Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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Zweiten hatte der Rausch in Tiefschlaf versetzt. Sein lautes, prustendes Schnarchen klang wie das Schnaufen eines wilden Tieres und hätte alle Feinde in zehn Meilen Entfernung in die Flucht geschlagen.

      Doch Feinde gab es in diesem Land nicht. Malorien war zwar todtraurig, aber friedlich. Das Eingangstor stand offen. Nella und Justus schlüpften in den Palast.

      Kein Lärm. Ihre Schritte hallten nicht, als sie durch den weitläufigen, leeren Gang liefen. Aber das wunderte Justus nicht. Unsichtbare machten hier keinen Lärm.

      Der tanzende Schein der Kerzenflammen warf lange unruhige Schatten in den Gang. Auf der rechten Seite gingen eisenbeschlagene Türen ab, die Fenster zur Linken gaben den Blick auf den Burghof frei. Menschliche Stimmen tönten bis hier oben. Unten auf dem Burghof war gerade Markttag, was selbst im Nachtschattenreich ein Anlass für die Menschen war, zusammenzukommen und freundlich miteinander zu plaudern. Ab und zu lachte sogar jemand

      „Nella, wie finden wir den König?" Justus flüsterte, obwohl er wusste, dass niemand sie hören konnte.

      Nella zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dieses Dings wird uns irgendwie von selbst zu seinem Besitzer führen."

      Justus blickte zweifelnd auf den Steinmond in seiner Hand. So einfach würde er es ihnen wahrscheinlich nicht machen, auch wenn sie den Weg bislang ohne Mühe gefunden hatten. Angestrengt versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen wie die Burgen und Schlösser aussahen, die er in seinem Leben schon besichtigt hatte. Vielleicht gab es ja eine Gemeinsamkeit im Bau, anhand derer sie die Gemächer des Königs finden konnten.

      Ein heftiges Klacken störte seine Überlegungen. Die hastigen Schritte hinter ihnen kamen näher. Ein Mann hechtete an ihnen vorbei. Er war groß und dünn. Sein helles Gewand war so eng, als habe es ihm jemand auf den Körper genäht. Er setzte seine Füße weit ausladend vorwärts. Offensichtlich befand er sich in großer Eile. Er schnaufte laut und schnell wie jemand, der einen weiten Weg hinter sich hat und gerade zum Endspurt ansetzt. Vielleicht ein Bote? Einer, der zum König lief?

      Justus gab Nella einen Knuff: „Komm!" rief er einer plötzlichen Eingebung folgend und stürmte dem Läufer hinterher.

      Der Mann hatte inzwischen eine steinerne Treppe erreicht. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, stürmte er hinauf. Justus und Nella nahmen die Stufen so schnell sie konnten, trotzdem verloren sie immer mehr Meter. Justus erreichte als Erster das Ende der Treppe und sah gerade noch, wie der Läufer um die Ecke bog.

      „Komm, weiter!" Er reichte Nella die Hand, die hustend oben angekommen war. Ihr Hals brannte wie Feuer, sie hatte Seitenstechen und japste nach Luft. Aber sie nickte und setzte tapfer einen Schritt vor den nächsten. Nur weiter! Der Gang, in den sie einbogen, war ebenfalls weitläufig und leer bis auf das Kerzenlicht, das flatternd tanzte. Das Ende säumten zwei riesige, prachtvoll verzierte, hölzerne Flügeltüren.

      Sie standen offen und gaben den Blick in einen gewaltigen Saal frei, dessen Mitte ein prächtiger Thron zierte. „War doch ganz einfach, den Thronsaal zu finden." Nella hielt sich ihre von Seitenstechen gepeinigte linke Seite und versuchte ein Grinsen. Justus zögerte. Irgendwie kam ihm das alles zu einfach vor. Doch er drückte das leise Gefühl drohender Gefahr beiseite und betrat festen Schrittes den Raum.

      Nella und Justus stellten sich neben den Läufer. Er hatte auf halben Weg zum Thron haltgemacht. Der hagere Mann schnaufte so, dass er zunächst kein einziges Wort herausbrachte.

      Der König hatte sich erhoben und eilte seinem Boten entgegen. „Seid gegrüßt Olympus, mein Teurer! Warum seid ihr so in Eile?" Aufgeregt winkte er seinen Bediensteten. „Bringt dem Tapferen Wasser!"

      Der König war von kleiner Statur und musste ungefähr Hubertus' Alter haben. Sein Leben war nicht leicht gewesen, davon erzählten die tiefen Furchen in seinem Gesicht. Den schütteren dunklen Haarschopf bedeckte eine reich verzierte Krone. Über seinem schlichten Gewand aus hellem Leinen leuchtete eine türkisfarbene Robe.

      Der König hob die Hand, um seine Diener heranzuwinken und Justus bemerkte dabei die offene Wunde am Arm des Herrschers. Sie blutete ohne Unterlass. Doch der gütige Herrscher schien daran gewöhnt zu sein. Als gehöre das grausame Mal wie selbstverständlich zu ihm, tupfte er sich in regelmäßigen Abständen mit einem Tuch das Blut vom Arm. Immer wenn es von roter Farbe durchtränkt war, kam ein Diener herbeigelaufen, um es auszuwechseln. Dies geschah so selbstverständlich, als hätten alle Beteiligten ihre Handgriffe schon hundert Mal ausgeführt.

      Nella starrte auf dieses bizarre Schauspiel, dann flüsterte sie Justus zu: „Leg den Stein einfach auf den Boden, das muss reichen und dann lass uns hier weggehen."

      Justus gehorchte ihren Worten, ohne weiter nachzudenken. Er vertraute auf ihre Erfahrung.

      Er trat einen weiteren Schritt auf die beiden Männer zu. Olympus, der Bote, trank Wasser aus einem tönernen Becher. Angesichts der Eile, die er eben noch an den Tag gelegt hatte, um zum Thronsaal zu kommen, ließ er sich nun Zeit. Der König stand ruhig da und wartete geduldig, bis sein Bote sich erholt hatte.

      Von Justus, der direkt neben ihm stand, und von dem Steinmond ahnte er anscheinend nichts. Justus bückte sich und legte den blau glimmenden Steinmond sorgsam und vorsichtig neben den König. Das Leuchten wurde stärker. Der Stein pulsierte wie ein kleines aufgeregtes Tier. Leise zog sich Justus zu Nella zurück.

      Der Elfenreif an Nellas Arm gab den vorletzten Tropfen frei. Viel Zeit blieb nicht mehr, bald mussten sie in ihre Welt zurückkehren. Justus hoffte, seine neue Freundin wüsste den Weg dorthin. Doch noch war es nicht so weit. Zwei Perlen hingen noch am Reif und vielleicht würden sie Zeugen davon werden, wie der König sein Eigentum bemerkte. Sie warteten gespannt.

      Der Läufer hatte ausgetrunken und stellte den tönernen Becher auf das Tablett eines Bediensteten. Als der Diener sich umdrehte und ging, hob Olympus seine Stimme an. Er sprach ruhig und wohlüberlegt.

      „Eure Majestät, verzeiht die Störung, aber es haben sich grausige Dinge ereignet, von denen Ihr unbedingt ..." Weiter kam er nicht, sein Schmerzensschrei zerriss die Luft. Sein Todesschrei.

      Eine mächtige blaue Flamme war aus dem Stein am Boden aufgeschossen. Ein Leibwächter riss den König mit sich. Doch für den Läufer kam jede Hilfe zu spät. Die Flamme kletterte seine Beine hinauf, züngelte aggressiv um seinen Körper, fraß ihn mit Haut und Haaren. So schnell.

      Nur wenige Sekunden dauerte das alles, ein Wimpernschlag unterschied Leben und Tod. Der Mann zerfiel zu Staub, den kleine blaue Flämmchen am Boden umspielten. Justus und Nella waren instinktiv zur Seite gesprungen. Der Steinmond hatte sich bemerkbar gemacht, doch auf eine völlig andere Art, als sie gedacht hatten.

      Erstarrt blickten die beiden auf die Szene: Anstelle des Boten war nur noch ein Aschenhäufchen zu sehen. Langsam zogen sich die Flämmchen am Boden zurück. Der Steinmond leuchtete nicht mehr. Wie ein kleines, schwarzes Kohlestück lag er da. Der Steinmondträger hörte nichts, nur das Pochen seines eigenen Herzens.

      Der Schrei des Königs zerriss die Stille und weckte Justus und Nella aus ihrer Schockstarre: „Alarm! Wachen! Angriff!" Sein Ruf scheuchte die Diener aus den Kammern und versetzte die Menschen im Schloss in Panik. Stimmengewirr, Rufen, Kreischen.

      Die Leibwächter des Königs bahnten dem Herrscher einen Fluchtweg durch den ausbrechenden Tumult. Von überallher strömten plötzlich Menschen, Diener, Leibwachen in den Thronsaal und auf die Gänge.

      Die Burg hatte die ganze Zeit so ruhig gewirkt, nun herrschte Todesangst. Justus rang um Fassung. Was hatte er nur angerichtet! Dieser Stein war kein Geschenk! Er hatte ihn zum Überbringer einer Todesbotschaft gemacht.

      „Ich muss ihn holen und ihn zerstören!", schrie er Nella in dem Lärm zu. Er stürzte sich auf den Stein. Was hatte er nur getan?!

      Er griff den Steinmond und umschloss ihn fest mit der Faust.

      Jemand packte ihn am Arm. „Komm, komm mit, schnell!" Wie aus dem Nichts war Hubertus vor ihm aufgetaucht, riss ihn mit sich, zerrte Nella fort, an den Dienern vorbei, zur Flügeltür hinaus. „Wir müssen hier weg!"

      Sie