Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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Fanatiker, kaum besser als Barbaren. Sie glauben an einen Gott in Gestalt eines Greises. Sie bauen keine Schiffe und fahren nicht zur See, weil sie glauben, ihr Gott lebe auf dem Meeresgrund und befehlige Wale, die jeden verschlucken, der sein Reich überquere.“ Einige Etarianer lachten, die meisten lauschten regungslos, die Hände in den Taschen ihrer Gewänder vergraben. „Aber sagt mir eines, Brüder und Schwestern“, sagte der Redner, „wenn ihr Glaube wahr sein sollte, warum sind wir dann hier? Wie konnten wir das Meer überqueren? Die Menschen glauben an ein Märchen und sind auch noch stolz darauf. Und die Grauen sind auch nur ein Märchen, ein Vorwand, damit die Menschen unsere Stadt überrennen und einen neuen Krieg beginnen können.“ Etarianer stimmten zu, tauschten Blicke aus, tuschelten.

      „Er hetzt sie gegen die Menschen auf“, sagte Atoz. „Sollten wir nicht etwas dagegen unternehmen?“ Er wollte den Hass in der Stimme des Redners nicht mehr hören, nicht zulassen, dass er andere mit dieser Verachtung ansteckte. Den Menschen erging es schon schlecht genug. Sie hockten im Sand vor dem Stadttor, ohne Nahrung und Wasser. Sie hatten keine Zelte, waren der Hitze am Tage und den bitterkalten Wüstennächten schutzlos ausgeliefert. Atoz hatte gesehen, wie sich frierende Kinder des Nachts an ihre Mütter kauerten. Seit diesem Anblick mied er die Mauer, patrouillierte lieber durch die Stadt.

      „Was willst du denn dagegen machen?“, fragte Gaitaan. „Du kannst ihm nicht verbieten, seine Meinung kundzutun. Solange er nicht gegen unsere Generäle hetzt, tut er nichts Unerlaubtes.“ Gaitaan verfolgte gelangweilt das Geschehen; die Rede des Grüngeschuppten schien ihn nicht zu interessieren.

      Der Redner sagte: „Eines ist gewiss, meine Freunde. Wenn wir die Menschen in die Stadt ließen, sie würden nichts unversucht lassen, um uns zu schaden. Sie wollen unser Gold und unsere Waren. Sie wollen in unseren Häusern schlafen, während wir in den Gassen verhungern, denn sie halten uns für Tiere. Und was machen diese Wilden mit Tieren?“, fragte er die Menge.

      „Sie essen sie“, rief eine Etarianerin.

      „Ganz genau. Diese Wilden werden versuchen, uns zu fressen. Sie wollen unser Fleisch braten und unsere Knochen in ihre Suppen legen, denn sie lieben den Geschmack des Todes.“

      „Widerlich.“

      „Barbaren.“

      „Ich will nicht, dass sie meine Kinder fressen.“

      Der Redner hob die Hände, die Menge verstummte. „Wisst ihr, was das Schlimmste ist? Sie verachten unsere Nation. Sie wollen unsere Kultur verdrängen und durch ihre eigene ersetzen. Sie werden uns alles nehmen, was uns wichtig ist. Unsere Helden, unsere Generäle, sogar unseren Superiorius. Sie würden ihre schändlichen Heiligtümer errichten und uns durch die Straßen jagen wie Vieh. Straßen, die wir eigenhändig errichtet haben, mit Blut und Muskelkraft. Meine Freunde, das dürfen wir nicht zulassen. Helft den Menschen nicht, gebt ihnen keine Nahrung und kein Wasser, auf dass nicht noch mehr von denen kommen, um unser Stadttor zu belagern. Schützt unsere Heimat und unsere Nation, unsere Kinder und Kindeskinder. Dann werden wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.“ Der Redner sprang von der Kiste, die Menge applaudierte, einige Etarianer jubelten sogar.

      „Können wir jetzt weitergehen?“, fragte Gaitaan. „Wir sind nicht hier, um Reden zu lauschen.“

      Atoz sagte: „Ja, lass uns gehen.“ Er beobachtete den Redner. Etarianer klopften ihm auf die Schulter, schüttelten ihm lächelnd die Hand. Bei dem Anblick verspürte Atoz ein flaues Gefühl in der Magengegend. Es war Wut.

      Gemeinsam mit Gaitaan ging er durch die Gassen Etovernems. Sie grüßten Wachen und Händler, wechselten ein paar Worte mit Passanten. Atoz‘ Gedanken kreisten noch um den Redner, die jubelnde Menge, den Anblick hungernder Menschen in der Wüste. „Worüber grübelst du schon wieder?“, fragte Gaitaan.

      Atoz sah Gaitaan nicht an. „Es ist nichts.“

      Stahl klirrte in der Ferne, Rauchfahnen zogen sich über den blauen Himmel. Das Schmiedeviertel war nah. Neben einem Brunnen spielten etarianische Kinder mit Holzschwertern. Sie lagen auf dem Boden, suhlten sich im Sand. Einige riefen den Namen des Obergenerals und prügelten mit den Schwertern auf ihre Freunde ein, die um Gnade flehten. Sie stellten den Glaubenskrieg nach. Atoz fragte: „Hast du mit einigen Soldaten reden können, wegen … du weißt schon?“

      „Meinst du die Suche nach ihm?“ Gaitaan sah sich um und musterte argwöhnisch einige Wachen, die sich in der Nähe unterhielten. „Es gibt tatsächlich Neuigkeiten. Wir reden heute Abend darüber, wenn wir ungestört sind.“

      „In Ordnung, wir könnten uns bei mir treffen.“

      Gaitaan grinste. „Dann kann meine Schwester mir endlich wieder was kochen. Ihr Fennah-Kraut ist vorzüglich.“

      Atoz erwiderte das Grinsen. „Ich werde es ihr ausrichten.“

      Dann wurde Gaitaans Miene ernst. „Hör mal, würde es dir etwas ausmachen, wenn du alleine weiterpatrouillierst? Ich muss noch ein paar Besorgungen machen.“

      „Was für Besorgungen? Ist es wichtig? Ich könnte dich doch einfach begleiten.“

      Gaitaan lächelte wieder. Diesmal jedoch ohne Freude, so wie jemand lächelte, dem etwas peinlich war. „Nein, ich komme schon zurecht. Wir sehen uns dann heute Abend.“ Er klopfte zum Abschied gegen Atoz‘ Brustpanzer, dann ging er.

      Atoz sah ihm nach, bis er in eine Gasse einbog und verschwand. In der Ferne ragte der Sonnenturm in den Himmel. Seine Spitze glänzte so grell, dass Atoz‘ Augen schmerzten.

      Zana stand vor der Feuerstelle und kochte Fennah-Kraut. Es erfüllte Atoz‘ Haus mit seinem Duft, ein Hauch von Gras gepaart mit Honig. Zana nahm einen Holzlöffel und rührte im Kessel herum. Sie sah ihrem Bruder sehr ähnlich, hatte blaue Augen und hellgelbe Schuppen. Die Farbe des Wüstensandes.

      Atoz saß am Tisch. Er trug ein Leinenhemd - er besaß nur eines - und war froh, die heiße Rüstung los zu sein. Er hatte das Gefühl, unbeschwerter atmen zu können.

      Hinter Atoz hingen Wandteppiche. Zana war Schneiderin, webte täglich Leinenhemden und Banner und Teppiche. Letztere brachte sie manchmal mit nach Hause, hängte sie freudestrahlend an die Wände. Sie wolle Farbe in das Haus bringen, pflegte Zana zu sagen. Die meisten Teppiche zeigten die gezackte Sonne, eingestickt mit goldenem Garn. Ansonsten war Atoz‘ Zuhause schmucklos. Er lebte nahe der Innenstadt, wo die Häuser am größten und schönsten waren; doch Atoz war kaum daheim, und er scherte sich nicht um Prunk und hübsche Dekorationen.

      „Das Kraut ist gleich fertig“, sagte Zana. Wasser blubberte im Kessel.

      Atoz sah aus dem Fenster. Zum Abendhimmel und der langsam wandernden Sonne. „Dein Bruder kommt spät“, sagte er.

      Zana drehte sich zu ihm. „Das ist gar nicht seine Art. Wo bleibt er denn so lange?“

      „Er wollte Besorgungen machen.“

      „Was denn für Besorgungen?“

      „Hat er nicht gesagt.“

      Zana brummte nachdenklich und wandte sich wieder dem Kessel zu. „Hoffentlich kommt er, bevor das Kraut kalt wird.“

      Während Zana den Tisch deckte, bemerkte Atoz, dass ein Amulett um ihren Hals baumelte. Es hatte die Form der gezackten Sonne. „Hat Gaitaan dir das geschenkt?“, fragte er.

      Zana berührte das Amulett und blickte schüchtern auf den Tisch. „Ja, es ist hübsch, nicht? Gefällt es dir?“

      „Lass mal sehen.“ Sie kam näher, beugte sich zu ihm herunter, sodass das Amulett genau vor seinen Augen hing. Atoz nahm es in die Hand, befühlte die glatte Oberfläche und die spitzen Zacken. Während er das tat, spürte er Zanas warmen Atem auf seinen Schuppen und vernahm den Duft ihres Körpers. Zana roch nach Zimt. „Ich finde es sehr schön“, sagte Atoz.

      „Das freut mich. Vielleicht trage ich das Amulett heute Nacht … nur das Amulett.“ Sie sah ihm tief in die Augen, streichelte über seine Wange und ging zurück zur Feuerstelle. Zanas Geruch blieb.

      Als die Sonne am Horizont verschwand,