Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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mir das Ganze nicht doch noch mal anders überlegen wolle.

      Auch in diesem Kontext kam mir Bruder Zufall zu Hilfe: Ende Juni fand ich ein überraschendes Angebot in meiner E–Mail, von einer psychiatrischen Klinik in Oeding bei Bocholt. Der Personalleiter der Klinik fragte, ob ich noch immer an einer Assistenzarztstelle im Hause interessiert sei. Ich wusste zuerst gar nicht, wie ich die Mail einordnen sollte. Dann erinnerte ich mich, dass ich in der Tat ein Vorstellungsgespräch in einem Oeding gehabt hatte. Das Gespräch war eines der Interviews gewesen, zu denen ich im September 2003 – bei der Stellensuche im Rahmen meiner damaligen „Re(–Re?)–Immigrationspläne“ (siehe Band II: „History of Marriage, das letzte Ehejahr“) – eingeladen worden war. In Oeding hatte man mir seinerzeit abgesagt.

      Der Ort stand nicht auf der Liste meiner Reiseziele. Die Sache wäre jedoch keine schlechte Zwischenlösung für die Zeit gewesen, in der ich auf meine Homologierungen zu warten hatte. Ich könnte so meine Reserven nicht nur schonen, sondern sogar päppeln, und hätte die Möglichkeit, Erfahrungen als praktizierender Arzt zu sammeln, was ebenfalls nicht schlecht gewesen wäre für meine bevorstehende Reise. Ich entschloss mich noch am gleichen Tag, auf das Angebot einzugehen.

      Die Angelegenheit war unkonventionell per E–Mail zu erledigen. Und nach wenigen Tage hielt ich meinen Arbeitsvertrag in Händen. Für meinen Stellenantritt hatten wir uns auf den 5. November 2007 geeinigt. So konnte ich im Oktober einen Monat Urlaub auf meinem Boot machen. Dies war mir wichtig.

      Ich erzählte Ming Li sofort von dem Vertrag, hoffend, sie würde mich endlich mit ihrer nervigen Fragerei verschonen, ob ich mir die Sache mit meinem Weggang nicht doch noch einmal anders überlegen wolle. Und wieder erfüllte Ming Li meine Hoffnung nicht, was wahrscheinlich auch daran lag, dass ich mit der Etablierung des experimentellen Modells zügig und erfolgreich vorangekommen war:

      Schon Ende Juni hatte ich das unmöglich Erscheinende geschafft und begonnen, Ming Li und Mu in die Anwendung des neuen Modells einzuweisen. Ming Li war begeistert und felsenfest davon überzeugt, dass das Modell eine wissenschaftliche „Goldgrube“ für die nächsten Jahre darstelle. Die Sache jetzt anderen zu überlassen, sei eigentlich dumm von mir.

      Aus der Perspektive eines Forschers war diese Einschätzung korrekt. Aber diese Perspektive hatte keine Relevanz mehr für mich. Ein letztes wissenschaftliches Erfölgchen gehabt zu haben, fand ich gut (schöne Abgangsnote sozusagen). Doch die sich aus ihm potentiell ergebenden Konsequenzen ließen mich kalt. Offenbar konnten berufliche Aspekte meines alten Lebens nicht mehr in mein neues interferieren (hatte ich damals allen Ernstes gedacht! [hier hat sich wieder der „reife“ Jakob gemeldet]). Andere Aspekte indes hatten dieses Potential noch, wenn auch nicht in einer Weise, die Zweifel an meinem angepeilten Lebensweg hätte aufkommen lassen:

      10 Das Strafverfahren

      Anfang Juli teilte mir mein Anwalt Herr Salomon mit, die Verhandlung in meiner Strafsache sei auf den 23. April 2008 angesetzt worden. Die Ladung werde mir umgehend zugestellt werden. Herr Salomon war ein seit Beginn des Jahres mit dem Fall betrauter Strafverteidiger des Anwaltsbüros Harsdörffer. (Auch Herr Harsdörffer war nach wie vor für mich tätig, da nach wie vor Unterhaltsverfahren in der Sache Zucker gegen Zucker liefen.)

      Zum Hintergrund des Strafverfahrens: Eher am Rande hatte ich mitbekommen, dass sich der Staatsanwalt und das Gericht nicht an ihre Zusagen gehalten hatten. Die sechs Monate, die ich regelmäßig hatte Unterhalt zahlen sollen, damit das Verfahren eingestellt würde, waren verstrichen. Eingestellt wurde es derweil nicht, sondern einer Hauptverhandlung zugeführt. Offensichtlich war meine Ex–Frau zwischenzeitlich emsig gewesen und hatte den zuständigen Würdenträgern vermitteln können, mein „immenses kriminelles Potential“ müsse auch bei laufenden Unterhaltszahlungen einer strafrechtlichen Verhandlung überstellt werden. (Vielleicht hatten auch meine Schwiegereltern ihre Fingerlein im Spiel gehabt, denn die verfuhren – unter anderem ob ihrer exponierten gesellschaftlichen Position – gerne nach dem bewährten und in einer Feudaldemokratie auch funktionierenden deutschen Prinzip „mer kenne ons, mer helfe ons“.)

      Herr Salomon war sich nicht sicher, wie sich die Sache entwickeln würde. Er meinte zwar, normalerweise wäre ein derartiges Verfahren längst eingestellt worden. Angesichts der erfolgreichen „Vermittlungsbemühungen“ meiner Ex–Frau wolle er aber noch nicht einmal ausschließen, dass ein internationaler Haftbefehl gegen mich ausgestellt werden würde. Da ich eine jobliche Stippvisite in deutschen Landen plante, hätte es noch nicht einmal eines internationalen Haftbefehls bedurft, meiner habhaft zu werden. Diese Entwicklung sagte mir nicht zu. Doch ich war gewarnt und nahm mir vor, auf der Hut zu sein.

      11 Abschied von St. Louis

      Mein Abschied von St. Louis nahte. Ich hatte unterdessen eine Bleibe für die Zeit meiner bevorstehenden Arzttätigkeit gefunden: In der Einliegerwohnung einer Gründerzeitvilla, die mein alter Freund und Studienkollege Hektor Herrlich mit seiner Partnerin Sophie in Münster bewohnte. Dieses war mit Nahverkehrsmitteln nur eineinhalb Stunden von Oeding entfernt. Hektor hatte mir angeboten, dass ich das „Kabüffchen“ gegen einen Nebenkostenzuschuss beziehen könne, bis ich Besseres gefunden hätte. Ich nahm das Angebot natürlich an, da ich auf diese Weise eine Menge Geld sparen konnte und nicht durch lästige Mietverträge gebunden war, welche in Deutschland normalerweise einer dreimonatigen Kündigungsfrist unterlagen. Das laufende Strafverfahren im Hinterkopf, war mir schon an einer gewissen Flexibilität gelegen.

      Während der letzten Wochen in St. Louis vertrieb ich mir die Zeit mit ergötzlichen Dingen. Tagsüber war ich einige Stunden im Labor und wies Ming Li und Mu in die letzten Feinheiten des Modells ein. (Die beiden machten gute Fortschritte!) Nach der Arbeit war ich bemüht, noch möglichst viel von „Amerika“ aufzusaugen. Dieser Aufenthalt wäre für ein Weilchen mein letzter hier.

      Fokus meines (hoffentlich vorläufigen) amerikanischen Schlussaktes war, möglichst sämtliche Donut– und Hamburgervarianten auszuprobieren, die das Land zu bieten hatte. Eine besondere Entdeckung waren die „White Castle“ Burger. Ich konnte mich an diesen phantastisch fettigen und aromareichen Mini–Burgern kaum satt essen. Meist verschlang ich deren schon vier zum Frühstück, welches ich für gewöhnlich auf der Fahrt zur Arbeit zu mir nahm. Und die Bandbreite der Donuts–Varietäten war schlicht und ergreifend unermesslich. Alleine in meinem bevorzugten Donuts–Laden wurden mindestens fünfzig verschiedene Donutsorten feilgeboten. Eine köstlicher als die andere! Das war einfach nicht alles zu schaffen! (Die in „meinem Laden“ offerierten „French Crullers“ waren allerdings meine absoluten Favoriten: knackig–klebrig außen, cremig–knatschig innen, und insgesamt ein saftig–süßer Gaumenorgasmus, der seinesgleichen suchte! Mir wird heute noch schwarz und golden und schlabbersüß vor Augen, wenn ich nur daran denke, an diese elysischen ...)

      Viel zu erledigen hatte ich vor meiner Abreise wenig. Einen Nachmieter für das Apartment hatte ich schnell aufgetrieben, Schreibtisch und Stuhl schenkte ich Mu, und für meinen „Ford Crown Victoria“ fand sich ein glücklicher Käufer, ein Kleinkrimineller aus Glasgow Village, der immer schon mal ein Polizeiauto sein (wirkliches) Eigen nennen wollte.

      Eine Woche vor meinem Abflug rief mein Onkel Richard an. Wir hatten regelmäßigen Kontakt miteinander gehalten, obwohl ich nach den Ereignissen, die sich während der Monate vor dem Tod meiner Mutter zugetragen hatten, Irritation ihm gegenüber empfunden hatte. Ich hatte dies vormals nur angerissen, weil es für meine Reise durch die marokkanische Wildnis und meine Expedition in den Prärien St. Louis‘ nicht relevant gewesen war. Richard hatte in diesen Phasen keine signifikante Rolle gespielt. Für meine weitere „Reise“ würde sich seine Rolle allerdings signifikant ändern, weshalb ich jetzt detaillierter auf diese Irritation zu sprechen komme:

      Gewundert hatte ich mich schon im Dezember 2005, als Richard meine damalige noch–Frau zu einem Einigungsgespräch mit mir „überredet“ hatte. Umso mehr gewundert hatte ich mich, als diese sich in dem Gespräch auf einen Kompromiss eingelassen hatte, der ihrem bisherigen Duktus diametral widersprochen hatte: Sie hatte (mündlich) darauf verzichtet, ihren Anspruchstitel zu realisieren, dass sich meine Unterhaltsverpflichtungen aus meinem „hypothetischen“ Gehalt