Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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die kleinen Wellen auf der Wasseroberfläche. „Vielleicht. Aber es könnte sein.“

      „Wie lange sind wir schon unterwegs? Vier Wochen? Und du glaubst, diese Echsen verfolgen uns noch immer? Das ist recht unwahrscheinlich, findest du nicht?“

      Er wusste, dass sie recht haben musste. Und doch blieb eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass ihnen jemand auflauerte; und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto nervöser wurde Roren. Sie waren so weit gekommen. Was, wenn ihnen doch noch etwas zustieße? Wenn die Echse sie erwischte?

      „Warum geben wir nicht einfach auf?“, fragte Ariane.

      „Hm?“

      „Ja, warum bleiben wir nicht einfach hier, blicken auf den See hinaus und warten, bis es endgültig vorbei ist? Weitere drei Wochen der Flucht ins Ungewisse, ich glaube nicht, dass ich das durchhalte. Und Hilla? Sieh sie dir an. Unsere Kleine leidet. Warum warten wir nicht einfach auf den Tod? Keine Angst mehr, keine Sorgen, keine Schmerzen.“

      Das Wasser schwappte ans Ufer, floss dann wieder zurück. Roren klopfte Dreck von seinen durchgetretenen Stiefeln. „Sterben sagst du? Ich habe bereits ins Antlitz des Todes geblickt.“ Er hob seinen rechten Arm. Heute blutete der Stumpf nicht. „Und da ist nichts. Kein Großer Richter, kein helles Licht, kein Nachleben. Nur die Dunkelheit.“

      Ariane musterte ihn besorgt. Roren sagte: „Wir haben nur ein Leben, und das werde ich nicht wegwerfen, weil ich Angst oder Schmerzen habe. Denk an Hilla. Wir müssen es in den Norden schaffen. Für sie. Ich will sehen, wie sie zur Frau wird, uns Enkelkinder schenkt. Willst du das nicht auch? Aber dazu brauchen wir eine neue Heimat. Wir müssen weiter. Und vielleicht kennen die Etarianer ein Heilmittel für ihre Krankheit. Ja, das kann doch sein. Wir dürfen nicht aufgeben, solange diese Möglichkeit besteht.“

      Ariane legte sich auf die Kieselsteine, streckte alle viere von sich. „Wenn es nur nicht so schwer wäre, sich jeden Tag aufzuraffen.“

      „Was ist schon einfach?“, fragte Roren und legte sich neben sie.

      „Tut mir leid“, sagte sie.

      „Was meinst du?“

      „Das mit dem Sterben, das hätte ich nicht sagen sollen.“

      „Schon gut.“

      Der Wind wurde stärker, Wolken zogen vorbei. „Erinnerst du dich daran, wie Hilla fast im Fluss hinter unserem Haus ertrunken wäre?“, fragte Ariane.

      „Natürlich. Sie war vier Jahre alt. Wir haben sie danach nie wieder alleine spielen lassen.“

      „Sie war ein echter Wildfang, bevor …“

      „Das wird sie wieder werden. Ganz bestimmt. Diese Krankheit … es muss eine Heilung geben, da glaub ich ganz fest dran.“

      Ariane sah ihm in die Augen und er in ihre. Sie sagte: „Ich liebe dich.“

      Sie legte sich langsam und zärtlich auf ihn, küsste ihn. Er vernahm ihren Duft und erinnerte sich an das Dorffest, damals vor neun Jahren, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Roren erinnerte sich an das Gefühl von Liebe und Geborgenheit, das ihm vorher unbekannt war. Ariane küsste seinen Hals. Roren spürte ihren warmen Atem und ihre feuchten Lippen. Sein Glied wurde steif. Er streichelte über Arianes Rücken, berührte ihre weiche Haut. Seine Zunge spielte mit ihrer, dann hob sie den Kopf.

      „Ich kann nicht“, sagte sie. „Nicht hier, nicht jetzt.“

      „Ich weiß.“

      „Vielleicht in Etovernem.“

      „Sicher.“

      „Es kommt mir nur so falsch vor, weißt du? So viele sind gestorben. Mein Bruder, unsere Freunde. Ich mache mir Sorgen, jeden Tag. Was wird aus Hilla, was wird aus uns? Ich denke viel nach, schlafe schlecht. Ich … ich kann dich nicht einfach küssen und lieben und alles verdrängen. So gern ich das auch täte. Es tut mir leid.“

      „Brauchst dich nicht entschuldigen.“

      Sie stand auf und sagte: „Ich geh zu unserer Tochter, ja? Kommst du gleich?“

      „Ja, ich komme nach.“

      „Versprichst du mir, dass du heute keine Wache übernimmst?“

      „Ich verspreche es.“

      Ariane lächelte und ging. Ihre Schritte wurden leiser, während Roren in den Himmel starrte. Die Kieselsteine drückten gegen seinen Rücken, der zu schmerzen begann. Seine rechte Hand juckte wieder. Die Wolken über dem See wurden dunkler und zahlreicher. Der Wind nahm zu.

      Es regnete. Schwere Tropfen fielen vom Himmel und verwandelten den Waldboden in Matsch. Die Karren kamen nur langsam voran, blieben oft stecken. Die Stimmung der Flüchtlinge wurde schlechter. Bis Einbruch der Nacht kämpften sie sich durch den Kronenwald, konnten ihn jedoch nicht durchqueren, bevor die einsetzende Dunkelheit ein Vorankommen unmöglich machte.

      Unter einer großen Buche schlief Roren ein. Es war ein kurzer, unruhiger Schlaf. Er träumte wieder von dem schwarzen Etarianer und seinen goldenen Augen. Augen, die boshaft waren. Diesmal hielt die Echse Arianes Kopf in der Hand. Ihre Haut war grau, ihr Mund blau. Roren erwachte.

      Der Wind fegte durch die Bäume und in der Ferne grollte Donner. Blitze zuckten über den Nachthimmel, erhellten den Kronenwald. Der Regen war stärker geworden und prasselte auf die Schlafenden nieder. Ihre Gesichter glänzten im schwachen Schein des Lagerfeuers, das vor ihnen brannte. Ein Mann saß vor den Flammen. Roren konnte ihn nicht erkennen. Langsam stand er auf und näherte sich der Wärme des Feuers.

      Als er Feronins Gesicht erblickte, sagte Roren: „Guten Abend.“

      Feronin fragte: „Du schon wieder? Schläfst du überhaupt mal?“

      „Bin grad aufgewacht.“ Er legte die Stirn in Falten. „Und du? Du hast doch gestern schon die Wache übernommen. Heute wieder?“

      „Nein, eigentlich nicht. Hab Ogwen abgewechselt. Bei dem Mistwetter kann ich nicht schlafen. Verflucht, ich frage mich, wie man da überhaupt ein Auge zukriegen kann.“

      „War ein langer Tag, alle sind erschöpft.“

      „Trotzdem. Ständig Wasser im Gesicht, das kann doch keiner ertragen.“

      Roren setzte sich ans Feuer, wärmte sich die Hand. Die Regentropfen verdampften in der Hitze. Feronins Beil steckte in der Erde neben ihm. „Soll dich das alte Teil beschützen?“, fragte Roren.

      „Besser als mit den Fäusten zu kämpfen.“

      „Erwartest du denn einen Angriff?“

      Feronin sah sich um. „Weiß nicht, Wälder sind mir nicht geheuer. Zu viele Tiere und sonst was alles. Nie weiß man, was hinter dem nächsten Baumstamm lauert.“

      „Ja, da hast du recht, das weiß man nie.“

      „Wie geht es Ariane?“

      „Gut.“

      „Das ist schön.“ Er nickte. „Wirklich schön.“ Feronin zeigte auf Rorens rechten Arm. „Sag, womit kämpfst du, falls es nötig sein sollte?“

      Roren spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Dieses abwertende Verhalten machte ihn rasend, er konnte nichts dagegen tun. Ein Ziehen in der Magengegend, das durch den ganzen Körper wanderte. Er spannte seine Muskeln an, ballte die Faust. „Ich …“

      Feronin hob eine Hand. „Hörst du das?“

      Roren erstarrte. „Was?“

      „Das Geräusch.“

      „Was für ein Geräusch? Das ist nur der Wind.“

      „Der Wind ist nicht stark genug, um Äste knacken zu lassen.“

      Sie schwiegen und lauschten den Geräuschen der Umgebung. Das Donnergrollen, der Wind, das Schnarchen der Schlafenden. Nach einigen Augenblicken zuckte Feronin mit den Schultern, sagte: „Hab mich wohl geirrt.“