht. Als hätte er seine Familie an den Feind verraten.

      Sie brachen früh am Morgen auf. Die Sonne war gerade aufgegangen und Nebel hing zwischen den Bäumen wie ein Schleier, der den Weg verhüllte. Der Geruch von feuchten Blättern und die Frische der Morgenluft taten Roren gut, weckten seine Lebensgeister. Er schritt durch den Wald, über Tau und dunkle Erde. „Hast du gut geschlafen?“, fragte Roren seine Tochter.

      „Ja.“ Sie waren erst wenige Minuten unterwegs, und doch wirkte Hilla bereits ausgelaugt.

      „Hier.“ Er hielt ihr ein Stück Käse hin. Sie nahm es und lächelte. Es lag keine Freude darin.

      „Mama sagt, wir treffen vielleicht Onkel Eron. Meinst du, das wär möglich?“, fragte sie.

      „Könnte sein, er hat sicher denselben Weg genommen.“

      „Hm.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Käse, knabberte daran.

      „Kleines, hör mal, ich weiß, dass du Schmerzen hast. Warum setzt du dich nicht auf einen Karren und lässt dich von einem Esel ziehen?“

      „Weil du das auch nicht tust.“ Sie zeigte auf seinen Arm. „Du bist auch krank.“

      Roren hob den Stumpf in die Höhe und sagte: „Meinem Arm geht es wieder gut.“ Er versuchte, sich die Schmerzen in der fehlenden Hand nicht anmerken zu lassen.

      Hilla entgegnete nichts und marschierte schnellen Schrittes voran. Vielleicht aus Trotz, vielleicht um zu zeigen, wie viel Kraft in ihr steckte.

      „Ich mache mir Sorgen“, flüsterte ihm Ariane ins Ohr. „Ihre Krankheit … Hilla wird bald schwächer werden, fürchte ich. Was könnten wir dagegen tun?“

      Hillas verdrecktes Leinenkleidchen wehte in der morgendlichen Brise. Roren sagte: „Ich weiß es nicht.“

      Am späten Nachmittag verkündete einer der Männer, die an der Spitze der Kolonne marschierten, dass sie etwas gefunden hätten. Verlassene Karren und umgeknickte Zweige.

      „Andere Flüchtlinge?“, fragte Roren, als der Mann an ihm vorbeilief, um die Nachzügler davon zu unterrichten.

      „Ja.“ Der Mann musterte Hilla, die ihn mit großen Augen anstarrte. „Die Kleine sollte besser hierbleiben.“

      „Ist es mein Bruder?“, fragte Ariane.

      „Das weiß ich nicht“, sagte der Mann und ging.

      Bevor Roren etwas entgegnen konnte, lief seine Frau davon. „Ariane, warte!“ Aber sie blieb nicht stehen. Roren