Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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und das aufgeschrammte Knie und stürmte der Eule hinterher.

      Natürlich hatte er keine Chance, sie zu erwischen. Im Mondlicht sah er sie nur als schwarzen Umriss in der Luft, der sich immer weiter entfernte. Zum Glück funkelte der Stein in ihrem Schnabel wie ein kleiner Stern und wies ihm den Weg. So rannte Justus die Sommerstraße entlang hinter der Eule her. Seine Schritte klangen dumpf auf dem nächtlichen Asphalt.

      Verwunderlich, dass von dem Lärm ihres Kampfes niemand wach geworden war. Aber keiner trat auf die Straße und sah den blutenden Jungen, der wie besessen eine Eule verfolgte. Vielleicht konnte er wenigstens herausfinden, wohin sie ihre Beute brachte. Vielleicht bewohnte sie eine Höhle im Baum oder so etwas.

      Dass die Sommerstraße am Ende in einer Sackgasse mündete, bemerkte der Junge erst, als er direkt vor dem Zaun stand. Das Tier war darüber geflogen und war nicht mehr zu sehen. Vermutlich hatte es sich in einem Baum versteckt. Vielleicht in der alten Kastanie, die die anderen Bäume überragte und so groß war, dass ihre Äste den Mond zu berühren schienen. In der Breite spannten sie sich ausladend über den großen Garten.

      Hätte Justus tagsüber über den Zaun geblickt, dann wäre er überrascht gewesen, von der üppigen grünen Wiese und den bunten Blumen. Sie wuchsen so zahlreich und wild als habe ein Riese seine Hand geöffnet und wahllos unzählige Blumensamen auf die Erde regnen lassen. Auch das windschiefe purpurne Haus mit den schokoladenfarbenen Ziegeln hätte ihm gefallen. Es sah ganz anders aus als die ordentlichen Reihenhäuser in dieser Siedlung. Doch momentan interessierte sich Justus überhaupt nicht dafür. Alles, was er wollte, war sein Steinmond. Und dafür musste er wissen, wohin sich die blöde Eule verkrochen hatte.

      Er hielt sich die schmerzende rechte Hand und lief am Zaun entlang. Irgendwo musste doch der Eingang sein! Da vorne war das Gartentor, jetzt würde er sich leise auf das Grundstück schleichen und... „Ahhhh!" Zum zweiten Mal in dieser Nacht schrie Justus vor Schmerz. Der Schlag kam mit voller Wucht. Etwas Schweres rammte seinen Kopf. Ohnmächtig sank Justus zu Boden.

      „Hubertus! Hubertus! He, du da, wach auf! Wach auf, Mann, was ist mit dir?" Nella schrie um Hilfe und versuchte gleichzeitig diesen Typen wieder zu Bewusstsein zu bringen. Wer war das überhaupt? Und was machte er mitten in der Nacht vor der Gartentür? „He!" verzweifelt rüttelte sie ihn an der Schulter, schlug mit der flachen Hand auf seine Wange „Hey, wach auf!" Aber der Typ rührte sich nicht.

      Was war das nur für eine Nacht! Erst war Caissa verschwunden, die wilde Eule mit dem verletzten Flügel, die sie seit Tagen pflegte. Und beim Versuch sie wiederzufinden, hatte sie das schmiedeeiserne Gartentor zu stürmisch aufgestoßen. Anscheinend hatte sie den Jungen mit voller Wucht am Kopf getroffen. Hoffentlich lebte er noch. Gruselig, wie er da so auf dem Gehweg lag und sich nicht rührte. Hoffentlich war er nicht ... „Hubertus!" rief sie mit weinerlicher Stimme. Dann hörte sie zum Glück seine schlurfenden Schritte.

      „Lass mal sehen!" Die tiefe Stimme ihres Großvaters beruhigte sie etwas. Hubertus blickte auf den bewusstlosen Jungen und legte ihm sacht die Hand auf den Bauch. Dann untersuchte er die Verletzung an Justus` rechter Hand.

      „Krankenwagen?", fragte Nella.

      Hubertus schüttelte den Kopf. „Den kriegen wir schon wieder hin. Lass uns erstmal reingehen."

      Justus in das Haus zu tragen, kostete ihn kaum Kraft. Hubertus war groß und kräftig, eine gewaltige, Respekt einflößende Erscheinung mit seinem kantigen, zerfurchten Gesicht und dem struppigen, grauen Bart. Doch das Knie seines rechten Beines war steif und er zog es beim Laufen immer leicht hinter sich her. „Meine Kriegsverletzung", sagte Hubertus immer lachend, wenn er auf das Bein angesprochen wurde. Aber Nella, die ihn gut kannte, sah, dass das Lachen ihres Großvaters nur gespielt war. In seinen Augen lag in diesen Momenten ein Schatten, als würde sich ein großer, schwarzer, trauriger Vogel über ihn beugen. Was wirklich mit seinem Bein passiert war, sagte Hubertus niemals. Der Krieg konnte es nicht gewesen sein. Nella kannte Kriege nur aus Geschichtsbüchern und sie waren schon viel zu lange her. Hubertus konnte keinen erlebt haben.

      Hubertus legte den bewusstlosen Jungen auf das Wohnzimmersofa. Nella blickte in den großen Spiegel, der gegenüber an der Wand hing. Müde umrahmten ihre kupferroten Locken ihr blasses und übernächtigtes Gesicht. Auf die Locken waren sie stolz. Ansonsten fand sie sich nicht besonders hübsch mit den runden Wangen und ihrer hellen Haut, die blass schimmerte, wie feines Porzellan und die sich auch in der Sonne nie bräunen ließ. Völlig übernächtigt, wie sie um diese Uhrzeit war, sah sie noch schlimmer aus. „Blasser Pummel", beschimpfte sie sich in Gedanken.

      Im Spiegel beobachtete sie, wie ihr Großvater den bewusstlosen Jungen sorgsam auf das purpurfarbene Wohnzimmersofa bettete. Sie sah ihre Oma, Helen, im Bademantel, die mit kleinen schlaftrunkenen Augen Verbandszeug, eine Schüssel mit Wasser und schließlich noch eine Tasse dampfenden Tee hereinbrachte. Sie musste von den Geräuschen im Haus wach geworden sein. Dass sie den fremden Jungen versorgte, war typisch Oma; immer hilfsbereit und fleißig.

      Früher war sie Model gewesen, das behauptete sie. Und sie liebte es, Nella von ihren Reisen nach Paris, Mailand und New York zu erzählen. Vom Model-Dasein war ihr Diätwahn übrig geblieben. Helen war fast siebzig. Da sie für ihr Leben gern Pralinen aß, war sie längst nicht mehr schlank und testete deswegen eine Diät nach der anderen. Nella und ihr Opa hatten sich den Mund fusselig geredet bei jeder neuen Idee von Helen: Fleischdiät, Essen ohne Kohlenhydrate, Salat-Diät, Fett-Diät, Fastenkur, Heilerde. Oma wurde von ihren Experimenten meistens schlecht, und wenn ihr nicht schlecht wurde, dann bekam sie üble Laune. Manchmal nahm sie auch tatsächlich ab. Einmal hatte sie sogar fünfzehn Kilo geschafft. Weil sie zur Belohnung aber sofort wieder Pralinen aß, hatte sie kurze Zeit später gleich wieder zwanzig Kilo zugenommen.

      Nellas Blick fiel auf den großen, gepolsterten Briefumschlag, der auf der Konsole neben dem Spiegel lag. Wut schäumte in ihr auf. Klar, dass dieser Tag in einer Katastrophe endete. Er hatte auch schrecklich angefangen. Vollmond war außerdem und das verhieß nichts Gutes. Nella hasste Vollmondnächte. Vollmond fanden alle romantisch. Aber romantisch war in ihrem Pummel-Leben nichts. Wutschnaubend fischte sie den Brief aus dem Umschlag.

      Seit Wochen hatte sie sich auf ihre Mutter gefreut. Mit ihr zusammen wollte sie ihren Geburtstag feiern. Die Archäologin Felicitas Marzipan war oft in fernen Ländern unterwegs, um Ausgrabungen zu leiten. Das kannte Nella nicht anders. Sie war es mittlerweile gewohnt, die meiste Zeit zusammen mit ihren Großeltern Hubertus und Helen und ihrem Vater Marian zu sein. Als kleines Mädchen hatte sie sich nach ihrer Mutter gesehnt, wenn diese wieder einmal freudestrahlend aus dem Haus gestürzt war, um das nächste Flugzeug zu einer neuen Ausgrabungsstätte zu erwischen. Nella war oft im Hausflur sitzen geblieben, um den Duft ihrer Mutter so lange wie möglich riechen zu können.

      Seit sie denken konnte, trug ihre Mutter dasselbe Parfüm „Bon Voyage Nr.7“, ein Duft, der sich über lange Zeit im Raum hielt, auch wenn Felicitas Marzipan längst weg war. Wenn Nella so traurig im Flur saß, kam irgendwann einer der Erwachsenen, um sie zu trösten. Meistens Helen mit einer Tasse Kakao. Doch diese Zeiten waren vorbei. Mittlerweile hatte sich Nella in einem Leben mit wenig Mutter eingerichtet. Heute Morgen, nachdem dieser fiese Brief ins Haus geflattert war, hatte sie Helens Trost seit Langem wieder gebraucht. Der Brief besagte eindeutig: Felicitas Marzipan würde zu ihrem Geburtstag nicht kommen: Und sie schien auch nicht die leiseste Ahnung zu haben, dass dies für ihre Tochter wichtig sein könnte. Wie immer dachte Felicitas Marzipan als erstes an sich. Nella blickte mit finsterer Miene auf den Brief:

      Liebste Nella,

      wir sind hier von der Zivilisation abgeschnitten. Den Brief schicke ich einem Kollegen mit, der in die Stadt reist. Ich gratuliere dir ganz herzlich zu deinem Geburtstag! Eigentlich wollte ich ja schon wieder zu Hause sein. Aber unsere Ausgrabungen machen große Fortschritte, sodass wir unmöglich an dieser Stelle abbrechen können.

      Ich weiß, du verstehst, dass ich etwas länger bleiben muss. Deinen Geburtstag holen wir beide nach, versprochen! Anbei schicke ich dir einen Spielstein. Er sieht süß aus. Wie ein kleiner Halbmond, den eine Maus angefressen hat ;-). Irgendwie