Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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dann sehe ich meine Tochter … Soll meine Saoana so weiterleben? Ohne freie Entfaltung? Ein Dasein in Knechtschaft? Krieg ist notwendig, um frei zu sein, um eine Zukunft für unsere Kinder zu schaffen, in der sie die Unterdrückung durch die Schuppigen nicht fürchten brauchen. Wir werden langsam von etarianischer Herrschaft erstickt. Ihre Verbote vernichten uns. Keine Rechte, keine Kunst, keine Macht. Wir unterwerfen uns den Echsen, beugen uns ihren Verträgen und Gesetzen und horrenden Handelssteuern. Das muss enden. Unsere Kultur, die verschwindet von Tag zu Tag. Vernland sollte ein Königreich sein, keine etarianische Kolonie. Um aufatmen und unseren Blick wieder auf die Menschheit richten zu können, müssen wir uns von den Echsen lösen. Ein Zusammenleben ist nicht möglich, denn die Schuppigen dulden keine Gleichgestellten. Ein Ende muss kommen, meine Brüder, entweder auf die eine oder andere Weise. Die Menschheit steht an einem Scheideweg, und es liegt an uns, eine Richtung zu wählen.“

      In seinem stillen Arbeitszimmer wusste Tiogan, dass er gegen die Echsen nicht gewinnen könnte. Wenn er in den Krieg zöge, würde er im Wüstensand den Tod finden, allein und voller Reue. Seine Familie würde um ihn trauern, Tränen vor einem prunkvollen Grab vergießen, bis die Trauer mit den Jahren verschwände und der Name Tiogan Aureld in Vergessenheit geriete. Diese Rede, sie hätte dieses Schicksal verhindern können. Aber Tiogan hatte es nicht übers Herz gebracht, sie vor den Fürsten zu halten. Es war das, was die anderen hören wollten, nicht das, was Tiogan wirklich dazu bewegte, in den Norden zu ziehen; und das würden die Fürsten bemerken. Sie würden die Lügen in seiner Stimme hören, die Trauer, die Rachegelüste. Einer nach dem anderen würde sich erheben und gehen, sogar Albin. Sie würden ihn als schwach bezeichnen, als verweichlicht und unaufrichtig; und dann wäre Tiogan allein auf dieser Welt. Dann blieben seine Rachepläne die Träume eines verbitterten Greises.

      Tiogan stellte sich kurze rote Haare und ein jugendliches Lächeln vor. Voller Vorfreude auf die erste Schlacht an der Seite eines liebenden Vaters. Dann sah Tiogan die graue Echse, das Blut, das Grinsen, die gezackte Sonne, die auf einem großen Banner im Wind flatterte.

      „Mein Fürst, etwas Schreckliches ist geschehen! Kommt schnell!“ Jemand klopfte an die Tür und riss Tiogan aus seinen Gedanken.

      Tiogan sagte: „Zugleich, zugleich.“ Er wischte sich eine Träne von der Wange. Er öffnete die Tür und blickte in das jugendliche Gesicht einer Stadtwache. „Was gibt es denn zu so später Stunde?“

      Die Wache sagte: „Ihr müsst kommen … vor dem Burgtor … es ist schrecklich.“

      „So sagt mir doch einfach, was passiert ist.“

      „Es ist besser, wenn Ihr es seht, mein Herr.“

      Sie eilten über den Burghof. Ihre Schritte hallten von den Steinen wider, wirkten in der Stille ungewöhnlich laut. Der Mond hing über der Burg wie ein blasses Gesicht, ein stummer Zeuge in dieser milden Hochsommernacht. Die Flaggen Aurelds wehten in der Brise langsam hin und her.

      Juana stand vor dem Burgtor. Sie trug ein Nachthemd, hielt ihre Hände vor den Mund und starrte Richtung Zinnen. Das behagte Tiogan ganz und gar nicht. In der Dunkelheit unter dem Torbogen, der zur Stadt führte, begann Tiogan zu schwitzen. Seine Hände wurden feucht und er hörte seinen Atem. Sein Herz raste.

      Als Tiogan vor der Burg stand, erkannte er, dass Juana weinte. „Was ist denn los?“, fragte er.

      Die Zofe deutete auf die Burgmauer. Ein Körper hing neben dem Tor. Der Mond stand über der Leiche, erhellte sie. Es war die Leiche eines Mannes, klein, alt, vertraut. Eine Schlinge schnürte ihm den Hals zu. Das Gesicht war angeschwollen. Jemand hatte ihn erhängt.

      „Holt ihn da runter“, flüsterte Tiogan. „Beim Abyssus, holt ihn bitte da runter.“

      Die Leiche Albin Rygmoors lag auf dem Wehrgang. Einige Stadtwachen hatten ihn hochgezogen. Tiogan blickte in das Gesicht seines alten Freundes, ein Gesicht, das einst voller Freude, Zorn und Trauer gewesen war. Es blieb ein glasiges Glotzen und eine verzerrte, blau angelaufene Fratze. Tiogan wusste nicht, was er sagen sollte, ob es überhaupt etwas zu sagen gab. Die Stadtwachen durchsuchten die Leiche, Tiogan stand regungslos daneben.

      „Die Zofe Eurer Tochter hat ihn gefunden“, sagte eine junge Stadtwache. „Sagt, sie war spazieren, weil sie nicht schlafen konnte, und da hat sie einen Schrei und ein Knacken gehört. Sie konnte jedoch niemanden erkennen. Es ging wohl sehr schnell.“

      Eine andere Stadtwache durchsuchte die Leiche, dann erhob sich der Mann und sagte: „Seine Hände sind gefesselt und er hat tiefe Schnittwunden an den Fersen. Er konnte nicht laufen, seinem Peiniger nicht entkommen. Der Mörder hat den Strick um die Zinnen gebunden und den Fürsten hinuntergeworfen. Sein Genick ist gebrochen. Er war sofort tot.“

      „Wer … wer tut sowas?“, fragte Tiogan. Seine Stimme klang seltsam ruhig.

      „Der Mörder muss sehr kräftig gewesen sein. Fürst Rygmoor ist … war nicht gerade dünn. Und noch etwas.“ Die Stadtwache hielt ein kleines Stück Papier in der Hand. „Das hatte der Fürst in der Tasche.“

      Tiogan nahm den Zettel. Seine Hände zitterten, während er las.

       Ich habe Fürst Rygmoor gerettet. Er ist endlich frei von jeglichem Kummer, frei von Rachegelüsten. Die anderen Fürsten werden ihm schon bald folgen, ebenfalls frei und ohne Sorge sein. Keine Kriege, keine Trauer. Und dann wird die Sonne Etasias heller erstrahlen als jemals zuvor.

       In freudiger Erwartung, die nächste Seele zu befreien,

       Ein Freund

      Kronenwald

      Roren und die anderen Flüchtlinge hatten Rygmoor hinter sich gelassen, marschierten nun durch das Fürstentum Aureld. Die dichten Wälder des Südens wichen hohem Gras und Gänseblümchen. Sattgrüne Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont, gelegentlich durchbrochen vom Gold abgeernteter Getreidefelder. Die Morgenluft war frisch und die Sonne warm.

      Ariane sprach kaum, seitdem sie auf ihren toten Bruder gestoßen war. Sie blickte in die Ferne, machte einen Schritt nach dem anderen, ohne zu lächeln, ohne zu weinen. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, was auch geschah. Als bestünde ihre Miene aus Stein. Roren hoffte, es wäre nur vorübergehend. Tiefe Trauer, die mit jedem Tag ein wenig abklingen würde. Doch die Tage zogen dahin; und als aus Tagen Wochen wurden, setzte die Gewissheit ein, dass sich nichts verändern würde.

      „Hast du gut geschlafen?“, fragte Roren seine Frau.

      „Ja.“

      Hilla saß auf einem Karren. Während der Esel sie weiterzog, beobachtete Hilla die Grashalme neben dem Feldweg. In letzter Zeit aß sie kaum noch, war blass und abgemagert. Wenn Roren mit ihr sprach, äußerte sie jedes Mal den Wunsch, nach Seros zurückzukehren. Ein Zuhause, das es nicht mehr gab. Roren wollte sie nicht so traurig sehen, voller Heimweh und Kummer, das konnte er nicht ertragen. Also log er sie an, erzählte ihr, dass sie bald heimkehren und nicht lang im Norden bleiben würden. Er fühlte sich unwohl dabei. Als wäre er ein schlechter Vater. Bald sprach Roren nur das Nötigste und versuchte, ihr durch bloße Anwesenheit Trost zu spenden.

      „Hilla, hast du Hunger?“, fragte er. Diese Frage stellte er täglich, obwohl er die Antwort kannte.

      „Nein.“

      „Liebster, wie geht es deinem Arm?“, fragte Ariane. „Immer noch Schmerzen?“

      „Nein, juckt nur ein bisschen“, sagte Roren. In Wahrheit schmerzte die Hand so sehr, dass er kaum schlafen konnte. Zuweilen glaubte er, seine Finger zu spüren. Dann wackelte er mit ihnen, ballte sie zur Faust. Wenn er dann auf den Stumpf blickte, war ihm nach Weinen zumute. Da waren keine Finger, nur eine rötliche Wunde, die pochte und juckte und brannte. Roren kratzte häufig am Stumpf, hoffte, dass das Jucken verschwände. Doch es blieb und Roren kratzte, bis die Wunde wieder aufging. Die Schmerzen in der fehlenden Hand waren mit der Zeit stärker geworden. Wie konnte etwas, das fort war, so sehr schmerzen? Es gab Tage, an denen Blut aus dem Stumpf tropfte.

      „Verstehe“, sagte Ariane. „Schön,