Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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er, sich zu befreien. Sie hatte ihn gepackt, das Mädchen mit den roten Haaren. Was wollte sie? Nella, er hatte sie einmal gekannt, aber das war lange her. Sie verstand ihn nicht. Er wollte nach Hause. Er gehörte nicht zu ihr. Hier bei den weinenden Wassern war sein Platz!

      Nella gab nicht auf, sie zog und zerrte an Justus. „Komm, bitte, wach auf, du musst weg hier, das hier ist eine Falle!" Sie flehte ihn an.

      Warum?! Was redete sie da? Sie sollte ihn in Ruhe lassen! Was bildete sie sich ein?!

      Mit voller Kraft schlug Justus ihr ins Gesicht. Blut schoss aus ihrer Nase, sie taumelte zurück und blickte ihn einen Moment entsetzt an, aber sie gab nicht auf. Im Gegenteil. Mit ihrem ganzen Gewicht klammerte sich Nella an Justus.

      „Geh nicht. Komm mit! Wir müssen weiter! Das überlebst du nicht!"

      Die Wasser sangen so schön. So schön! Er hörte Nellas Stimme nur noch aus weiter Ferne. Auch seine Bewegung, mit der er sich aus ihrer Umklammerung wand, und der kräftige Schlag, mit dem sie zu Boden fiel, erschienen ihm unwirklich. Er sah noch, dass das Mädchen - wie hieß sie überhaupt? - sich aufrappelte und verschwand.

      Wohin? Egal! Das ging ihn alles nichts an. Er musste sich schleunigst auf den Weg machen, zu den Wassern, die ihn riefen. Seine Schuhe wurden nass, seine Beine, sein Bauch, aber das störte Justus nicht. Im Gegenteil, er liebte die Wasser, die ihn einhüllten wie in einen wohlig warmen Kokon, die für ihn sangen, die ihn nach Hause bringen würden. Bis zum Hals stand er im Fluss.

      „Justus, komm weiter! Bald bist du zu Hause!"

      Und er rief ihnen entgegen: „Wartet! Lasst mich nie mehr allein!"

      Die Wogen des strudelnden Falls schlossen sich über seinem Kopf zusammen und raubten ihm den Atem. Gleich, gleich hatte er es geschafft, gleich war er daheim. Er, das Findelkind, daheim. Endlich!

      Dann plötzlich spürte Justus diesen Sog. Irgendetwas zog ihn fort. Wohin? Er bewegte sich nicht, er wurde bewegt. Eine Kraft, gegen die er sich nicht wehren konnte, zerrte ihn mit sich, zog seinen Kopf aus den Tiefen des Flusses, zog ihn an Land, den Weg entlang, immer weiter, immer weiter.

      Justus hustete und spuckte. Er japste nach Luft. Gleichzeitig zerriss ihm die Sehnsucht nach dem Wasser das Herz. Doch er konnte nicht stehen bleiben. Diese seltsame Kraft ließ ihn nicht los. Er wollte rufen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er kämpfte gegen die Kraft, die ihn mit sich zog. Er wollte hier bleiben! Er musste zurück ins Wasser! Justus legte seine ganze Energie in seine Schritte. Doch die Kraft drängte ihn ab wie ein starker Wind, gegen den er nicht ankam. Justus kämpfte bis zur Erschöpfung. Tränen liefen ihm über die Wangen, er schmeckte das Salz. Wie sollte er ohne diese Melodie leben? Ohne Zuhause?

      Die Sehnsucht verschwand, denn das Rauschen wurde leiser. Es war nur noch als Gurgeln zu hören und vermischte sich schließlich mit den Geräuschen der Umgebung. Dann war alles still. Die weinenden Wasser lagen hinter ihm.

      Justus stand auf einer Wiese. Seine Kleider tropften und er zitterte vor Kälte. Auf einem Felsen in der Nähe sah er Nella. Er ging zu ihr.

      Er blickte auf den schmutzigen Ärmel ihres Pullovers. Sie hatte versucht, sich damit das Blut aus ihrem Gesicht zu wischen. Das war ihr nur mäßig gelungen. Der Ärmel war verschmiert, und der blassbraune Fleck in ihrem Gesicht sah aus wie eine schlechte Kriegsbemalung.

      Blut? Woher? Die Erinnerungen verdrängten die Trance, in der er sich befand. Justus schämte sich. Sein Schlag hatte Nella voll auf der Nase getroffen. Sie sah den Blutstropfen zu, die über den Stein rannen. Und mit ihnen rann die blaue Farbe vom Armband aus Elfenzeit. Ihre Blicke trafen sich und Justus merkte: Auch diesmal war Nella nicht sauer, sie war auch nicht wütend. Sie schien erschöpft und unendlich erleichtert. Minutenlang schwiegen sie.

      „Was war das?", fragte Justus leise und wagte nicht, den Gedanken weiter zu denken.

      Nella sah ihn an und versuchte ein Grinsen: „Du wolltest dich eben mal ertränken."

      Sie wurde ernst. „Ich war mir irgendwann sicher, dass ich das nicht schaffe. Ich hatte keine Kraft, deinen Körper zu retten. Du hast mich weggestoßen und warst drauf und dran in den weinenden Wassern zu ertrinken. Dann fielen mir Hubertus' Worte ein: 'Hört auf euer Herz, nicht auf euren Verstand.' Klingt kitschig, nicht wahr? Aber als ich daran dachte, ist irgendetwas passiert. Es war wie in meinem Traum. Ich hatte plötzlich Macht über die Schatten. Ich hatte nicht die Kraft deinen Körper zu retten, aber deinen Schatten konnte ich mitnehmen. Er gehorchte mir.“ Sie macht eine kurze Pause und sagte dann nachdenklich: „Deinem Schatten musste dein Körper wohl folgen, auch wenn noch ganz andere Kräfte an ihm zerrten."

      Nella schwieg. Sie musste das Gesagte selbst erst einmal verdauen. Eine Schattenfängerin. Sie hatte davon gehört. Es gab Geschichten von Schattenfängern, von Schattenwebern, Hubertus selbst erzählte gerne davon. Offensichtlich besaß auch sie diese Gabe.

      Justus hörte ihren Worten zu. Und auch diesmal erklärte er das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut nicht für verrückt. Er hatte in den vergangenen Stunden so viel erlebt. Ohne Zweifel: Es gab mehr als nur eine Wirklichkeit. Schattenfängerin. Schattenweberin. Wie auch immer.

      „Du hast mir das Leben gerettet und das werde ich dir nie vergessen!" Er gab Nella einen Kuss auf die Wange. Sie sah ihn an, ohne verlegen zu werden.

      „Übertreib's mal nicht, Steinmondträger. Das war pures Glück. Ich habe mit dem Schattenfangen erst angefangen. Ich bin noch gar nicht gut darin."

      Sie blickte besorgt auf den Elfenreif. Perlen tropften. Das Armband sah abgegrast aus wie ein leerer Beerenstrauch. Die Zeit drängte.

      „Lass uns den Stein zurück bringen und dann endlich von hier verschwinden. Ich hab' diese Welt so satt", sagte sie.

      Justus kramte aus der Tasche seiner klammen Hose den Stein hervor. Er war zum Glück noch da. Jetzt leuchtete er wieder und pulsierte ruhig vor sich hin wie ein kleines, schlafendes Tier. Im Nachhinein erschien es ihm, als habe der Steinmond ihn gewarnt. Oh ja, er musste noch viel lernen, wenn er zukünftig auf magischen Ebenen überleben wollte.

      Sie brachen auf. Soweit sie sich an den Spielplan der Nachtschattenwelt erinnerten, konnte es zur Burg nicht mehr weit sein. Seine nasse Kleidung behielt Justus am Körper. Im Dämmerlicht dieser Welt würde sie ohnehin nicht trocknen.

      Als dunkler, trauriger Schemen ragte die Feste der Tränen im Dämmerlicht vor ihnen auf. Sie glich mit ihren hohen Mauern und dem tiefen Graben eher einer Burg als einem Schloss. Aber selbst wenn ihre Außenmauern mit Gold und Prunk besetzt gewesen wären, so hätte das fade Licht alle Farben geschluckt.

      Das Nachtschattenreich war wie ein trockener Schwamm, der Farben und Fröhlichkeit aufsaugte. Ja, Malorien war traurig, traurig und kalt, kein Ort, an dem Justus länger als nötig bleiben wollte. Gleichzeitig kam es ihm vor, als habe ihn diese Welt gerufen. Es war so leicht für ihn gewesen, hierher zu kommen. Dieser leuchtende Stein hatte ihn angezogen wie ein Magnet sein Gegenstück. Es war, als habe er ihn auserwählt. Auserwählt, um ihn seinem rechtmäßigen Besitzer, dem Herrscher Maloriens, zurückzugeben.

      Justus seufzte. Wie klein erschienen ihm jetzt alle Probleme, mit denen er sich gestern noch herumgeschlagen hatte. Der Umzug, die Schule, seine Freunde. Weit weg war das alles.

      „Komm, lass uns beeilen, wir haben es gleich geschafft!" Nella fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich weiter, den gewundenen Pfad zur Burg hinauf.

      Es roch trotz der Dunkelheit nach Sommer, nach süßen, wilden Beeren, die im Gestrüpp am Wegrand wuchsen. Zikaden sangen ein Lied. Sie brauchten kein Licht, um fröhlich zu sein.

      Die bewaffneten Wachen am Eingangstor nahmen Nellas und Justus Vorbeihuschen nur als einen kleinen Windhauch wahr. Doch selbst wenn die Schattenweberin und der Steinmondträger sichtbar gewesen wären, hätten die Männer kein großes Hindernis dargestellt. Sie waren so betrunken, dass sie keinen Säbel mehr schwingen konnten.

      Der