Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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„Ah, da steht es. Bei Anerkennung ihrer uneingeschränkten Überlegenheit verpflichtet sich die etarianische Nation, den Frieden in Vernland zu wahren und das Reich der Menschen vor jedweden Gefahren zu schützen.“ Er sah auf und lächelte. Atoz fragte sich, was er mit dieser Zurschaustellung zu bezwecken versuchte. Muutuq kannte den Vertrag auswendig; er hatte ihn verfasst. Dann verschwand das Lächeln und Muutuq sagte: „Ich werde das Stadttor öffnen lassen. Wir werden sicher eine passende Unterkunft für die Flüchtlinge finden.“

      Atoz neigte sich nach vorne. Er musste sich verhört haben. „Verstehe ich das richtig? Du willst sie tatsächlich in die Stadt lassen?“

      Muutuq lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. „Was du neulich gesagt hast, über Etarianer und das Ehren von Verträgen, das hat mir zu denken gegeben. Du hast recht, wir sollten uns an das Vereinbarte halten. Und wenn die Etarianer die Menschen sehen, wie sie in Lumpen über die Straßen schleichen und um Brot betteln, dann werden sie erkennen, dass unsere Nation nichts zu befürchten hat. Dass die Menschen nur Bettler sind, armselig und harmlos.“

      „Das ist alles?“ Es musste einen Haken geben, den gab es immer.

      „Was sollte ich sonst noch für Gründe haben?“ Während er das sagte, schmunzelte Muutuq. Wie jemand, der ein Geheimnis hinter einem falschen Lächeln zu verbergen suchte. „Geh jetzt bitte, ich muss noch einige Dokumente aufsetzen.“

      Atoz stand auf und ging zur Tür. Er wollte sie öffnen, als der Obergeneral auf den Tisch schlug. „Fast hätten wir das Wichtigste vergessen“, sagte er. „Die Strafe für dein Vorhaben, Etovernem zu verlassen und einen Verbrecher zu suchen.“

      Atoz drehte sich um, blickte in die himmelblauen Augen des Obergenerals und fragte: „Was soll ich tun?“

      „Du wirst morgen in die Arena gehen und die Deserteure aus Iogunhafen hinrichten, hörst du? Sonst werde ich dafür sorgen, dass dir nichts anderes übrig bleibt, als dich deinen verbannten Freunden anzuschließen.“ Es lagen Strenge und Mitleid in seiner Stimme. Wie bei einem Vater, der seinen Sohn auf den rechten Weg zurücklenken wollte.

      Die Luft in den Katakomben war stickig. Feine Staubkörner schwebten im Licht, das durch ein kleines Fenster fiel. Atoz saß auf einer steinernen Bank und wartete. Er konnte das Tosen der Menge in der Arena hören. Stimmen, die zu einem einzigen Geräusch verschmolzen. Laut und eintönig. Im Halbdunkel stand eine Wache. Sie würde Atoz ein Zeichen geben, wenn die Hinrichtung anstünde.

      „Ist er da drin?“ Die Stimme einer Etarianerin erklang.

      Atoz erkannte sie sofort. „Ja, ich bin hier“, sagte er und seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider.

      Zana betrat den Raum. Sie sah besorgt aus und sagte: „Gaitaan hat mir gestanden, dass er dem Obergeneral von eurem Plan berichtet hat. Es tut mir so leid.“ Sie umarmten sich, aber Atoz konnte Zanas Wärme wegen seiner Rüstung nicht spüren. Zana küsste ihn. Er erwiderte den Kuss nicht, saß einfach stocksteif da.

      Sie legte ihre Hand auf seine und sagte: „Er hätte das nicht tun sollen, das machen gute Freunde nicht.“ Dann schwieg sie einen Augenblick, während die Menge jubelte. Als das Tosen verklang, fragte sie: „Sag, du wolltest die Stadt verlassen? Wärst du gegangen, ohne dich zu verabschieden? Hättest du mich allein zurückgelassen?“

      „Ich … nein, ich weiß es nicht.“

      Zana seufzte. „Dann bin ich froh, dass du nicht mehr gehen wirst.“ Sie küsste seine Wange, Atoz blickte auf seine stählernen Stiefel. „Wie geht es dir?“, fragte Zana.

      „Ich bin ein wenig nervös. Was machst du hier überhaupt?“

      „Darf ich meinen Helden nicht besuchen?“ Zana trug ihr Amulett der gezackten Sonne immer noch.

      Atoz sagte: „Du magst die Arena doch gar nicht.“

      „Ich möchte diese Schaukämpfe auch nicht sehen“, sagte sie. „Ich möchte trotzdem hier sein … für dich.“

      Das Johlen der Menge wurde lauter. Der Schaukampf musste zu Ende sein. Es war Tradition, dass die Absolventen der Militärschulen in der Arena ihre Fähigkeiten unter Beweis stellten. Es waren unspektakuläre Kämpfe von Anfängern, meist nicht gut besucht. Heute war die Arena voll. Dreißigtausend Etarianer waren gekommen, um Atoz und das Blut der Deserteure zu sehen.

      Die Wache räusperte sich. „Meister Atoz, es ist an der Zeit.“

      Atoz nickte und blickte in Zanas blauen Augen. „Wir sprechen, wenn ich nach Hause komme.“

      „Gerne. Ich koch dir was Schönes.“

      „Sicher.“ Sie lächelte, er küsste sie. Ihr Amulett klimperte, als es gegen seine Rüstung stieß.

      Atoz stieg die Stufen zur Arena hinauf, ging fort von der Finsternis der Katakomben und hinein in das Licht am Ende der Treppe. Die Stimmen wurden lauter, schwollen zu einem allumfassenden Jubel an. Atoz betrat den Sand des Kampfplatzes und Getöse brach aus.

      „Atoz, Atoz, Atoz.“ Seine Hand umschloss den Griff seines Schwertes. Es fühlte sich gut an, gab ihm Halt. Am anderen Ende der Arena befand sich die Ehrenloge. Die drei Generäle Etovernems sahen zufrieden auf ihren großen Krieger herab. Der Obergeneral saß über ihnen, wirkte angespannt. Banner der gezackten Sonne hingen schlaff von Fahnenmasten. Kein Wind wehte, keine Wolke in Sicht. Die Hitze war unerträglich, drückend und trocken. Atoz ging auf die Loge zu - blickte nicht nach links, nicht nach rechts -, und als er sie erreichte, verbeugte er sich. Der Obergeneral gab ein Zeichen.

      Das Eisengitter unter der rechten Tribüne wurde geöffnet. Drei Etarianer traten heraus. Lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet stolperten sie über den Sand. Sie waren abgemagert und das Licht schien sie zu blenden, so verengt waren ihre Augen. Graue Farbe bedeckte ihre Körper, vermischte sich mit Dreck und Sand. Zwei Wachen trieben sie vorwärts.

      Die Deserteure erreichten Atoz, beäugten sein Schwert. Ihre Gesichter zeigten keine Gefühlsregung. Die Menge verstummte, als sich der Obergeneral erhob und rief: „Wir haben uns hier eingefunden, um der Hinrichtung dieser Verräter beizuwohnen.“ Er deutete auf die Verurteilten. „Sie haben in Iogunhafen versucht, ein Schiff zu kapern, wollten Vernland verlassen, ohne Befehle erhalten zu haben. Sie wurden gefangen genommen und gestanden ihre Untaten. Die Angst vor den Grauen, ein Schauermärchen der Menschen, hat sie angetrieben. Das Urteil des Generalstabs war einstimmig. Auf Verrat, Fahnenflucht und den Diebstahl militärischen Eigentums steht der Tod. Und unser Held, der glorreiche Krieger Atoz, hat sich bereiterklärt, das Urteil zu vollstrecken.“ Jubel, Klatschen, begeisterte Rufe.

      Muutuq redete weiter. „Die graue Farbe soll eines bedeuten: Wir haben nichts zu befürchten. Nichts kann unsere Nation in Gefahr bringen. Weder die Menschen, die in Scharen nach Etovernem strömen, noch ihre Geschichten über Gestalten aus den Bergen im Süden. Wir sind Etarianer. Stolz und stark. Und solange unsere tapferen Streiter der gezackten Sonne an unserer Seite stehen, werden wir triumphieren.“ Er ballte seine rechte Hand zur Faust und reckte sie in die Höhe. „Haaz ne Etari szarat ask - möge die Sonne ewig strahlen.“

      Die Zuschauer streckten ebenfalls ihre Fäuste in die Luft und wiederholten die Worte Etasias. Atoz zog sein Schwert, die Verurteilten gingen auf die Knie. Atoz hielt dem ersten Deserteur die Klinge an den Hals. „Mach es schnell“, sagte der Verurteilte.

      „Wie lautet dein Name?“, fragte Atoz.

      Der Deserteur schwieg einen Augenblick, sagte dann: „Rogtan, Meister.“

      „Warum wolltest du Vernland verlassen, Rogtan?“

      „Wir haben ihn gesehen, die Hohen Kriegsherren haben ihn uns gezeigt.“

      „Wen?“

      „Er war riesenhaft … ein alter Mann. Er ritt auf einem Wal übers Meer. Der Wal war so grau wie Asche.“

      „Wo hast du ihn gesehen?“

      „Im Traume, das haben wir alle. Die Hohen Kriegsherren haben uns gewarnt, uns die Zukunft gezeigt. Sie werden