Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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      Justus blickte sie ärgerlich an. „Danke für die Info, das hättest du mir vielleicht etwas eher sagen können. Ich bin ganz schön erschrocken." Zornig schnappte er nach Luft:

      „Aber vielleicht hätte ich ja einfach selbst darauf kommen können, dass das Pferd durch mich hindurchgaloppiert. Das passiert mir schließlich alle zwei Tage."

      Oh, wie sie ihn anblickte! Sein schlechtes Gewissen war sofort da. „Nella, entschuldige!" Er versuchte, ihre Hand zu greifen, doch sie wich ihm aus. Gut, sie war beleidigt und sie hatte recht damit. Sie hatte ihm helfen wollen. Sie kannte sich auf den magischen Ebenen besser aus als er.

      Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er so aggressiv war. Er war auf seine Gelassenheit, die ihn im normalen Leben auszeichnete, immer stolz gewesen. Hier gingen die Nerven offensichtlich mit ihm durch. Doch es gab noch einen anderen Grund, der ihm die Ruhe raubte, das spürte Justus. Der Steinmond tat ihm nicht gut. Schon in der Nacht am Brunnen war seine Ruhe weggefegt, nachdem er ihn berührt hatte. Sobald er ihn in der Hand hielt, schien er sich für den wichtigsten Menschen auf der Welt zu halten.

      Er schluckte. „Ich bin an das alles nicht gewöhnt, Schattenwelten und so", versuchte er zu erklären und war froh, als er Nellas Lächeln sah.

      „Du hast zum ersten Mal die Ebene gewechselt, da kann man etwas durch den Wind sein, verständlich", murmelte sie.

      Sie liefen weiter und ließen den Abhang hinter sich, jetzt taten sich rechts und links des Weges Felder auf. Justus beobachtete die Menschen bei der Arbeit, Frauen und Männer in schlichter Tracht. Sie schnitten das Korn mit der Sense und luden ihre Ernte auf Fuhrwerke, die von kräftigen Pferden gezogen wurden.

      Den Steinmond trug Justus tief in der Hosentasche. Der Stein, der Verräter. Zwar konnten ihn die Bewohner Maloriens nichts sehen, doch die Pferde schienen etwas zu wittern. Sie wurden unruhig, wenn Justus und Nella zu nahe an ihnen vorbeiliefen, blähten mit den Nüstern und legten die Ohren an.

      Nella legte eine Pause ein, als der dritte Tropfen vom Armband rann, eine Träne, die sich mit der Erde vermischte, blau und braun in einem Farbkasten. Elfenhände hatten diesen Reif gefertigt, hatte Hubertus gesagt. Sie wusste nicht, ob es Elfen in dieser Schattenwelt gab. Auf anderen magischen Ebenen war sie schon welchen begegnet. Sie liebten das Licht und sie überließen ihr Kunsthandwerk nur jenen, die ihnen viel bedeuteten.

      Hubertus musste die Elfen gut kennen. Ihr Großvater schien all die Jahre ein Geheimnis vor ihr verborgen zu haben. Sobald sie zurück waren, war er ihr eine Erklärung schuldig. Doch jetzt mussten sie weiter, es blieb nicht mehr viel Zeit.

      Sie wollte loslaufen, doch sie zögerte. Vor ihnen lag ein Waldstück, das sie schon einmal durchquert hatte. Es gab keinen Zweifel: der kleine Hügel mit den drei Bäumen, dahinter dichter Wald. Hier war sie schon einmal gewesen. Diesen Ort würde sie unter Tausenden erkennen. Genau an dieser Stelle war sie beim letzten Mal gelandet, als sie die Nachtschattenwelt bereist hatte. Nella hatte das Abenteuer nur knapp überlebt. Was sie hinter dem Wald erwartete, war nichts Gutes. Sie mussten ungeheuer stark sein.

      Vor ihnen lag das schwerste Stück des Weges, das war klar.

      „Nun gut", dachte Nella, „wenigstens wissen wir nun mit Sicherheit, dass dieser Weg zur Burg führt. Ich bin ihn ja schon einmal gelaufen."

      Sie schauderte, wenn sie daran dachte, was sie erwartete. Hinter den Bäumen entsprangen die weinenden Wasser, die mit ihrer Musik die Seelen umsponnen. Die Wasser waren ein gefährlicher Feind. Sie brauchten keine Bosheit. Sie lockten ihre Opfer durch ihre Klänge.

      Doch sie mussten an ihnen vorbei. Die Perlen am Elfenreif tropften schnell zu Boden. Sie hatten keine Zeit für Umwege. Sie musste Justus warnen. Nella deutete auf die Bäume, die sich vor ihnen auftaten. „Wenn wir dieses Waldstück durchquert haben, müssen wir aufpassen. Egal was du fühlst und siehst, dreh' dich nicht um! Bleib nicht stehen! Geh einfach weiter! Du wirst die Wasser rauschen hören und den Wasserfall sehen. Aber es dies ist kein gewöhnlicher Ort, er ist ...", sie suchte nach Worten: „Betörend."

      Justus fragte nicht nach. Nella war erstaunt, weil er einfach nickte. Seit dem Erlebnis mit dem Reiter hatte er sich geschworen, auf Nella zu hören. Sie kannte sich auf den magischen Ebenen aus. Und er würde von jetzt an alles tun, was sie ihm riet.

      „Das klingt nicht schwer. Einfach an einem Wasser vorbeizugehen, das schaffe ich leicht", sagte er, um ihr Mut zu machen – und vielleicht auch sich selbst. Doch Nellas Blick zeigte ihm ihre Zweifel. Er beruhigte sich selbst. Immer weitergehen, egal was passierte, das würde er doch hinbekommen. Er hatte sowieso keine Lust, stehen zu bleiben. Besser sie brächten den Stein so schnell wie möglich zum König und könnten aus dieser Düsternis wieder verschwinden.

      Justus tastete mit der Hand nach dem Steinmond. Irgendwie fühlte er sich sicherer in dem Wissen, ihn bei sich zu tragen. Er zog ihn aus seiner Hosentasche und erschrak: Der kleine Stein leuchtete nicht mehr. Er war totenschwarz. Das heftige Pulsieren hatte aufgehört. Es war, als lebe der Stein nicht mehr.

      „Quatsch", flüsterte ihm sein Verstand, „Steine leben nie. Mach dir nicht in die Hose vor Angst! Lauf' Nella einfach hinterher. Was soll schon passieren?!" Und Justus glaubte seinem Verstand so gerne, auch wenn sein Herz etwas anderes erzählte.

      „Ist was? Fürchtest du dich doch?" Nella war vorausgeeilt. Sie blieb stehen und drehte sich fragend zu ihm um. Sie hatte sein Zögern bemerkt.

      Justus schüttelte den Kopf. Er wollte sich keine Blöße geben, nicht vor Nella und auch nicht vor sich selbst. „Nicht durchdrehen", sagte er sich in Gedanken. Der Stein veränderte sich wahrscheinlich immer mal. Von Blau nach Weiß hatte er schließlich auch gewechselt. Er verstaute ihn wieder in der Hosentasche und hastete Nella hinterher.

      Sie wanderte sicher durch diese Welt. Auch als die Bäume das Licht gänzlich schluckten verlor sie nie den Weg. Wie ein schützender, dunkler Schatten lief sie vor Justus her und wies ihm die Richtung.

      Beklemmend still war es hier. Eine Stille, die Justus Seele beschwerte. Diese Welt war nicht schön. Sie war erfüllt von Düsternis und einer Traurigkeit, gegen die er sich nur schwer durchzusetzen vermochte.

      Eine Eule rief. Hin und wieder knackten Zweige. Welche Lebewesen hausten hier im Dunklen? Schließlich hörte Justus das Rauschen in weiter Ferne. Anfangs klang es wie ein gewöhnlicher Wasserfall, doch es schwoll zu einem Klagelied an. Als sie das Ende des Waldstücks erreicht hatten, war es Justus, als zittere die Luft von Seufzen und Wehklagen.

      Der riesige Wasserfall wirkte im Halbdunkel dieser Welt besonders imposant. Aus mehreren Metern Höhe stürzten die Wassermassen in die Tiefe, sammelten sich in einem Becken, sprudelten, gurgelten und setzten dann zwischen dunklen, glänzenden Kieseln in einem Flussbett ihren Weg fort. Faszinierend.

      Justus musste sich zwingen, den Blick abzuwenden. „Nicht hinsehen, nicht umdrehen, immer weiter gehen", hatte Nella gesagt. Er blickte ihr hinterher. Sie war weit vorausgeeilt. Ein wenig wollte er noch bleiben und diesen wundervollen Wassern zusehen. Der Gesang ergriff ihn, machte ihn melancholisch, tröstete ihn. Es war, als fände er hier endlich Antworten auf all die Fragen, die ihn seit Jahren quälten, ihn, das Findelkind. Wer war er? Woher kam er? Wer waren seine Eltern? Die Wasser gaben ihm Antwort, verstanden seine Traurigkeit, sangen für ihn. Nur noch ein wenig hier verweilen! Ein bisschen nur.

      „Justus! Justus, lauf weiter!" Von weiter Ferne hörte er Nellas Stimme. Sie klang so aufgeregt.

      Justus wusste nicht weshalb, es war doch alles gut, hier. Noch nie hatte er sich so gut gefühlt. Dann hörte noch ein Rufen, viel näher, viel deutlicher.

      Die Wasser riefen ihn: „Komm, komm nach Hause!" „Ja!" rief Justus, „gleich bin ich bei euch!" Seine Suche hatte endlich ein Ende. Hier bei den Wassern war seine Heimat, das wusste er, das sangen sie ihm. Nur ein paar Schritte noch.

      „Wartet!", rief er den Wassern zu. Endlich frei, endlich daheim, bestimmt würde auch sie da sein. Die kleine Zerzauste, das Mädchen vom Brunnen, nach dem er schon so lange suchte. Sie würde ihn diesmal nicht im Stich lassen.