Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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Das Sommerwetter, das sich genauso wenig veränderte wie die Landschaft mit ihrem Wäldern und Wiesen und Getreidefeldern? Nein, es gab nichts zu reden. Es blieb ihnen nur, geradeaus zu gehen und zu hoffen, dass dieser Tag nicht ihr letzter sein würde. Meist schwiegen sie. Dann gab es nur das Zirpen der Grillen und das Knarzen hölzerner Karrenräder.

      Feronins Stimme erklang. „Roren, Lagebesprechung!“ Sein Rufen kam von der Spitze der Kolonne.

      „Bin gleich da“, rief Roren.

      Die tägliche Lagebesprechung mit Ogwen und Feronin war die einzige Möglichkeit, sich von der Schweigsamkeit der Wanderung zu lösen. Roren würde diese Besprechungen genießen, sich über die Abwechslung freuen, wären da nicht die Blicke der anderen Flüchtlinge. Diese verdammten Blicke.

      „Wir müssen Austadt bereits hinter uns gelassen haben“, sagte Ogwen. Er breitete eine alte Landkarte auf einem Karren aus, zeigte mit dem Finger auf ein Waldgebiet und sagte: „Das ist der Kronenwald, den erreichen wir bald, wahrscheinlich schon morgen … Ja, sieht ganz danach aus. Wir befinden uns einen Tagesmarsch nördlich von Austadt. Verflucht, ich hatte gehofft, wir könnten dort eine Zeit lang rasten. Aber sei’s drum. Wir haben genug Proviant, um Etovernem ohne die Hilfe Fürst Tiogans zu erreichen. Den Toten aus Seros sei Dank.“ Er sah Roren nicht an, faltete die Karte. „Mögen sie im Abyssus Frieden finden.“

      „Wie weit ist es noch?“, fragte Feronin.

      „Nach Etovernem? Drei Wochen, vielleicht vier. Wir sind langsam. Zu viele Karren, zu viele Alte und Schwache.“ Endlich sah er Roren an. Es war ein Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass Ogwen ihn zu den Schwachen zählte.

      Roren verabscheute diese Blicke. Er wusste, dass er nicht jagen könnte, dass er unfähig war, die Gruppe vor Gefahren zu schützen. Alle wussten das, er sah es in ihren Augen. Roren fühlte sich schwach und unnütz. Wie eine Last.

      „Wer hält heute Nacht Wache?“, fragte Ogwen.

      „Das kann ich machen“, sagte Roren.

      „Du warst schon gestern dran“, sagte Feronin. „Lass andere heute die Wache übernehmen. Ich melde mich freiwillig.“ Er zückte sein Beil, ein altes, verrostetes Teil, das er aus Gerwind mitgenommen hatte. Roren bezweifelte, dass es sonderlich scharf war.

      „Aber es macht mir nichts aus, wach zu bleiben“, sagte Roren. Sein Arm schmerzte wieder, doch er riss sich zusammen, verzog keine Miene. Der Ärmel seines Gewands verdeckte den Stumpf, trotzdem wusste Roren, dass Blut aus der Wunde floss.

      „Mir aber auch nicht“, sagte Feronin.

      „Hört auf mit dem Gezänk“, sagte Ogwen. „Wenn er unbedingt will, soll Roren ruhig am Feuer sitzen. Wachehalten kann er gut.“

      „Sicher? Schon wieder Roren?“, fragte Feronin. „Soll er schlafen, er kann’s gebrauchen.“ Er warf einen flüchtigen Blick auf Rorens Arm.

      „Was willst du damit sagen?“, fragte Roren. „Glaubst du, ich kann das nicht? Hältst du mich für zu schwach?“

      „Das hab ich nicht gesagt. Alles, was ich sage, ist, dass du ständig wacheschiebst. Das kann nicht gesund sein.“

      Aber es war die einzige Möglichkeit, sich nützlich zu machen, die eine Aufgabe, die Roren übernehmen konnte, auch wenn er ein Krüppel war. Was blieb ihm sonst? Sitzen und gehen und fressen. Einen Beitrag leisten, das wollte er. Und wenn er wochenlang wach bliebe, um die Augen und Ohren der Schlafenden zu sein, dann täte er es gerne. Vielleicht würden diese abschätzigen Blicke dann endlich verschwinden.

      Ogwen grummelte und sagte: „Feronin hat recht, du siehst aus wie eine Leiche. Schlaf heut Nacht, das wird dir guttun. Gönn dir etwas Ruhe, Roren. Deiner Familie zuliebe. Die beiden machen sich sicher Sorgen.“

      Roren wollte etwas sagen, den Ältesten umstimmen, doch er wusste, dass die Entscheidung gefallen war. Er schwieg.

      Ogwen sagte: „Gut, dass du es einsiehst. Ich wusste, du bist vernünftig.“

      Der Mond tauchte die Wiese in blasses Licht. Roren lag auf dem Boden. Die Grashalme glichen silbrigen Haaren. Der Wind blies über das Feld, das Gras raschelte, war weich und streichelte über Rorens Haut. Er legte einen Arm um Hilla, presste sie an sich, schloss dann die Augen. Die Kleine atmete ruhig und bettete ihren Kopf auf Rorens Schulter. Er lächelte und verspürte keine Schmerzen.

      Roren stand erneut auf der Lichtung, sah die abgeschlachteten Männer. Von Frauen und Kindern keine Spur.

      Erons tote Augen musterten Roren zornig und anklagend. Die faulenden Lippen des Toten bewegten sich. „Du hast uns an die Echsen verraten, du bist schuld.“ Eron stand auf. Gedärm glitt aus seinem aufgeschlitzten Bauch. Fliegen krochen über die Organe. „Sieh, was du angerichtet hast.“

      Dann verwandelte sich Eron in die schwarze Echse. Sie sagte: „Gib mir deine Frau und dein Kind. Verrat mir, wo sie sind, das fällt dir sicher leicht. Lass mich ihr Blut vergießen. Dann ist ihre Reise vorbei, dann werden sie Frieden finden. Keine Schmerzen, keine Sorgen.“ Die Echse grinste. Er hielt etwas in der rechten Hand. Es war Hillas Kopf. Blut strömte aus dem durchtrennten Hals.

      Roren erwachte. Sein Gewand war schweißgetränkt, sein Herz pochte laut und schnell. Hilla lag neben ihm, hatte sich zusammengerollt. Roren hörte ihren ruhigen Atem, sah die sanften Bewegungen ihrer Brust. Seine Tochter war bei ihm, lebte noch.

      Roren drehte sich zu seiner schlafenden Frau. Er stellte sich vor, dass Ariane tot wäre, dass er in diesem Moment neben ihrer Leiche läge. Arianes Gesichtsausdruck war friedlich, voller Sanftheit und Ruhe. Würde sie so aussehen, falls sie stürbe? Und Hilla? Würden alle Sorgen und Schmerzen von ihnen abfallen, falls die schwarze Echse sie tötete? Nein, das würde Roren nicht zulassen. Er wollte seine Familie glücklich machen, ein Haus für sie bauen, irgendwo in Etovernem. Er würde Hilla groß werden sehen, Enkel bekommen; und gemeinsam würden sie ihr Lächeln wiederfinden und andächtig über die Flucht in den Norden sprechen, als wäre sie eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten. Die Echse durfte seine Liebsten nicht kriegen, nicht heute, auch sonst nie. Nicht, solange Roren es verhindern konnte. Er schloss die Augen, stellte sich seine erwachsene Tochter vor. Sie sah Ariane sehr ähnlich. Die erwachsene Hilla lächelte, als das Lachen ihrer Kinder ertönte. Eine angenehme Wärme erfasste Roren, dann schlief er ein.

      Am nächsten Tag rasteten sie an einem See. Die Mittagssonne spiegelte sich im klaren Wasser, nur wenige Wolken standen am Himmel. Roren saß abseits der Flüchtlinge und wusch seine Hand. Die Stimmen der anderen waren kaum lauter als ein Flüstern. Das Wasser war kalt und erfrischend und fühlte sich gut an. Roren beträufelte sein Gesicht, schrubbte den Schmutz von seiner Haut. Der Wind fühlte sich intensiver und frischer an; und Roren hatte das Gefühl, wieder befreit durchatmen zu können. Er setzte sich auf die Kieselsteine am Ufer, lauschte dem leisen Plätschern des Gewässers. Einige Vögel sangen in Ufernähe ein vielstimmiges Lied. Es erinnerte Roren an den Fluss hinter seinem Haus. Er stellte sich vor, das alte Mühlrad von Seros quietschen zu hören. Aber es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Das Geräusch entglitt ihm.

      Stattdessen hörte er Schritte auf den Kieselsteinen. Ariane stand neben ihm und sagte: „Feronin hat mir erzählt, dass du heute wieder die Wache übernehmen willst.“

      „Ja, das stimmt. Du weißt, ich mache das gern.“

      „Aber warum so häufig?“ Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um ihre Knie und blickte auf den See hinaus.

      „Wo ist Hilla?“, fragte Roren.

      „Bei Ogwen. Wir können reden. Bitte sei ehrlich, warum hältst du ständig Wache? Kannst du schlecht schlafen, ist es das?“

      „Ich … ich habe Angst.“

      „Wovor?“

      „Es ist wegen deinem Bruder. Du hast die Leichen doch gesehen.“

      „Ja, das habe ich.“ Sie klaubte ein paar Kieselsteine auf und begann, sie ins Wasser zu werfen.

      Roren sagte: „Dann weißt du, worauf