Lana Fawall

Steinmondsaga 1


Скачать книгу

seinen Geburtstag eingeläutet hatte. Trost suchend blickte Justus ins Mondlicht. Das würde ein trauriger Geburtstag werden, ohne Freunde. Er fühlte sich allein in dieser neuen Stadt. Vielleicht könnte er das seltsame Mädchen da unten zu einer Mitternachtsparty einladen.

      Wo war sie überhaupt? Justus' Blick blieb am Brunnen hängen, ein, zwei, drei Sekunden länger als nötig. Das Erstaunen riss ihn aus seinem Selbstmitleid. Für einen Moment hatten ihn seine Gedanken blind gemacht. Das Mädchen war verschwunden. Er hatte aus dem Fenster gestarrt, ohne zu sehen. Ohne zu sehen, wohin sie ging.

      „Schade", dachte Justus. Die da unten hatte zwar einen seltsam verwahrlosten Eindruck gemacht, aber er hatte sich ihr nahe gefühlt. Vielleicht, weil sie dieselbe Einsamkeit ausstrahlte, die auch ihn seit Tagen begleitete. Wohin sie wohl gegangen war? Was wollte sie so mutterseelenallein nachts am Brunnen? Sie wirkte nicht wie eine Bewohnerin dieser gutbürgerlichen, sauberen Siedlung, in der sogar die steinernen Wasserspeier aussahen, als schrubbten sie sich einmal am Tag gründlich ab.

      Erst jetzt fiel Justus das seltsame Leuchten auf. Zuerst hielt er es für eine Spiegelung des Mondlichts. Die Oberfläche des Brunnens funkelte wie eine Scheibe aus feinem Silber. Nein, dieses Strahlen konnte nicht vom Vollmond stammen, dafür war es viel zu intensiv. Plötzlich regte sich etwas in der Mitte des Silberwassers. Blau funkelnde Blasen stiegen auf, erst wenige, dann immer mehr. Sie formatierten sich zu Ringen, die im silbernen Wasser schwammen. Der Junge starrte auf den Brunnen. Er konnte sich nicht erklären, was dort unten los war. In den Nächten zuvor war dieses Licht nicht da gewesen, da war er sich sicher. Er stand schließlich öfter hier, um sich von seinem Albtraum zu erholen. Eine Brunnenbeleuchtung wäre ihm aufgefallen.

      Justus blickte hinab auf die silbernen Wassertropfen und die blauen Blasen, die aus der Mitte emporstiegen, sprudelten und sich dann verteilten als folgten sie einer geheimen Ordnung. Seltsamerweise beruhigten ihn die gleichmäßigen Bewegungen. Sie scheuchten die letzten Gedanken an seinen schlimmen Traum beiseite. Auch die Beklemmung, die Justus seit Wochen Nacht für Nacht gefesselt hatte, löste sich. Sie wich einer Entschlossenheit, die er von sich nicht kannte. Das Licht zog ihn zu sich. Justus wollte los, nach unten. Dies alles, das wusste er mit plötzlicher Sicherheit, ging ihn etwas an. Dies war für ihn bestimmt! Das Mädchen war nicht zufällig da gewesen. Sie war wegen ihm gekommen! Doch wer war sie? Er hatte sie nie zuvor gesehen. Und was wollte sie?

      Leise zog sich Justus eine Trainingshose und ein T-Shirt über seinen kurzen Schlafanzug und schlich die Treppe hinab. Im Kinderzimmer von Ada und Ida war alles still. Die beiden schliefen und atmeten ruhig. Die Zimmertür seiner Eltern war angelehnt. Das gleichmäßige Schnarchen seiner Ziehmutter kam Justus plötzlich fremd vor, fern wie aus einer anderen Welt. Er schlüpfte auf bloßen Füßen aus der Haustür, ohne entdeckt zu werden.

      Die Luft war angenehm kühl. Justus atmete tief ein. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich gut, obwohl ihm diese Siedlung auch mitten in der Nacht nicht gefiel. Selbst im Schein des Mondlichts sah hier alles geordnet aus. Blitzeblank gefegte Straßen verliefen an Vorgärten, die den Eindruck machten, als würden sie täglich von einer Horde Putzfrauen gewienert. Alle Bäumchen am Weg hatten die gleiche Größe und Form. Sie waren zu jeder Jahreszeit mit dem passenden Schmuck dekoriert. Gerade hatten bunte Bänder die Plastikostereier abgelöst. Mit Sicherheit würden Herbstschmuck und Weihnachtsanhänger folgen. Selbst der Kinderspielplatz machte einen wohlgeordneten Eindruck. Verwunderlich, dass am Eingang kein Schild stand, man möge doch bitte Hausschuhe auf dem Gelände tragen.

      Die Häuser schienen ebenso im Tiefschlaf zu liegen wie ihre Bewohner. Sie sahen alle genauso aus wie das Haus, in dem er neuerdings wohnte. Alle waren dezent pfirsichfarben gestrichen und hatten grüne Fensterläden. Den einzigen Unterschied machten die Namensschilder an den Türen. Alle Straßen führten in der Mitte auf den Brunnen mit den steinernen Figuren zu. Ihre Schatten wirkten bedrohlich, irgendwie zu groß und falsch. Aber Justus hatte keine Angst.

      Jetzt, weit nach Mitternacht, war hier niemand zu sehen. Der Junge blickte sich suchend um. Das seltsame Mädchen war immer noch fort. Er war enttäuscht. Insgeheim hatte er gehofft, es würde zurückkommen. Er hätte sie so gerne gefragt, wer sie war und warum sie sich nachts hier herumtrieb. Er hatte das unbestimmte Gefühl, sie hätte ihm mehr über das komische Licht sagen können. Von Neugier getrieben setzte sich Justus auf den Brunnenrand. Probehalber tauchte er seine Füße in das silberhelle Wasser. Nichts passierte. Lediglich ein paar Tropfen perlten wie glitzernde Funken auf. Er bewegte die Beine und versuchte mit den Zehen einen Ring aus blauen Blasen zu erwischen. Als er ihn berührte, stieb eine Fontäne aus der Brunnenmitte. Justus zuckte vor Schreck zusammen und zog seine Beine hastig auf den steinernen Rand zurück. Die Blasen quollen plötzlich überall hervor. Sie sprudelten wütend, zischten, schlugen kleine Wellen und übermalten das silberne Wasser dunkelblau, bis es aussah wie Tinte.

      Justus sah vom Brunnenrand aus zu. Er bewegte sich nicht und wagte kaum zu atmen. Er starrte in den Brunnen. Wie lange? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Was ging hier vor? Irgendwann stiegen keine Blasen mehr auf. Die Farbe verzog sich nach und nach. Als nur noch ein paar Schlieren das Wasser durchzogen, bemerkte der Junge, dass auf dem Grund etwas lag, ein kleines Ding, das leuchtete.

      Ein Feigling war Justus nicht! Seine Hosenbeine saugten sich bis über die Knie mit Wasser voll, als er in den Brunnen kletterte. Er fischte und griff mehrmals ins Leere. Das funkelnde Ding war schwer zu fassen. Endlich hielt er es in den Fingern. Er hätte nicht gedacht, dass es so klein war. Es fühlte sich an wie ein Stein und war gleichzeitig auf seltsame Art lebendig.

      Der Junge umschloss seinen Fund mit der Faust und kletterte aus dem Brunnen. Auch die Ärmel seines T-Shirts waren inzwischen klamm und nass. Aber so beschäftigt, wie er war, bemerkte er das nicht.

      Auf der Straße sah er sich seinen Fang näher an. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Ding hatte die Form eines Halbmondes, der an der Innenseite ausgefranst war, so als existiere eine zweite Hälfte, die jemand gewaltsam abgerissen hatte. Justus fühlte sich seltsam. Er konnte sich nicht erklären, was er da in den Händen hielt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und doch gefiel ihm dieser Steinmond auf eigenartige Art und Weise. Er hatte ihn gefunden. Er gehörte ihm ganz allein. Justus fühlte sich so glücklich wie seit Langem nicht mehr. Der Stein leuchtete immer noch. Aber ein Lämpchen war nicht zu erkennen. Und einen Schalter zum an- und ausknipsen gab es anscheinend auch nicht. Justus sah sich seinen Fund von allen Seiten an, drehte ihn, suchte, ob irgendwo doch ein Batteriefach versteckt war. Und da veränderte sich das Licht. Das dunkle Blau wurde heller und heller, bis es schließlich gleißend weiß strahlte wie eine Neonröhre. Justus brannten die Augen beim Hinsehen. Das Gefühl, er hielte etwas Lebendiges in den Fingern, verstärkte sich. Der Steinmond schien zu atmen, so kam es Justus vor. Und plötzlich erschienen auf der Oberfläche Buchstaben in blutroter Farbe. Sie waren so winzig wie Reiskörner und Justus hatte Mühe sie zu entziffern: „Dieses Kleinod hat verloren", begann er leise. Und dann schrie er vor Schmerz.

      Die Eule war im Sturzflug vom Himmel gekommen. Sie rammte ihn mit voller Wucht. Normalerweise hätte Justus den Angriff gut parieren können. Das Tier war verhältnismäßig klein und er hatte eine sportliche Statur. Aber die Eule hatte ihn überrascht. Justus stolperte, fiel zu Boden und biss die Zähne zusammen. Sein Knie fühlte sich an, als sei es beim Aufprall auf den Asphalt in tausend Teile gesprengt worden. Geistesgegenwärtig hielt er sein Fundstück fest in der Faust. Er wollte sich wieder aufrappeln. Da kam die Angreiferin ein zweites Mal. Sauste über ihn hinweg, zauste sein kurzes blondes Haar, schrammte sein Gesicht mit ihren Klauen und streifte seine Faust. Justus ignorierte die Schmerzen und umklammerte fest den Steinmond.

      „Du bekommst ihn nicht, das kannst du vergessen!", zischte er. Er hatte keine Zeit sich zu wundern, woher seine Aggression kam. Normalerweise löste er Probleme ruhig. Aber dieser leuchtende Stein machte etwas mit ihm. Er fühlte sich anders, seit er ihn gefunden hatte, irgendwie größer. Und er fühlte, dass er seinen Fund um jeden Preis verteidigen musste. Er wollte ihn unbedingt behalten!

      Die Eule wollte den Stein ebenfalls um jeden Preis. Beim nächsten Angriff hackte sie nach seiner geschlossenen Faust. Justus schrie auf, sah nachtschwarzes Blut seinen Daumen herunter rinnen. Die Angreiferin nutzte diesen Moment, packte mit ihrem Schnabel den kleinen, funkelnden Gegenstand