Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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sie. An keinem Ort im ganzen Reich war Petruna sicher. Solange der Vogel fort war, war sie für die Feinde eine leichte Beute. Die kurze Zeit bis zu Lumus' Rückkehr würde den Schergen des Roten ausreichen. Schon oft hatten sie Lebewesen in diesem Wald auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Viele schmachteten in dunklen, zugigen Kerkern und sahen das Sonnenlicht bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr.

      Der Rote und seine Schergen – wie lange dauerte diese Herrschaft noch? Die Albin strich sich das weißblonde Haar aus dem Gesicht und seufzte. Nerones, der Grausame, hatte die Burg des Lichts besetzt und sie zur Feste der Finsternis gemacht. Seine Schergen zogen mordend und plündernd durchs Land. Valena, die Stadt der Farben, hatten sie innerhalb eines einzigen Tages in einen Trümmerhaufen verwandelt. Auch die Lebewesen in den Wäldern lebten in ständiger Furcht vor den Flammenrittern. Doch all das Leid war Nerones nicht genug. Er wollte Malorien, die fröhlichen Wälder und die Hauptstadt Valena dem Erdboden gleichmachen. Er stammte aus dem Vulkanland und brauchte nichts zum Leben als Rauch und Asche. Muna schauderte.

      In diesen dunklen Stunden flüsterte der Wald die Geschichte der Rettung. So oft hatte die Albin sie schon gehört. „Eines Tages", tönte es von Bäumen und Blättern, „eines Tages", knackte das Geäst. Eines Tages würde der Tapfere kommen und den eingerissenen Schutzbann flicken. Und das gütige Königspaar würde aus dem Exil zurückkehren auf die Burg und alles wäre gut. „Ein schönes Märchen zwischen all dem Blut", flüsterte die Albin. Mit Bitternis dachte sie an die vielen Hoffnungen, die sich in den vergangenen Lichtwenden nicht erfüllt hatten.

      Unter dem Boden scharrte es wieder. „Die Erdhennen, wir müssen fliehen!", mahnte sie ihre Herrin. Doch die hörte nicht. Sie saß da und webte. Seit Tagen ging das schon so. Die Schattenfee Petruna schien auf ihrem Webstuhl festgewachsen zu sein. Es ging um Leben und Tod und Petruna wob mit wunden Fingern Meter um Meter, Quadrat um Quadrat zu einem riesigen Ganzen. Die Meisterin verwob die Schatten der Burg, der Wege, der Wälder, der Gefangenen zu einer neuen Welt, der Nachtschattenwelt. Eine traurige Kopie dieses Landes, doch immerhin eine, in der der König geschützt war. Der Schutzzauber hatte einen Riss bekommen. Doch solange das Königspaar lebte, egal in welcher Welt, wirkte er weiter über den Wäldern. Der Rote konnte es sich in der eroberten Burg zwar gut gehen lassen, erlangte aber nicht die volle Macht. Nur ein paar Handgriffe noch und das Werk wäre vollendet. Die gewobene Kopie dieses Landes würde in wenigen Minuten fertig sein.

      Sie suchten sie, das wusste Petruna. Sie hatte dem König zur Flucht verholfen und würde das mit ihrem Leben bezahlen, wenn sie in die Fänge der Schergen geriet. Aber wenigstens war ihr Sohn in Sicherheit. Und ihr Mann.

      Der Phönix kam zu spät zurück. Muna, die Albin, schrie, als sie die Erdhennen sah. Eine ganze Schar kroch gackernd und scharrend aus dem Boden. Die Erdhennen waren harmlos, doch sie zeigten sich ausschließlich den Todgeweihten. Petruna verknotete ruhig ihren letzten Schatten und sah den Angreifern entgegen, die in die Hütte eindrangen. Die Schergen des Roten machten sich nicht einmal die Mühe, die Klinke herunterzudrücken, sondern traten die Tür mit ihren schweren, schwarzen Stiefeln einfach ein. Ihre Rüstungen hatten die Farbe frischen Blutes und sie kannten kein Erbarmen.

      Der Phönix saß auf dem Ast der großen Eiche und weinte, während die Hütte in Flammen loderte. Er hatte Petruna nicht retten können. Doch in diesem Moment schwor sich der Feuervogel, die Nachkommen der Schattenweberin zu beschützen, und wenn dies sein eigenes Leben kosten würde.

      Justus

      Der Himmel war in dieser Nacht zu dichtem tiefblauem Tuch gewoben, bestickt mit funkelnden goldenen Punkten, den Sternen. Der Vollmond tauchte den Brunnen und seine steinernen Figuren in milchweißes Licht. Es war kurz nach Mitternacht und vor ein paar Minuten hatten sich die Straßenlaternen automatisch abgeschaltet.

      Justus stand am Fenster seines neuen Zimmers und beobachtete das seltsame Mädchen da unten schon eine ganze Weile. Sie trug kurze, wuschelige Haare und ihre Kleidung wirkte verwahrlost und abgerissen. Sie stand einfach da und starrte in die sternklare Nacht als erwarte sie jemanden. Aber niemand kam.

      Ihr Alter ließ sich von hier oben schlecht schätzen. Justus hoffte insgeheim, sie wäre vielleicht so alt wie er selbst, eine Nachbarin, die er bald kennenlernen könnte. Sie wohnten erst seit ein paar Tagen hier und Justus vermisste seine Freunde. Vielleicht konnte die da unten ja auch nicht schlafen, so wie er. Vielleicht hatte sie auch Albträume oder einen Traum, der immer wieder kam und ihr keine Ruhe ließ, so wie es bei ihm seit einiger Zeit war.

      Sein Traum war seltsam real, obwohl er die Umgebung, in der er spielte, aus seinen Erinnerungen nicht kannte: Wald, nachtschwarze Schatten und diese Schreie, diese schrecklichen Schreie. So schrien nur Lebewesen, die in Todesangst waren. Und er? Er wurde verfolgt, von wem, wusste er nicht. Aber er raste Nacht für Nacht durch das Unterholz, ließ sich von kleinen spitzen Ästen tiefe, brennende Wunden ins Fleisch schneiden. Sie schmerzten ihn körperlich so, als befände er sich wirklich in dieser Welt, als sei dies alles mehr als nur ein Traum. Er roch den beißenden Geruch verbrannten Fleisches, hörte das Klirren der Schwerter in unmittelbarer Nähe.

      Dann war da diese Stimme, gellend und verzweifelt: „Lauf Justus, lauf! Renn um dein Leben! Diese Welt braucht dich! Flieg, flieg!"

      Jedes Mal versuchte es Justus, versuchte, die Flügel auszubreiten. Doch er konnte nicht fliegen. Er war ein Mensch und hatte keine Flügel, auch nicht im Traum. Er strauchelte, stürzte, sein Herz hämmerte. Sie waren ganz nah. Und sie wollten seinen Tod, das spürte er. Wer waren sie?

      „Du musst es finden, du musst es finden, du musst leben, lauf!"

      Da war wieder die Stimme, die ihn antrieb, die ihn anflehte, sich zu retten. Wer sprach? Wer rief ihn? Er wusste es nicht.

      Der Traum riss Justus Nacht für Nacht aus dem Tiefschlaf. Sein Herz weckte ihn. Es pochte wie nach einer wirklichen Flucht durchs Unterholz. Sein ganzer Körper nahm Anteil an dem Albtraum. Anfangs war er immer stumm und fröstelnd in seinem Bett liegen geblieben, gefesselt von der Beklemmung, die diese Bilder in ihm auslösten. Jetzt schaffte er es immerhin, aufzustehen. Die Angst wurde kleiner, wenn er etwas tat.

      Meistens schlich Justus zum Fenster und suchte den Mond. Am liebsten waren ihm Nächte wie diese, wenn er rund und prall am Himmel zu sehen war. Justus stellte sich vor, er sei ein großer Spiegel, der die Erde, alle Straßen und Häuser und alle Lebewesen in sich aufsog, sie beschützte. Der Mond war groß. Alles andere erschien dagegen klein und unwichtig, auch sein Traum. Das tröstete ihn.

      Anfangs dachte er, der Traum würde mit dem Umzug zusammenhängen. Seine Eltern, die beide als Waldforscher in Toronto arbeiteten, hatten sich entschieden ihre Forschungen in einer deutschen Kleinstadt fortzusetzen anstatt in Kanada. Sie hatten Heimweh nach Deutschland und die Stadt war zwar klein, aber das Institut renommiert. Justus' Bitten, in Kanada zu bleiben, hatten sie abgeschlagen.

      „Deutschland, das wird dir gefallen, du musst es nur besser kennenlernen", hatten sie behauptet.

      Aber Justus wollte nicht fort. Im Gegensatz zu seinen Eltern war für ihn Toronto die Heimat. Dort war er aufgewachsen und seine beiden kleinen Zwillingsschwestern Ada und Ida waren dort geboren.

      Eigentlich waren es nur seine Halbschwestern, denn Justus war ein Findelkind, das seine Zieheltern Rosalie und Markus Semmelbrot einst als Biostipendiaten zwischen einer Lieferung seltener Proben im Institut gefunden und heimlich mit nach Hause genommen hatten. Er war damals ein verwaistes Baby und die vorsichtigen Versuche der beiden, mehr über seine Herkunft herauszufinden, liefen alle ins Nichts. Hinweise waren verwischt wie Spuren nach einem Sandsturm. So zogen sie ihn auf wie ein eigenes Kind. Deutschland kannte er nur von Besuchen in den Ferien. Kaum vorstellbar, dass dies sein Zuhause werden sollte. Aber Rosalie und Markus Semmelbrot hatten sich nicht erweichen lassen. Nach langen Jahren im Ausland sehnten sie sich nach ihrer Heimat.

      Seit ein paar Tagen wohnten sie nun hier, in dieser Stadt, die klein war und bis in den hintersten Winkel nach fader Langeweile roch. Seine Freunde hatte Justus in Kanada zurückgelassen. Die Einsamkeit bohrte sich von Tag zu Tag tiefer in seine Seele, saß als dicker, schwerer Klumpen in