Lana Fawall

Steinmondsaga 1


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in seine Beine. Der Junge tastete um sich. Offensichtlich war er auf einem riesigen Berg aus Stroh gelandet. Justus nieste und erschrak über sich selbst. Es war so still hier. So eine Stille kannte er nicht. Sie hatte eine eigenartige Dominanz, als habe sie noch nie ein Laut durchdrungen. Justus erkundete die Umgebung mit dem Licht des Steins. Die Scheune hier musste zu einem reichen Hof gehören, einem aus dem vorigen Jahrhundert. Egge, Sense, Dreschflegel, Fuhrwagen. Justus kam sich vor wie in einem Museum. Nur, dass er sich hier eigenartig beklommen fühlte. Wahrscheinlich lag das an diesem diffusen Licht, eine Dunkelheit, die ganz anders war als in seiner Welt. In seiner Welt? Er drängte diesen komischen Gedanken beiseite und rutsche den Berg aus Stroh hinunter. Der Steinmond gab ihm den Mut.

      Maschinen und Geräte waren sorgfältig gepflegt, soweit er es unter dem schwachen, blauen Lichtschein erkennen konnte. In die Scheune drangen nur wenige, diffuse Lichtstrahlen.

      Justus leuchtete mit dem Steinmond in die Dachbalken. Er hoffte immer noch, die kleine Zerzauste zu finden, dieses Mädchen, das er nicht kannte. Sie war ihm so wichtig. Das blaue Licht schreckte ein paar Schwalben auf. Aufgeregt schlugen sie ihre Flügel. Ansonsten blieb alles still. Warum war sie ins Gebälk geklettert? Wohin war sie verschwunden?

      „He, wenn du schon so schnell die Welt wechselst, dann warte wenigstens auf mich!", ertönte eine Stimme hinter ihm. Justus zuckte erschrocken zusammen. Aber nur für einen Moment. Nella wühlte sich aus dem Strohhaufen und pustete sich die piksenden Halme von den Armen. Da stand sie neben ihm, mit zerzausten Haaren, in denen Staubflocken schimmerten wie Raureif. Justus war froh, sie dabei zu haben. Er, der Schöne, der Steinmondträger, der keine Ahnung von den magischen Zeitebenen hatte.

      Nella sprang ihm behände hinterher – das hätte er ihr bei diesem Gewicht gar nicht zugetraut – und zerrte ihn Richtung Scheunentor. „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, drängte sie. Doch Justus unterdrückte einen Schrei und wich zurück. Außer Nella war noch jemand aufgetaucht. Rot glühende Augen stachen ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Böse, das waren sie, das spürt er. Sie schienen die Bosheit dieser Welt in sich zu vereinen. Ein Vogel schrie irgendwo im Gebälk. Es kam ihm vor wie eine Warnung. Stille, sein pochendes Herz, die Feueraugen in der Dunkelheit.

      „Nella!“, flüsterte der Junge. Doch die kicherte. „Keine Angst, in dieser Welt kann uns niemand sehen. Du musst nicht so vorsichtig ...“ Ihr souveräner Tonfall erstarb plötzlich. Denn die Augen, oder besser gesagt das Wesen, dem sie gehörten, bewegte sich auf sie zu. Es sah sie, eindeutig. Es kam näher. Ein schwarzer Körper zeichnete sich im Dämmerlicht ab. Behaarte Arme streckten sich nach ihnen aus. Justus umklammerte instinktiv den Steinmond. Das Wesen packte Nella am Arm. Sie versetzte ihm einen Tritt und beförderte es mehrere Meter weit weg. Justus staunte. Doch nicht lange. Das Wesen schien sich aufzurappeln, die Augen kamen erneut auf sie zu. Hinter ihnen raschelte es. Er dreht sich um. Rote Augen im Stroh. Sie kamen aus dem Stroh, überall! Es waren Dutzende. „Weg!“, befahl Nella. „Wir müssen raus hier!“ Sie rannten, irgendetwas umklammerte Justus' Bein, er strauchelte, trat um sich. Dem lang gezogenen Jaulen nach zu urteilen, hatte er getroffen. Justus sprang wieder auf die Füße. Das Scheunentor war nur angelehnt. Sie zwängten sich durch den Spalt und entkamen über den Hof.

      Keuchend blieben die beiden stehen. Nella hustete. Justus blickte zur Scheune zurück. Niemand folgte ihnen. „Nachtmare, die kommen uns nicht nach. In der Dämmerung zerfallen sie zu Staub“, bemerkte Nella sachlich und ohne Angst in der Stimme. Justus staunte über ihren Mut. „Allerdings haben sie uns gesehen, anders als du dachtest“, wandte er ein. Das Mädchen mit dem roten Haar nickte nachdenklich. „Ich hatte auf dieser Ebene nicht mit ihnen gerechnet. Sie kommen normal nur in schwächeren Welten vor“, meinte sie.

      Das Licht hier draußen war dumpf, kaum heller als in der Scheune. Er blinzelte in die trübe Suppe und hoffte, es handle sich dabei um das Morgengrauen an einem Regentag. Doch noch ehe Nella es ihm bestätigte, wusste er insgeheim, dass es hier nie heller werden würde. So sah sie also aus, diese Welt ohne Sonne. Nella blickte auf den Elfenreif an ihrem Handgelenk. Sie sah der blauen Perle zu, die schmolz und wie eine kleine Träne in den Schlamm tropfte.

      „Nummer eins", sagte das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut trocken und musterte das Armband an ihrer Hand. Das Band schützte sie vor der lähmenden Traurigkeit dieser Ebene, das wusste Nella. Zwar war die Schwere dieser Welt immer noch spürbar, aber sie setzte sich nicht gleich wie ein schwarzer Klumpen in ihrer Seele fest. Nella schauderte. Diese Welt konnte gefährlich werden.

      Sie berührte Justus sachte am Arm. „Komm", sagte sie, „lass uns zur Fest der Tränen gehen, dort irgendwo dieses Ding ablegen und so schnell wie möglich verschwinden. Ich mag es hier nicht."

      Türen quietschten. Vom Wohnhaus, das gegenüber der Scheune lag, ertönten Stimmen. Sie klangen hell und freundlich, doch Justus zuckte zusammen. Sein Bedarf, Lebewesen in dieser Welt kennenzulernen, war gedeckt. Zwei Bauernkinder kamen diesmal auf die beiden zu. Sie trugen Hemden und Hosen aus grobem Leinen und liefen barfuß über den schlammigen Weg. Unter den Armen trugen sie Körbe. „Sicherlich bringen sie Essen aufs Feld, es wird Mittag sein“, meinte Nella fachmännisch. Sie schien ihre Souveränität von einer Sekunde auf die andere wiedergefunden zu haben. Die Kinder schienen sie tatsächlich nicht zu sehen. Ins Gespräch vertieft gingen sie an Justus und Nella vorbei und folgten dem Feldweg. „Wir gehen auch“, sagte Nella, nachdem die beiden verschwunden waren. Sie lief los, so zielsicher, als wandle sie täglich in dieser Welt. Ihr rotes Haar leuchtete in der Dämmerung wie ein Feuerring um ihren Kopf.

      Justus steckte den Steinmond in die Hosentasche und beeilte sich, ihr hinterherzukommen. Gleichzeitig nagte der Gedanke an das Mädchen mit den zerzausten Haaren in ihm. Sie war ganz in der Nähe und er hatte sie schon wieder verpasst. Vielleicht war sie ihm auch absichtlich entwischt, vielleicht wollte sie ihn nicht treffen. Hoffentlich wusste sie sich zu helfen, angesichts der dunklen Gestalten, die sich in der Scheune verbargen.

      Während sie den steinigen Feldweg hinunterstolperten, löste sich ein weiterer Tropfen aus dem Reif. Die Zeit zerrann. Weiter nur, weiter zur Feste, den Abhang hinunter und nicht in diesem Dämmerlicht stolpern! Justus versuchte, sich an die Landkarte zu erinnern. Wo genau waren sie gelandet? Bauernhöfe waren auf dem Spielplan Dutzende eingezeichnet gewesen. Auch wenn alle Hauptwege auf die Burg zuführten: Wie konnten sie sicher sein, in die richtige Richtung zu laufen, der Burg entgegen anstatt von ihr weg? Justus beschloss, auf Nellas Orientierungssinn zu vertrauen. Sie war immerhin schon einmal hier gewesen und hatte das Spielbrett öfter gesehen als er.

      Justus konzentrierte sich auf den Weg. Er führte holprig und steinig den Berg hinunter und machte eine scharfe Biegung. Den Reiter hörte er erst im letzten Moment. Er kam in vollem Galopp auf sie zu. Justus nahm ihn als schwarzen, rasenden Schemen in Ritterrüstung wahr, der sein Visier tief über die Nase gezogen hatte. Doch es wäre ohnehin zu dunkel gewesen, um seine Gesichtszüge zu erkennen.

      Der Reiter sah Justus und Nella nicht. Er trieb sein Pferd an und preschte in vollem Tempo voran. Aus den Augenwinkeln registrierte Justus, dass der Weg in einer Art Rinne den Hügel hinunterführte, rechts und links wucherte Gestrüpp. Zum Ausweichen gab es keine Möglichkeit.

      Justus spürte, wie die Erde unter den Huftritten des Tieres vibrierte. Gleich würde der Reiter sie erreicht haben. Gleich würden die Hufe des Pferdes über ihn hinweg wirbeln. Er konnte nicht ausweichen und machte sich auf einen Aufprall gefasst. Wie wohl die Überlebenschancen standen, wenn ein Pferd in vollem Tempo über einen walzte? Justus wurde übel vor Angst. Instinktiv spannte er seine Muskeln an. Er wartete auf den Schmerz. Die Arme hielt er wie einen schützenden Helm über seinem Kopf verschränkt.

      Plötzlich scheute das Pferd. Irgendetwas gefiel ihm nicht. Es stieg unvermittelt und panisch. Justus glaubte, einen leisen Windhauch zu spüren, als die Hufe des Pferdes haarscharf an seinem Gesicht vorbeischrammten. Er duckte sich und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Der Ritter fluchte, gab dem Tier die Sporen, und preschte in vollem Galopp weiter. Geradewegs durch Justus hindurch. Staub wirbelte auf und Justus spürte, wie der Boden vibrierte.

      Starr vor Schreck und Verwunderung blickte der Junge dem Reiter nach, auch als dieser schon längst nicht mehr zu sehen war.

      „He,