Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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spuckte, sobald er es in die Finger bekam. Irgendwie war es auch gerecht, dass mal jemand anderem komische Dinge passierten, nicht immer nur ihr. Doch als sie in Justus' Gesicht blickte, bekam sie Mitleid. Der Typ wirkte völlig hilflos und das war nur verständlich, augenscheinlich waren der zerrissene Mond und die Blutlettern seine erste Begegnung mit einer magischen Ebene. „Naja", meinte sie versöhnlich. „Wenn es dir sagt, du sollst es zurückbringen, dann musst du es wohl zurückbringen."

      Justus sah nicht so aus als kapiere er, was sie da sagte.

      „Warte!" Nella verschwand auf der Treppe, Justus hörte ein Rascheln, ein Rumpeln, dann kam sie mit einem königsblauen Metallkistchen zurück. „Nachtschattenreise" stand in goldenen Lettern darauf. Mit einem Klicken ließ das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut den Metallverschluss aufschnappen. Dann baute sie den Spielplan vor ihm auf, eine Landkarte, in deren Mitte sich eine graue, stattliche Festung befand, auf die Wege aus allen Himmelsrichtungen zuliefen. Ansonsten verzeichnete die Karte vor allem Wald und Ackerland, im Westen markierte ein kleiner Kreis eine Stadt.

      „Malorien", sagte Nella und deutete auf den Spielplan. „Im Westen siehst du die Stadt der Trümmer, ansonsten besteht es aus Ackerland und den traurigen Wäldern. Zentrum ist die Feste der Tränen, dort residiert der König mit seinem Gefolge. Er ist milde, aber äußerst bedrückt. Keine schöne Ebene, die du dir da ausgesucht hast, es gibt bessere Welten."

      Justus wusste nicht, was er davon halten sollte. Diese Nella schien irre zu sein. Er hatte ein Riesenproblem und sie kam mit einem Brettspiel an. Obwohl – sein Problem war alles andere als normal. Justus dachte an das Mädchen vom Brunnen. Wo war sie nur? Hoffentlich ging es ihr gut. Er wusste nicht einmal ihren Namen, trotzdem hatte er Angst um sie. Dies alles war wirklich das Verrückteste, was er jemals erlebt hatte. Der Stein in seiner Hand leuchtete immer noch in ruhig und blau. Gedankenverloren drehte er ihn hin und her.

      „Los!" sagte Nella und drückte ihm einen Würfel in die freie Hand. Justus nahm in zögernd.

      Jemand hielt ihn auf. „Halt!" rief Hubertus. Unbemerkt war der alte Mann ins Wohnzimmer getreten und fischte Justus mit einer schnellen Bewegung den Würfel aus der Hand. „Du kannst nicht gefahrlos in diese Ebene wechseln! Malorien ist eine Schattenwelt, sie ist die Kopie eines anderen Reiches, ein Ausschnitt, eine traurige Version. So etwas sollte niemand alleine betreten, vor allem du nicht, Justus, du hast keine Erfahrung."

      Nella blickte ihren Opa an. Sie hatte es gewusst! Hubertus hielt sie nicht für verrückt! Er hatte zwar zu ihren Abenteuern geschwiegen, aber er hatte ihr die ganze Zeit geglaubt und sie niemals für verrückt gehalten. „Hubertus! Was weißt du?" drängte sie ihn.

      „Kommt! Bevor ihr loszieht, solltet ihr über einige Dinge Bescheid wissen." Der alte Mann bedeutete Justus und Nella, am schweren, hölzernen Esstisch Platz zu nehmen. Er setzte sich zu ihnen.

      Prüfend blickte er den Jungen an. „Verrate mir doch bitte eines: Wer sind deine Eltern? Du kommst aus Kanada sagst du?"

      Justus' Lippen brannten, als er es dem alten Mann sagte, sein Geheimnis, das er den engsten Freunden nicht erzählte, das er ganz tief in sich verschlossen hielt zusammen mit allen unbeantworteten Fragen, die er sich tausend Male in seinem Leben dazu gestellt hatte. Wer bin ich? Woher komme ich? So einfach und doch so schmerzend. „Ich bin ein Findelkind", sagte er. Und der alte Mann nickte schlicht als bestätigte er ihm eine Ahnung.

      Langsam fuhr er dann fort und seine Worte klangen rätselhaft, Nella und Justus hatten Mühe, sie zu verstehen. „Wie gesagt, die Welt, die ihr betreten wollt, ist eine Kopie. Nella, du warst schon einmal dort und die Traurigkeit hat dich so gelähmt, dass du fast nicht wieder nach Hause gefunden hättest. Gleichwohl. Es ist ungeheuer wichtig, den Stein zurück zu bringen."

      Nella nickte. So etwas wie damals würde ihr nicht mehr passieren, jetzt hatte sie Erfahrung, wusste, wie sie sich auf dieser Ebene verhalten musste.

      „Wenn ihr in Gefahr geratet solltet ihr euch auf euer Herz verlassen, denkt nicht nach, tut im Moment größter Gefahr das, was euer Innerstes euch sagt. Die magischen Ebenen setzen mitunter Kräfte in einem frei, die man nicht gekannt und niemals bei sich vermutet hätte."

      „Hubertus, woher weißt du das alles? Bist du auch ein Weltenwanderer? Was beutet die Sache mit dem Steinmond?" Nella fragte und war enttäuscht, als ihr Großvater ihr auswich.

      „Ja, Nella, ich kenne mich aus, besser als mir lieb ist. Doch bitte versteht, ich kann euch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sagen als dies: Es gibt einige, wenige Auserwählte, die die Steinmonde tragen können. Ihr beiden, du und Justus, gehört offensichtlich dazu. Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dem wahren Herrscher die Monde zu bringen, so wie es die Blutlettern befehlen."

      Justus hätte die Worte der beiden zu gerne als Unsinn abgetan. Magische Ebenen, Steinmonde – was sollte dieser Quatsch? „Geh nach Hause, lass den Stein auf dem Tisch liegen und komm nie mehr hierher zurück", sagte ihm sein Verstand.

      Doch Justus konnte nicht auf ihn hören. Nella und Hubertus waren nicht verrückt, er selbst hatte die Blutlettern auf dem Stein gesehen, da war sein seltsamer Traum, der immer wieder kam, das Mädchen mit dem zerzausten Haar, das er unbedingt wieder finden musste, seine ungeklärte Herkunft. So viele Fragen.

      „Vielleicht findest du Antworten hier, hier an diesem Ort, auf dieser Reise", flüsterte die Hoffnung in ihm. Und Justus blieb. Blieb am Tisch sitzen und hörte sich die Worte des alten Mannes an.

      „Das Spielbrett zeigt eine Landkarte. Prägt sie euch gut ein, es ist nicht schwer. Die Burg liegt im Zentrum, nahezu jeder Weg führt euch dorthin."

      Justus und Nella starrten auf das Spielbrett, sahen im Westen eine Stadt, dazwischen Felder, Wald, Wasserfälle und ein Fluss. Und in der Mitte die Burg, umgeben von Felsen und Bäumen. Der Steinmond leuchtete dunkelblau.

      Hubertus sprach weiter: „Ihr dürft euch nicht zu lange in dieser Welt aufhalten, sie frisst eure Seele. Ich werde euch einen Schutz mitgeben, ein Zeitmaß."

      Der alte Mann ging zur Wohnzimmerkommode und zog aus der Schublade ein kleines elfenbeinfarbenes Kästchen. Darin lag auf rotem Samt ein schlichtes Schmuckstück, ein Armband, auf dem eine Reihe tiefblauer Perlen glänzten.

      Hubertus zögerte für einen Augenblick, niemals zuvor hatte er mit seiner Enkelin so gesprochen. Doch sie wechselte seit Monaten die Ebenen, hatte dort viel erlebt und würde ihn verstehen. Er erklärte: „Dies ist ein einzigartiger Reif, eine Tränentropfen-Kette, ein Schmuckstück gefertigt von Elfenhand. Sie bietet euch Schutz. Doch vor allem dient sie euch als Zeitmaß: Zu jeder Mondhalbstunde wird sich ein Tropfen lösen. Haltet euch nur solange in der Welt auf wie Perlen auf der Kette sind."

      Und Nella verstand in diesem Moment: Ihr Großvater glaubte ihr nicht nur all die Ereignisse, von denen sie ihm in letzter Zeit erzählt hatte. Vielmehr: Er konnte selbst in den Welten wandern. Wie sonst käme er an ein Armband gefertigt von Elfenhand?

      Sie wollte fragen, doch Hubertus' Blick gebot, es sei genug. Für weitere Erklärungen sei keine Zeit.

      „Ihr müsst los", drängte er plötzlich. Nella streifte sich den Elfenreif um ihr Handgelenk, Justus verstaute den Steinmond in seiner Hosentasche. Dann nahm er ihre Hand und würfelte.

      Nachtschattenwelt

      Das Mädchen, da war es doch! Er hatte sie aus dem Augenwinkel deutlich gesehen, diese kleine schlanke Gestalt mit den kurzen, zerzausten Haaren und den zerrissenen Kleidern. Sie war Richtung Dachbalken geklettert. Dachbalken?

      Justus blickte nach oben. Aber das Licht war schwach. Er konnte nicht erkennen, ob sich dort etwas bewegte. Justus holte den Steinmond aus seiner Hosentasche. Er hatte die Reise unbeschadet überstanden und leuchtete ihm wie eine kleine, blaue Laterne.

      War dies alles ein Traum? Justus schwebte, er ging, nein, Wirklichkeit! Wenn auch eine andere als die, die er kannte. Das war die aufregendste Reise, die er je unternommen hatte. Irgendjemand hatte Zeit und