Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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ich aber weiter machen. Die Arbeit ruft. Mach es gut und grüße alle. Bis ganz bald! 1000 Küsse.

      Deine Mama.

      Nella zerknüllte den Brief. Sie hätte heulen können, so elend fühlte sie sich. Bei all den mysteriösen Dingen, die in letzter Zeit passiert waren, sehnte sie sich ihre kühl denkende Mutter herbei. Vielleicht wüsste sie eine sachliche Erklärung auf alles.

      Irgendetwas passierte in Nellas Leben. Etwas veränderte sich. Tagsüber war sie wie immer der blasse Pummel, der im Sportunterricht keinen Fuß vor den anderen setzen konnte und sich darüber mit Kakao und viel Sahne tröstete. Aber nachts, da war plötzlich dieser Traum, der immer wiederkehrte und ihr keine Ruhe ließ. Der Wald, die Schreie, Menschen in Todesangst.

      Im Traum hechtete Nella Nacht für Nacht durch das Dickicht, flüchtete vor den Schreien, dem Gemetzel. Sie roch den Geruch verbrannten Fleisches, hörte das Klirren der Schwerter ganz nahe. Plötzlich lichtete sich das Unterholz und sie stand auf einer Anhöhe. Der Vollmond schien. Und dann kamen immer die Schatten. Anfangs fürchtete sie sich. Doch da der Traum immer wieder kehrte, wusste Nella inzwischen, dass die Schatten ihr nichts taten. Im Gegenteil, sie halfen ihr, gehorchten ihr. Nella hatte Macht über die Schatten, die sie umschlossen wie ein schützender Ring. Sie retteten sie vor den Angreifern, die das Unterholz plötzlich auf die Anhöhe spie. Dunkle Gestalten mit flammenden Schwertern. Sie suchten ihre Augen, wollten sie töten. Die Schatten hoben Nella in die Höhe, trugen sie, ließen sie fliegen. Ja sie konnte fliegen in ihrem Traum, entwischte dank der Schatten, ließ die Todesbringer mit ihren Feuerschwertern auf der Anhöhe zurück und schwebte davon, Nacht für Nacht.

      Nella drehte sich um. Der Fremde auf dem Sofa hatte einen leisen wimmernden Laut von sich gegeben. Doch er schlug die Augen nicht auf. Helen, ihre Großmutter, tupfte ihm mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der Stirn. Sie blickte Nella an und legte einen Finger auf ihre Lippen. Ruhe, das braucht der Junge, bedeutete sie.

      Der Vollmond schien zum Fenster herein. Es war dasselbe Licht wie im Traum, wenn sie auf der Anhöhe stand und in die Visiere der dunklen Ritter blickte. Der Mond war Freund und Feind gleichermaßen. Er machte sie sichtbar für ihre Gegner und holte gleichzeitig ihre Retter herbei, die Schatten. Ohne das Mondlicht würden die Schatten des Nachts unsichtbar bleiben.

      Wenigstens war sie seit einiger Zeit nicht mehr allein, wenn sie aufwachte. Caissa, die Eule, war bei ihr. Sie verließ auch in der Nacht das Zimmer nicht, obwohl Nella das Fenster beim Schlafen immer offen ließ. Wahrscheinlich fühlte sich Caissa mit dem verletzten Flügel noch nicht sicher genug für Ausflüge. Doch in dieser Nacht war sie plötzlich verschwunden. Nella machte sich Sorgen um sie. Wo sie wohl steckte?

      „Schschsch!" Der Junge auf dem Sofa stöhnte im Schlaf laut auf. Helen strich ihm behutsam mit der Hand über den Arm und beruhigte ihn wie ein kleines Kind. Nella betrachtete den schlanken Jungen mit dem blonden zerzausten Haar und dem ebenmäßigen Gesicht, in dem sich die blutige Schramme wie ein Feuermal abzeichnete. Athletisch sah er aus in dem gelben T-Shirt und der braunen Jeans. Einer von denen, die unter normalen Umständen nie mit ihr sprechen würden. Kein Wunder, sie war ja auch hässlich - und komisch. Alles was ihr passierte, war total bescheuert, besonders das, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatte.

      Vielleicht war es gut, dass Felicitas Marzipan nicht kam. Sie hatte ihrer Tochter schon vor Wochen geraten, einen Psychiater aufzusuchen. Und Hubertus hatte Felicitas Marzipan nur mit Mühe davon abhalten können, umgehend selbst bei einem Facharzt anzurufen. Wenn sie ihrer Mutter nun auch noch von den Träumen erzählte, würde sie sie wahrscheinlich gleich in eine Klinik einweisen lassen. Die Sache mit den Spielen hatte wirklich für genug Aufregung gesorgt. Nella seufzte. Es klang wirklich zu komisch.

      Die Marzipans liebten Brettspiele. Jeder in der Familie sammelte sie. Sogar Felicitas Marzipan brachte von jeder Reise mindestens ein neues mit. Hubertus hatte die Regale in den Hausfluren bis zur Decke verlängert, um alle unterbringen zu können.

      Zum Zeitvertreib hatte Nella vor einigen Monaten eine der bunten Kisten aus dem Regal gezogen und die Figuren aufgestellt. „Zwergenreise" hieß das Spiel. Weil niemand Zeit hatte, beschloss sie, eine Partie gegen sich selbst zu spielen. Und dann musste sie irgendwie die Kontrolle verloren haben. Anstatt in ihrem Zimmer stand sie plötzlich auf dieser Wiese, auf der die Grashalme ihren Kopf überragten. Und dann kam der Riesenkäfer. Nella schüttelte sich beim Gedanken daran. Das behäbige Tier hatte sie übersehen und hätte sie mit seinem großen schwarzen Körper fast zerquetscht.

      War es Traum oder Wirklichkeit? Nella war sich zuerst nicht sicher und testete verschiedene Spiele. Beim „Mensch ärgere dich nicht!" geriet sie in eine Prügelei. Das blaue Auge schimmerte noch tagelang in ihrem Gesicht. Der Staub, den ihr die Feen bei ihrer Wanderung durch das „Bergland Catanoia" auf die Arme pusteten, ließ sich mit Seife nicht abwaschen und glitzerte mehrere Wochen auf ihrer Haut.

      Da hatte Nella Gewissheit: Ihre Reisen auf die magischen Ebenen, so nannte sie die Spielewelten, waren real. Doch wieso sie die Welten wechseln konnte, wusste sie nicht. Sie hatte ihre Mutter eingeweiht, Professorin Felicitas Marzipan, in der Hoffnung, sie hätte eine Erklärung für alles. Aber für ihre Mutter war sie einfach die Verrückte.

      „Zuviel Fantasie, Nella. Du bist zu oft alleine. Niemand verschwindet in einem Spiel", hatte Felicitas Marzipan gesagt. Dann hatte sie Nella seufzend und geistesabwesend über den Kopf gestrichen. Was sollte sie bloß machen mit dem Kind? Therapie, das war das Einzige, was Felicitas Marzipan zu Nellas Problem einfiel.

      Hubertus hatte sie ebenfalls lange und besorgt angesehen. Wenn auch auf eine andere Art. Hätte Nella es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können, Angst in seinem Gesicht zu lesen. „Wenn du schon zwischen den Welten wanderst, dann meide bitte diese", hatte er zu ihr gesagt und einen kleinen Holzkasten in der hintersten Ecke des großen Regals verstaut.

      In jenem unscheinbaren braunen Kasten befand sich Hubertus' Heiligtum. Er hütete und hegte es, als handle es sich bei den Spielfiguren um echte Lebewesen, die seinen Schutz und seine Pflege brauchten. Das Spiel und Hubertus gehörten zusammen. Instinktiv akzeptierten alle im Haus diese unausgesprochene Regel. Hubertus hätte das Kistchen also nicht extra verstecken müssen. Doch für Nella war sein Handeln ein Zeichen dafür, wie ernst ihr Großvater ihre Geschichte nahm. Mehr noch, sie spürte den Schrecken, der ihn gepackt hatte.

      Er glaubte ihr und schien äußerst besorgt, wenn auch auf völlig andere Art und Weise als ihre Mutter. Nella lächelte. Spielewelten, magische Zeitebenen. Mittlerweile kannte sie Hunderte davon. Auch dieser Spielstein aus Mutters Päckchen kam ihr bekannt vor. Ein Halbmond, der in der Mitte ausgefranst war. Er weckte keine guten Erinnerungen in ihr. Beklommen drehte sie ihn in den Händen.

      In diesem Moment schlug der Verletzte auf dem Sofa die Augen auf. Er hustete und holte Nella aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.

      „He", sie eilte zu ihm, setzte sich neben Helen, die das Handgelenk des fremden Jungen umfasst hatte und seinen Puls fühlte.

      Benommen blickte Justus die beiden an. „Das Mädchen, die Eule", flüsterte er.

      „Caissa", dachte Nella, „die Eule. Hat er Caissa gesehen?"

      „Trink!" Hubertus war herangetreten und hielt dem Jungen die Tasse mit süßem, warmem Tee an die Lippen. Der Fremde trank einen Schluck und schloss dann wieder die Augen. Hubertus betupfte den blutigen Striemen auf seiner Wange.

      „Wer bist du?", fragte Nella schüchtern.

      „Justus, Toronto", flüsterte der Fremde leise. Dann schloss er die Augen wieder und atmete ruhig.

      Das Holz auf dem Beistelltisch klackte kurz, als Hubertus einen kleinen Stein darauf legte. „Er lag auf dem Weg zum Gartentor. Ich schätze, er gehört dem Jungen", murmelte er.

      Wortlos blickte Nella auf den Stein. Die Form kannte sie. Ein Halbmond, der an der Innenseite ausgefranst war. Das Gegenstück zum Fund, der im Päckchen ihrer Mutter gesteckt hatte. Ein Spielstein, der eigentlich in eine andere Welt gehörte, zu einer anderen magischen Ebene. Nella wusste das besser als ihr lieb war. Aber wie kam der Typ an den Stein? Darüber