Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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aufs Ohr hauen. Es dämmert bald." Helen schickte Hubertus und Nella nach oben. Sie breitete eine Decke über Justus und setzte sich neben ihn. Höchstpersönlich würde sie den Genesungsschlaf dieses Jungen bewachen.

      „Boaaaa, Uäng, Pffffff" - komische Töne brachten Justus' Bewusstsein zurück. Schief und scheußlich bohrten sie sich in seinen Kopf. Ein Prusten, ein Schnaufen, ein Kreischen. Sie taten ihm weh, streiften die pulsierende Wunde an seiner Wange, weckten den tickenden Schmerz in seiner Hand.

      „Er wacht auf", sagte eine Stimme, die er kannte. Im Vergleich zu dem schrecklichen Husten und Prusten kam sie Justus äußerst freundlich vor. Aber auch etwas dünn. Als würde ein Vogel gegen einen Tornado ansingen. „Uääng, booong, pfiiiiiiiii.“

      Justus blinzelte und blickte in das Gesicht eines Mädchens: grüne Augen, dunkelrote Locken, etwas pummelig und blass. Sie sah ihn besorgt an.

      „Alles klar?", fragte sie.

      „Nella, lass mich mal!" Das Mädchengesicht verschwand aus seinem Blickfeld. „Ich bin Hubertus, Nellas Opa", stellte sich der Mann mit dem Bart vor. Sein knorriges Gesicht erinnerte Justus an einen alten Baum.

      „Steinmondträger, du warst vorhin schon einmal wach. Kannst du dich erinnern?", fragte Hubertus.

      Justus wollte beherzt mit dem Kopf schütteln. Doch der heftige Schmerz, der ihn durchzuckte, sorgte dafür, dass er es nur ganz leicht tat. Steinmondträger hatte der Mann ihn genannt und ihn dabei angesehen, als wolle er ihn prüfen.

      „Wie geht's dir jetzt?" Hubertus zauberte ein Lächeln in sein knorriges Gesicht. „Meine Enkelin hat dich tatsächlich mit unserem Gartentor niedergestreckt. Ich habe ihr schon hundert Mal gesagt, sie soll nicht so aus der Tür stürmen." Es klang wie eine Entschuldigung.

      Uääääng, buoong, töööööööt – da war es wieder, dieses scheußliche Geräusch. Justus verzog schmerzhaft das Gesicht.

      „Mein Vater und seine Schüler", sagte Nella.

      Den Beruf ihres Vaters zu erklären, war eine weitere Peinlichkeit in ihrem Leben. Marian Marzipan spielte Trompete und hatte einst großen Erfolg als Straßenmusiker gehabt. Irgendwann hatte er das Herumreisen satt und folgte stattdessen seiner Passion: Er wollte musikalisch unbegabten Menschen die Musik näher bringen. Dazu hatte er das Label „Schiefe Töne" gegründet. An drei Tagen in der Woche gab er zu Hause in der Sommerstraße Musikunterricht für Menschen ohne Ton- und Taktgefühl.

      Nella war sich sicher: Spätestens nach dieser Erklärung würde der verletzte Junge wissen, in welchem Irrenhaus er hier gelandet war. Wahrscheinlich würde er so schnell wie möglich Reißaus nehmen, egal wie wackelig er noch auf den Beinen war. Hier in dieser Familie war wirklich nichts normal. Aber Justus ging nicht weg. Er lachte sie angesichts ihres Geständnisses nicht einmal aus. Offensichtlich hatte er andere Probleme, als sich Gedanken über Marian Marzipan und seine Musik zu machen. Justus wechselte sogar das Thema:

      „Ich suche ein Mädchen mit zerzausten kurzen Haaren und zerrissener Kleidung", begann er. Die Kleine vom Brunnen war ihm wieder eingefallen. Er wollte sie sofort suchen. Er hatte Angst um sie, obwohl er sie nicht kannte. Vielleicht wussten Hubertus und Nella etwas über sie. Wenn sie hier in der Gegend wohnte, musste sie ihnen aufgefallen sein. Das Mädchen war wichtig. Justus wusste nicht, warum. Er wusste nur, dass es so war, dass er sie unbedingt finden musste.

      „Nein, so eine habe ich noch nie gesehen." Nella schüttelte den Kopf und Justus spürte, wie die Enttäuschung in ihm brannte.

      „Ich werde uns ein Frühstück machen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hab' einen Bärenhunger." Hubertus, der dem Gespräch der beiden wortlos zugehört hatte, schlurfte in Richtung Küche.

      Nella sah Justus an und versuchte, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Der Typ sah gut aus. Sie kam sich in seiner Gegenwart so klein vor, so hässlich. Das verschwundene Mädchen, nachdem er so fieberhaft suchte, war garantiert wesentlich hübscher als sie. Es hatte bestimmt keine Hautfarbe, die an helles Porzellan erinnerte.

      Doch sie dachte an seine Worte aus der vergangenen Nacht. Er hatte im Schlaf nicht nur von dem Mädchen gesprochen, sondern auch von einer Eule. Caissa? Nella riss sich zusammen: „Ich such' auch jemanden, ein Tier, eine Eule. Sie ist seit gestern Abend verschwunden", sagte sie.

      Unwillkürlich tastete Justus nach dem blutverkrusteten Striemen in seinem Gesicht. „Da war so ein wild gewordenes Vieh. Es hat mich angegriffen. Ich hatte etwas im Brunnen gefunden, so einen kleinen Stein. Den hat sie mir gestohlen. Dann ist sie zu dem Haus hier geflogen und ich hinterher." Seine Worte klangen wie die eines trotzigen Kindes, dem das Lieblingsspielzeug entrissen worden war und zugleich so müde, so unendlich müde und erschöpft.

      Nella vergaß ihre Schüchternheit. Sie griff zum Beistelltisch und legte Justus den halbmondförmigen Stein in die Hand. „Dieser hier lag vor der Haustür. Wahrscheinlich hat die Eule ihn fallen lassen. Dann ist sie vielleicht ganz in der Nähe", sagte sie. Caissa, warum versteckst du dich?

      Justus wog den Stein in seinen Händen. Wie in der vergangenen Nacht spürte er die seltsame Schwere und diese Anziehungskraft, gegen die er sich nicht wehren konnte. Der Halbmond schmiegte sich in seine Hand, als sei er ein Teil von ihm. Doch diesmal leuchtete sein Fundstück nicht. Es blieb grauer, lebloser Stein. Er fühlte sich kalt an und glatt.

      „Ich hab auch so einen." Nellas Worte klangen schlicht. Doch Justus Herz schlug schneller. Nella legte ihm den zweiten Stein in die Hand, jenen aus dem Päckchen ihrer Mutter. Das Gegenstück, wie Justus feststellte. Die beiden Teile fügten sich wie zwei Puzzlehälften zusammen. Der entzweigerissene Mond vereinigte sich auf seiner Handfläche zu einem Ganzen. Flach wie ein Kiesel lag er in seiner Hand.

      Sacht strich Justus mit dem Finger über die Bruchstelle. Als sei sie eine Wunde und der Stein ein verletztes Lebewesen, das er trösten musste. Da pulsierte der Steinmond wie in der vergangenen Nacht. Und wieder war es dem Jungen, als atme ein lebendiges Wesen zwischen seinen Fingern. Auch den blauen Lichtschein kannte Justus bereits. Der Steinmond leuchtete stärker und stärker. Er flimmerte, strahlte für einige Sekunden in den Farben des Regenbogens und wurde schließlich weiß. Gleißend weiß, sodass Justus und Nella die Augen beim Hinsehen brannten. Das alles kannte der Junge bereits. Und er kannte auch die Buchstaben, die auf der Oberfläche des Steinmonds erschienen. Sie waren tiefrot, als habe sie jemand mit seinem eigenen Blut geschrieben.

      Diesmal wurde Justus nicht gestört. Leise formte er mit den Lippen Wort für Wort: „Dies Kleinod hat verloren der Herrscher Maloriens; erwartet zurück die wertvolle Fracht. Der Dieb wird bezahlen mit seinem Blut." Die Buchstaben wurden kleiner und verschwammen.

      „Der Herrscher Maloriens!" Dem Mädchen, dessen Gesichtsfarbe so hell war, wie feines Porzellan, sah man die Blässe nicht an, die sich in seinem Herzen ausbreitete. Nella hatte die Worte leise mitgesprochen. Nun starrte sie stumm auf Justus. Was war das nur für ein seltsamer Junge? Was hatte ausgerechnet dieser Typ mit Malorien zu schaffen? Er sah so normal aus, einer, der sein Leben im Griff hatte, ganz anders als sie.

      Malorien war eine der magischen Ebenen, die sie auf ihren Reisen besucht hatte, genau genommen handelte es sich um die schlimmste aller Welten, in der sie bislang gelandet war. Malorien war düster, eine Welt zwischen Leben und Tod. Sie kannte das Schloss und den malorischen Herrscher mit dem verwundeten Herzen. Er herrschte gütig, doch verbreitete er eine Trauer, die sich wie eine schwere schwarze Decke über sein Reich legte und alles erstickte. Malorien war die Welt einer alles abstoßenden Traurigkeit und Nella hatte sich geschworen, nie mehr einen Fuß dorthin zu setzen. Ohnehin hatte sie damals Glück gehabt, dass sie nicht vor lauter Traurigkeit in dieser Welt hängen geblieben war. Pures Glück. Sie hing ihren Gedanken nach.

      „He hörst du mir überhaupt zu?!" Justus Stimme zerrte sie in die Wirklichkeit. „Was machen wir jetzt mit diesem Dings? Warum fängt es bei mir immer zu Leuchten an? Und wer ist dieser König von Malorien?" Er quengelte wie ein kleines Kind.

      Nella schnaubte. Dieser