Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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bewahrheiten.

      „Nein, ihm geht es bestimmt gut. Vermutlich halten ihn seine Besorgungen auf. Er wird schon noch kommen.“

      „Das hoffe ich“, sagte Zana und schob ihren Teller beiseite. Dann saßen sie sich schweigend gegenüber und lauschten jedem Geräusch. Atoz kaute sein Kraut, Zana trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Vor dem Fenster redete jemand, Kinder lachten in der Ferne. Dann klopfte es an der Tür. Zana sprang auf. „Das wird er sein“, sagte sie. „Endlich ist er da.“

      Sie öffnete die Tür und Stadtwachen traten ein, ohne um Einlass zu bitten. „Lebt Meister Atoz hier?“, fragte ein großgewachsener Blaugeschuppter.

      Atoz schluckte sein Kraut herunter und erhob sich. „Ihr wünscht?“

      „Der Obergeneral schickt uns. Er verlangt, dass Ihr Euch augenblicklich zum Sonnenturm begebt.“

      Atoz verengte die Augen. „Warum?“

      Zana fragte: „Was ist geschehen? Geht es um Gaitaan?“

      „Wir wissen es nicht“, sagte der Blaugeschuppte und umklammerte seine Hellebarde etwas fester. „Der Obergeneral sagte nur, es sei dringend. Wenn Ihr also so freundlich wärt.“

      „Und wenn ich nicht mitkomme?“, fragte Atoz.

      „Wir werden unseren Befehl ausführen.“

      Atoz sagte: „Na, wenn Ihr so freundlich darum bittet, dann kann ich ja schlecht Nein sagen, oder?“

      Atoz erklomm die Treppen bis zur Spitze des Sonnenturms, klopfte dann an die Holztür. „Herein“, schallte es aus dem Inneren.

      Atoz betrat das Arbeitszimmer von Obergeneral Muutuq, der vor dem Fenster stand. Die untergehende Sonne schien in den Raum. Der Obergeneral warf einen langen Schatten und seine grauen Schuppen schimmerten orangefarben. Als er Atoz erblickte, verschränkte er die Arme vor der Brust und nickte zu einem Holzstuhl. Atoz ging auf ihn zu und setzte sich.

      Sie schwiegen eine Weile. Muutuq schritt auf und ab, blickte dabei grimmig zu Boden und schien sich die nächsten Worte genau zu überlegen. Schließlich sagte er: „Mir ist etwas zu Ohren gekommen.“

      „Und was?“, fragte Atoz.

      „Du willst dich auf die Suche nach einem Verbannten machen.“ Er blieb vor Atoz stehen. „Meero.“ Er verzog die Mundwinkel, als würde ihm das Aussprechen des Namens Schmerzen bereiten.

      „Woher …“ Atoz‘ Finger krallten sich in die Stuhllehnen. Dahin war Gaitaan also verschwunden, das war seine wichtige Besorgung.

      Muutuq sagte: „Es stimmt also.“

      „Gaitaan hat es dir verraten, nicht wahr?“

      „Das tut nichts zur Sache.“

      „Das wird er mir büßen.“

      Der Obergeneral lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und betrachtete die länger werdenden Schatten. „Was erhoffst du dir von diesem Bastard?“

      „Von Meero? Er könnte uns helfen.“

      „Uns oder den Menschen?“ Atoz entgegnete nichts. Muutuq atmete tief durch, fragte: „Du weißt, warum Meero verbannt wurde, nicht wahr?“

      „Er hat dir ins Gesicht gespuckt, weil du mich zum Kriegshelden ernannt hast, ihn jedoch nicht … obwohl wir beide gegen den Menschenkönig gekämpft haben.“

      „Damit hat er mir nur einen Grund gegeben, seine Verbannung in die Wege zu leiten. Es war nicht das Ausschlaggebende. Er ist zornig und unkontrollierbar. Er hat sich jedweden Befehlen widersetzt, nur getan, wozu ihm der Sinn stand. Seit Jahren. Das konnte der Superiorius nicht länger hinnehmen. Unsere Nation duldet keine disziplinlosen Einzelgänger. Sie machen uns schwach und stören unseren Zusammenhalt. Meero musste aus unserer Gesellschaft entfernt werden. Ob schwarzgeschuppt oder nicht, Gesetz ist Gesetz.“ Der Obergeneral musterte Atoz eindringlich. „Das solltest du dir merken.“

      Atoz schwieg. Muutuq zuckte mit den Schultern und sagte: „Nun, vermutlich rege ich mich grundlos auf.“ Er griff nach einem Brief, der auf dem Tisch lag, und hielt ihn in die Höhe. „Dieses Schreiben ist heute angekommen.“

      Atoz fragte sich, was das mit dem Gespräch über Meero zu tun hatte, schweig jedoch weiterhin. Er fühlte sich wie ein gescholtenes Kind.

      Der Obergeneral las den Zettel, als hätte er ihn eben erst erhalten. Dann sagte er: „Das ist die Handschrift deines Bruders. Ja, unverkennbar.“

      „Wieder eine Nachricht aus Austadt?“

      „Saoana Aureld hat uns im Namen aller Fürsten eine Mitteilung zu machen.“

      „Ist sie die Tochter des Fürsten?“

      „Anscheinend, es ist jedoch nicht von Belang. Das, was in dem Brief steht, ist wesentlich interessanter.“ Schadenfreude stand auf Muutuqs Gesicht. Während er erneut durch den Raum schritt, sagte er: „Sie hat unseren alten Freund vor dir gefunden.“

      „Meero?“

      „Der Name wird natürlich nicht genannt, es heißt jedoch, dass ein schwarzgeschuppter Etarianer Abtrünnige angeführt und das Dorf irgendeines Fürsten niedergebrannt habe. Es gibt nur zwei Schwarzgeschuppte in Vernland; und einer davon ist ein Narr, der zu viel für die Menschen empfindet.“

      Atoz überhörte die Bemerkung. Meero lebte noch, selbst nach all den Jahren in der Wildnis. Ihm war es offensichtlich gelungen, andere Verbannte um sich zu scharen. Und er hatte Waffen und einen Grund, Menschen zu töten. „Warum greift er die Stadt eines Fürsten an?“

      „Woher soll ich das wissen? Im Brief steht nichts dergleichen. Dieses Saoana-Gör, sie verlangt, dass wir einen Trupp nach Austadt schicken, um die Sache aufzuklären. Xaviin erwähnt sogar den Friedensvertrag, gewitzt wie er ist.“

      Manchmal vermisste Atoz seinen Bruder. Xaviin hatte stets einen Plan, wusste mit Worten umzugehen und fand oft Wege, seinen Willen durchzusetzen. Ohne Gewalt. Er könnte dem Obergeneral sicher gut zureden, aber Xaviin verweilte in einer weit entfernten Stadt; und Atoz war allein. „Wirst du dieser Bitte nachkommen?“, fragte er.

      „Ich sage dir, was ich machen werde.“ Muutuq streckte die Arme aus, hielt den Brief von sich, als wäre er etwas Abstoßendes, dann zerriss er ihn. Langsam und genüsslich. „Sollen sich die Menschen um diesen Verbrecher kümmern.“

      „Das ist deine Antwort? Nichtstun?“ Die Fetzen schwebten zu Boden, blieben vor Atoz‘ Füßen liegen.

      „Oh, täusche dich nicht, ich werde etwas unternehmen.“ Er lächelte. „Die Fürsten werden Vergeltung dafür wollen; und wenn sie Meero nicht zu fassen kriegen, werden sie uns zur Rechenschaft ziehen.“

      „Du meinst, das bedeutet Krieg?“ Atoz‘ Hände begannen zu zittern, als er sich vorstellte, erneut Blut vergießen zu müssen.

      „Ich weiß es nicht, aber ich gehe davon aus. Die Menschen sind Wilde. Wie tollwütige Hunde werden sie sich auf den erstbesten Feind stürzen; und das sind wir.“ Muutuq stand vor Atoz und beugte sich zu ihm herab. Atoz konnte sehen, wie seine Nüstern bebten, hören, wie er atmete. Muutuq sagte: „Unser Volk fürchtet sich vor den Menschen; du hast sicher bemerkt, was auf den Plätzen Etovernems gepredigt wird. Sie haben Angst, dass unsere Nation den Menschen nicht gewachsen sein könnte, dass die Weichhäuter uns vertreiben würden. Unser Volk hat anscheinend vergessen, dass wir sie vor vierzehn Jahren vernichtend geschlagen haben. Aber ich werde dafür sorgen, dass wir uns alle daran erinnern.“

      Atoz fühlte sich festgenagelt, wagte es nicht, sich auf dem Stuhl zu rühren, während der Obergeneral so nah war. „Wie gedenkst du, das zu tun?“

      „Einen Augenblick.“ Muutuq ging zu einem Schrank, Atoz atmete auf. Der Obergeneral wühlte sich durch Dokumente, murmelte dabei. Dann kramte er eine große Rolle Pergament hervor. „Da haben wir ihn ja.“ Er setzte sich an den Schreibtisch und breitete das Pergament aus. „Der Friedensvertrag.“