Jan-Henrik Martens

Eine Heimat des Krieges


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keine Sorgen.“

      Saoana lächelte. „Du hast bestimmt recht.“

      „Natürlich habe ich das.“ Er küsste ihre Stirn, schmeckte kalten Schweiß. „Nun fort mit dir. Iss und schlaf dich aus, die nächsten Tage werden anstrengend.“

      Als sie ging, schaute er ihr hinterher. Ihr jugendlicher Gang und ihre Gutgläubigkeit erinnerten ihn an einen Jüngling, der in Tiogans Armen gestorben war. Ein junger Mann, der Vernland in eine glorreiche Ära hatte führen sollen. Er wurde abgeschlachtet, bevor er den Thron in der Königsstadt besteigen konnte. Es waren Erinnerungen, über die Tiogan nicht sprechen wollte, nicht mit seiner Frau, nicht mit seiner Tochter. Er blieb vor der Tür stehen, die zum Speisesaal führte, in dem der Kriegsrat stattfand. Tiogan atmete tief durch und trat ein.

      Die Hähnchen, Kartoffeln und Suppen waren verspeist, die Weinkaraffen leer. Die acht Fürsten saßen an der großen Tafel. Einige lehnten sich ruhig zurück, andere saßen kerzengerade und lauschten den Gesprächen angespannt. Fürst Qubertín stand als einziger. Er lehnte an der Wand neben dem Kamin und schürte das Feuer, als wären die Flammen wichtiger als die Gespräche bei Tisch. Mit seiner dunklen Hautfarbe wirkte Qubertín wie ein Schatten am Rande des Raumes, kaum beachtet, doch stets präsent.

      „Was ist mit den Grauen?“, fragte Fürst Kabalos. „Wir reden ständig über die Echsen und Willet, aber die Grauen sind immer noch da draußen. Wer kümmert sich um die, wenn wir mit den Etarianern Krieg führen?“

      „Die Grauen?“, fragte Albin. „Was wissen wir über sie, wenn wir ehrlich sind? Ja, meine Späher haben sie an unserer südlichen Grenze gesehen, aber das war alles. Keine Angriffe, keine weiteren Sichtungen. Die Echsen … für ihre blutrünstigen Überfälle gibt es Beweise.“ Er betonte das letzte Wort mit schriller Stimme.

      „Die Angriffe auf die Dörfer Rygmoors und auf Eure Hauptstadt sind natürlich tragische Verluste. Nicht nur für Euch, Fürst Albin, sondern für ganz Vernland“, sagte Fürst Ilarovich. Er war jung und hatte als einziger nicht im Glaubenskrieg gekämpft. „Ihr habt mein vollstes Beileid. Möget Ihr darin Trost finden.“ Er sah Albin mitfühlend an.

      „Ja, tragisch“, sagte Kabalos. „Aber die Grauen wurden gesehen. Was haben sie denn da draußen getrieben? Eine Erholungsreise?“

      „Spart Euch die Ironie, mein Freund“, sagte Fürst Feskott, ein dürrer Mann mit Hakennase und grauen Locken, der sich für den letzten echten Edelmann Vernlands hielt. „Das Leid unseres geschätzten Fürsten Rygmoor sollte kein Anlass für Späße sein.“

      Tiogan saß schweigend am Kopfende der Tafel. Sein rechter Arm ruhte auf der Stuhllehne und stützte seinen Kopf, als wäre die Last zu schwer für seinen Hals. Hinter ihm brannte das Kaminfeuer. Qubertín stand noch immer davor. Er hatte während der Versammlung kein Wort gesprochen. Die goldene Getreideähre Aurelds prangte auf einem Banner über dem Kamin, sodass alle sie sahen, wenn sie mit Tiogan sprachen. Vielleicht hätte er das Banner abnehmen sollen.

      „Aber die Frage ist berechtigt“, sagte Fürst Ubar von der Dorrküste. „Was treibt diese Kreaturen aus dem Grovoll-Gebirge?“

      „Wir werden es wohl nie erfahren, außer Ihr geht hin und fragt sie“, sagte Albin. „Wenn Ihr denn Graue findet.“

      „Vielleicht mache ich das, vielleicht unterhalte ich mich mit ihnen“, sagte Ubar und lächelte. „Aber wer sagt meiner Frau dann, dass ich von den Bastarden gefressen wurde?“

      „Ich bin sicher, einige Männer aus Eurem Gefolge werden rechtzeitig fliehen können.“

      „Zurück in meine Hauptstadt, meint ihr?“

      Albin verstummte und lief rot an.

      „Das reicht jetzt“, sagte Tiogan. „Solche Streitereien bringen uns nicht weiter. Ich bin immer noch der Ansicht, dass die Grauen ein Gerücht sind, nichts weiter. Vielleicht haben Albins Späher Bergvolk gesehen und für Graue gehalten. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Wer weiß, was für Barbaren sich im Süden rumtreiben.“

      „Genau“, sagte Fürst Hoh, dessen Gesprächsbeiträge daraus bestanden, nie mehr als drei Worte aneinanderzureihen.

      „Lasst uns lieber darüber nachdenken, was die Echsen zu den Angriffen veranlassen könnte“, sagte Tiogan.

      „Vielleicht reicht es ihnen nicht mehr, über uns zu herrschen. Vielleicht wollen sie den ganzen Kontinent für sich haben“, sagte Fürst Feskott.

      „Und warum greifen sie dann die kleinen Dörfer im Süden an? Warum kommen sie nicht mit einer Armee aus dem Norden?“, fragte Albin. „Wenn die Echsen uns loswerden wollten, würde Fürst Ilarovich als erster angegriffen.“

      „Vielleicht haben sie Angst vor mir“, sagte Ilarovich. „Velikigrad ist schwer einzunehmen, und meine Männer sind die härtesten Krieger Vernlands.“

      „Pah, alles Weicheier“, sagte Fürst Hoh.

      „Danke für Eure geistreichen Worte.“ Ilarovich lächelte. „Seid Ihr immer so wortgewandt?“

      „Nein, Gerede gewinnt keine Kriege.“

      Tiogans Befürchtungen bewahrheiteten sich. Die Fürsten saßen an einem Tisch und stritten, anstatt über eine Lösung für ihre Probleme zu sprechen. Früher hätte der König zu den Fahnen gerufen und alle Fürsten wären ihm gefolgt. Ohne Streitereien, ohne Beleidigungen. Aber der König war tot, und die Fürsten verfolgten ihre eigenen Interessen, wollten nichts für das große Ganze riskieren. Daran waren nur die Echsen schuld.

      „Die Echsen haben Schwierigkeiten“, sagte Fürst Ubar.

      „Wie meint Ihr das?“, fragte Tiogan.

      „Einige meiner Männer haben sich dem Flüchtlingsstrom angeschlossen, als das alles anfing. Sie schicken mir regelmäßig Tauben mit Berichten über die Lage in Etovernem.“

      Albin klopfte auf den Tisch. „Hervorragend! Warum bin ich nicht darauf gekommen?“

      „Weil Ihr nur an das Bündnis Eures Sohnes denkt, anstatt Euch auf die Probleme vor Eurer Nase zu konzentrieren“, sagte Ubar. Er ignorierte Albins hasserfüllten Blick. „Jedenfalls sind die Echsen überfordert. Tag um Tag wächst die Zahl der Flüchtlinge vor ihren Toren. Sie wollen in die Stadt, aber die Etarianer lassen sie nicht. Die Gemüter kochen hoch, es herrschen Hunger und Wut.“

      „Meine Freunde, eine bessere Zeit, um Rache zu nehmen, gibt es nicht“, sagte Tiogan.

      Ubar sagte: „Hm, das gilt es noch zu erörtern. Jedenfalls ist die gegenwärtige Krise in Rygmoor nicht im Sinne der Etarianer, da bin ich mir sicher.“

      „Aber warum greifen sie dann an?“, fragte Albin. „Es muss einen Grund geben.“

      „Abtrünnige?“, fragte Ilarovich.

      Die Möglichkeit, dass es sich um die Angriffe abtrünniger Echsen handeln konnte, hatte Tiogan bisher nicht in Betracht gezogen. „Aber was ist der Sinn dahinter, wenn dem so wäre?“

      „Vielleicht Rache für den Glaubenskrieg?“, fragte Kabalos. „Es wäre gut möglich, dass die Angreifer Söhne im Krieg verloren haben und ein bisschen Genugtuung wollen.“ Er warf Tiogan einen flüchtigen Blick zu.

      „Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Die Gespräche verstummten, als die Fürsten zum ersten Mal an diesem Abend Qubertíns Stimme vernahmen. „Nehmen wir an, es handle sich tatsächlich um eine kleine Gruppe Abtrünniger, die ihrem Menschenhass Luft verschaffen wollen. Warum sollte eine Handvoll Echsen den Kampf mit den Menschen aufnehmen, die ihnen deutlich überlegen wären? Dafür kann es nur einen Grund geben. Sie haben sich mit den Grauen verbündet.“

      Schweigen. Die Fürsten tauschten fragende Blicke aus, so als wollten sich sichergehen, dass alle dasselbe gehört hatten.

      „Habt Ihr mich nicht verstanden?“, fragte Tiogan. „Graue gibt es nicht.“

      „Ich will mir das nicht vorstellen“, sagte Feskott.