Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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       Mein Fürst,

       Willet ist nicht mehr. Ich kann die Flammen von der Burg aus sehen. Die Stadt brennt. Die Häuser, die Linden, die Menschen. Der Wind trägt ihre Schmerzensschreie bis zu meinem Arbeitszimmer. Die Angreifer kamen aus den Schatten, mitten in der Nacht. Sie hatten die meisten Stadtwachen getötet, bevor wir bemerkten, was geschah. Es sind Etarianer. Wir wissen nicht, warum sie uns angreifen oder was sie von uns wollen. Wir haben uns in der Burg verschanzt. Nur wenige Wachen haben es aus der Stadt geschafft, von den Bewohnern ganz zu schweigen. Unsere Bogenschützen schießen auf die Echsen, doch ob dies etwas bewirkt, das weiß nur der Große Richter. Wir versuchen, durchzuhalten, aber ich befürchte, wir werden den Morgen nicht erleben. Die Angreifer sind zahlreich, und die Überraschung war zu lange auf ihrer Seite.

       Die Echsen klettern mit bloßen Händen die Mauern hoch. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Männer sind von Angst erfüllt. Ich verstehe das nur zu gut. Ich schreibe diese Zeilen in großer Eile, verzeiht mir die krakelige Handschrift. Wir wollen in die Verliese. Die Gänge sind eng und wir hoffen, dort ein paar Schuppige mit uns in den Tod zu reißen.

       Die Männer, die es aus der Stadt geschafft haben, berichteten von einer schwarzen Echse, die Dutzende unserer Wachen erschlagen hat. Anscheinend kommen die Angreifer aus dem Süden, nicht aus Etovernem. Wir wissen nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber die schwarze Echse scheint der Anführer der Angreifer zu sein. Ich hoffe, dass Euch diese Informationen weiterhelfen werden. Ich muss Euch warnen. Falls die Echsen die Burg einnehmen, werden sie Hinweise auf Euren Verbleib finden. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Austadt ihr nächstes Ziel sein wird, wenn sie mit uns fertig sind. Ich habe wichtige Dokumente verbrannt, aber ich werde es nicht schaffen, alle zu vernichten. Es tut mir leid.

       Die Männer sind bereit für das letzte Gefecht und ich schätze, ich muss es auch sein. Das Kämpfen war noch nie meine Stärke. Aber ich habe keine Wahl. Ich hoffe inständig, dass Euch diese Taube erreichen wird; und wenn sie es tut, werdet Ihr wissen, dass wir bis zum letzten Mann gekämpft haben und als Verteidiger unseres Landes gestorben sind. Der Abyssus wartet. Wir werden fallen, für unsere Heimat, für unseren Fürsten und für seinen tapferen Sohn und Erben, dem Stolz des Fürstentums Rygmoor; und wir werden es mit einem Lächeln tun.

       Ich bete, Euch im Nachleben erneut zu Diensten sein zu dürfen,

       Euer ergebener Stadtvogt

      Die Luft im Verlies war kalt. Es stank nach Kot und dem Qualm der Fackeln. Der Schein der Flammen erhellte die Gitter von Xaviins Zelle, die Saoanas Sicht auf den Etarianer wie dicke, schwarze Speere verdeckten. „Ich brauche Eure Hilfe“, sagte sie.

      „Ihr solltet nicht hier unten sein“, sagte Xaviin.

      „Bitte, es ist wichtig.“

      Schatten tanzten im Licht der Fackeln, flackerten an der Wand vor Xaviin. In der Ferne tröpfelte Wasser von der Decke. „Was kann ich hier unten groß ausrichten?“ Seine Stimme war schwach, er flüsterte fast.

      Saoana hatte Mitleid. Niemand sollte in seinen eigenen Ausscheidungen hocken, mit Dunkelheit und Hungergefühl als einzige Begleiter. „Es kam eine Nachricht aus dem Fürstentum Rygmoor.“ Xaviin sagte nichts, sah sie nicht einmal an. Saoana sagte: „Willet wurde angegriffen und zerstört. Von Etarianern.“

      Xaviins Augen weiteten sich. „Wie bitte?“

      „Ja, es ist die Wahrheit. Und nicht nur das …“

      Xaviin stand auf und trat ans Gitter. Sein Gesicht befand sich genau vor ihrem. Saoana konnte seine Schuppen im Licht der Fackeln glänzen sehen, roch die Gefangenschaft, die an ihm haftete. Der Geruch von Kot, Urin und ungewaschener Haut. „Was noch? Sagt es!“

      „Ihr Anführer hat schwarze Schuppen.“

      Xaviin schnaubte. „Das kann nicht sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Unmöglich.“

      „Wenn das Euer Bruder sein sollte …“

      „Niemals, nicht Atoz. Er würde niemals grundlos Menschen abschlachten. Nein, nicht er.“

      „Ich glaube Euch. Ihr seid ein aufrichtiger Etarianer und Euer Bruder wird es auch sein, da bin ich sicher. Deshalb komme ich zu Euch.“ Sie zog ein leeres Blatt Papier und eine Schreibfeder aus den Taschen ihres Gewands. „Ihr müsst einen Brief für mich schreiben.“

      „Warum? An wen?“

      „An Euren Obergeneral. Schreibt ihm, dass Etarianer grundlos morden. Verlangt Aufklärung.“ Saoanas Stimme war fordernd und bestimmt.

      Xaviin zeigte seine spitzen Zähne, während er lachte. Kehlig und rau. „So kenne ich Euch gar nicht. Habt Ihr keine Angst, mit dem Feind zusammenzuarbeiten? Was wird Euer Vater dazu sagen?“

      „Meinem Vater wird es nicht gefallen, Etarianer in der Stadt zu haben, egal aus welchem Grund. Er wird wütend auf mich sein, mich anschreien und sagen, ich hätte ihn verraten, aber was, wenn wir als Nächstes dran sind? Ähnlich enden wie Willet? Ist es nicht meine Pflicht, die Stadt zu beschützen, so gut ich kann?“

      Der Etarianer schwieg und überlegte, fragte dann: „Warum sollte ich Euch helfen?“

      Saoana zog einen Kerkerschlüssel aus ihrem Gewand, den sie aus der Wachstube entwendet hatte. „Schreibt den Brief, dann lasse ich Euch frei.“

      Sie sahen sich lange in die Augen, und gerade als Saoana befürchtete, er würde ihre Bitte abschlagen, nickte er.

      Die Tür quietschte, als Saoana sie öffnete. Xaviin nahm das Papier und sagte: „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Eines muss Euch jedoch klar sein, meine Dame. Es wird dauern, bis der Generalstab eine Entscheidung hierbei fällt. Vermutlich zu lange … und es besteht die Möglichkeit, dass sie gar nichts unternehmen.“

      „Trotzdem muss ich es versuchen. Was ist mit meinen Eltern und mit Juana? Was wird aus der Stadt? Wenn ich hier rumsitze und nichts tue, dann bin ich nicht besser als diejenigen, die Krieg herbeisehnen. Vielleicht können wir ihn abwenden, indem wir diesen Brief schreiben. Wir könnten Blutvergießen verhindern.“

      Sie war sicher, dass ihr Vater den Angriff auf Willet ausnutzen würde, um die anderen Fürsten gegen die Echsen aufzuhetzen. Saoana wollte Tiogan vor einem Fehler bewahren, auch wenn das bedeutete, seinen Zorn erdulden zu müssen. Angst trieb sie an, eine Angst, die sie seit der Nachricht aus Rygmoor nicht losließ. Wenn es erneut zu einem Krieg käme, würden sich die Echsen nicht damit zufriedengeben, Verbote aufzustellen. Nicht erneut. Diesmal würden sie Blut mit Blut vergelten; und für Tiogan und die anderen Fürsten gäbe es keine Gnade. In Gedanken sah Saoana ihren Vater im Wüstensand liegen. Ein Schwert steckte in seiner Brust und Geier kreisten über seiner Leiche.

      Kriegsrat

      Es war tiefste Nacht. Tiogan saß in seinem Bett und konnte nicht schlafen, obwohl er ständig gähnen musste und die Augenlider schwerer wurden. Fernora lag neben ihm. Sie trug ein dünnes Nachtkleid, atmete ruhig und regelmäßig und hatte die Augen geschlossen.

      Während Tiogan den Mond betrachtete, der das Schlafgemach in blasses Licht tauchte, dachte er an Albin, den Niedergang Willets und an den Kriegsrat, der am nächsten Tag stattfinden sollte. Tiogan versuchte, Worte zu finden, die ihm am morgigen Abend dienlich sein könnten; schließlich musste er die Fürsten von der Notwendigkeit eines Krieges überzeugen, ohne aufdringlich oder reißerisch zu wirken. In seinem Geiste hielt er die verschiedensten Reden. Mal sprach er langsam und emotionslos, mal brüllte er voller Wut und Leidenschaft. Das Ergebnis blieb dasselbe. Er konnte nicht alle Fürsten für sich gewinnen.

      Der alte Kabalos schimpfte ihn einen Wahnsinnigen, und Fürst Qubertín, der die anderen Fürsten seit seiner Kindheit verabscheute, schüttelte mit dem Kopf und nannte das Kriegsvorhaben sinnlos. Unter anderen Umständen wären Tiogan die Meinungen der meisten Fürsten gleich, doch er wollte gegen die Etarianer ziehen, solange der Flüchtlingsstrom sie