Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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Grenzen des Erlaubten.“

      „Doch, du hast eine Depression“, schüttelte sie ihren Kopf, sodass ihre Brille nach unten rutschte. Sie schob sie nach oben, beugte sich leicht, doch nahezu bedrohlich, auf mich zu, und fuhr fort: „Ich sehe doch, wie du dich mit deiner Arbeit herumquälst. Früher warst du ganz anders. Da hattest du Freude an deiner Arbeit und die Ideen sind nur so aus dir herausgesprudelt.“

      „Letzterer Aussage kann ich zustimmen“, zuckte ich die Schultern, und belehrte sie: „Von meinem Desinteresse an einer bestimmten Arbeit auf Depression zu schließen, erreicht hingegen noch nicht einmal das Niveau plausibler Spekulation.“

      „Doch!“, insistierte sie, „Du bist depressiv! Ich akzeptiere deine Entscheidung nicht, solange du nicht mit einem Psychiater gesprochen hast.“

      Ich hielt einen Moment inne und führte mir vor Augen, dass sich Ming Li mit ihrer Argumentation keinen Gefallen tat. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, faltete die Hände hinter dem Kopf zusammen, und legte, in gewisser Hinsicht um ihr zu „helfen“, dar:

      „Ming Li! Ich möchte mich auf dieser Ebene nicht mit dir auseinandersetzen und werde jetzt beziehungsweise gleich gehen. Du kannst dir in den nächsten Tagen Gedanken machen, ob du gerne meine Kündigung zum nächstmöglichen Kündigungstermin hättest, oder ob du dich mit mir über einen nicht in allzu ferner Zukunft liegenden Kündigungszeitpunkt unterhalten möchtest, bis zu dem ich noch das ein oder andere Projekt erledigen könnte, das für dich von Interesse wäre. Du entschuldigst mich?“

      Meine Hände ließen einander los und ich stand harmonisch aus der herabgleitenden Bewegung meiner Arme heraus auf. Ming Li war sichtlich aufgebracht. Sie biss sich nervös auf der Unterlippe herum und antwortete blinzelnd, nachdem sie die Brille auf der zuckenden Nase nach oben geschoben hatte:

      „Du ziehst hier augenblicklich eine tierische Scheiße ab. Wenn du das machst, wirst du nie wieder in die Forschung zurückkommen können.“

      „Ich hatte meine Motivation bereits erläutert“, neigte ich meinen Kopf sanft zur Seite.

      „Du bist unglaublich egoistisch“, hob sie ihre Stimme auf annähernd quiekendes Niveau, „Ich hatte etliche Projekte mir dir geplant. Du kannst mich jetzt nicht einfach so sitzen lassen.“

      Trotz meines Schauderns ob des erfahrenen Missklangs erklärte ich besonnen:

      „Den meisten Kündigungen ist es eigen, dass die Erwartungen einer der beteiligten Seiten nicht erfüllt werden. Außerdem muss ich darauf achten, meinen Interessen nachzukommen. Ähnliches gilt für dich. Mir in diesem Zusammenhang ‚Egoismus‘ zu unterstellen, passt nicht, um mich zurückhaltend zu formulieren. Soll ich etwa meine Interessen ignorieren, damit sich die deinen erfüllen?“

      „Doch, du bist unglaublich egoistisch!“, erregte sich Ming Li, „Ich habe zweitausendfünfhundert Dollar in dein Visum und neunhundert Dollar in deinen Flug investiert. Und da willst du dich jetzt einfach aus dem Staub machen?“

      „Die dreitausendvierhundert Dollar kann ich dir gerne zurückzahlen, wenn’s dir damit bessergeht.“ Ich zögerte, war einen Augenblick erstaunt über mein spontanes „kalkulatorisches Geschick“, denn Rechnen gehörte normalerweise nicht zu meinen Stärken. Ich rechnete also kurz nach: zweitausendfünfhundert plus neunhundert ist gleich dreitausendvierhundert. Richtig! Ich freute mich über mich und fuhr fort: „Oder wir unterhalten uns darüber, ob ich noch die ein oder andere, zeitlich gut abgrenzbare Sache mache, auf dass sich deine Investition rentiere.“

      „Ich glaube, du gehst jetzt besser.“

      Ming Li schien zu dampfen, ihre Brillengläser zu beschlagen. Ich sagte:

      „Sehe ich auch so. Tschüssi.“

      Ich ging.

      Mich gemessen auf mein Großraumbüro zubewegend verspürte ich eine tief durchatmende Erleichterung. Welch Belebung! Ich hatte es hinter mich gebracht! Die Unterhaltung war in mehrerlei, auch klanglicher Hinsicht nicht harmonisch verlaufen, aber die Fronten waren klar. Und darauf kam es an!

      Wenig später. Ich saß in meinem Großraumbüro an meinem Schreibtisch und spielte gerade mit dem Gedanken, mich ins Labor zu begeben (tatsächlich hatte ich solche Impulse noch!), als Ming Li wieder ihren Kopf in die Tür steckte.

      Ob sie mich jetzt beißen würde? (Trotz ihres kleinen Kopfes hatte sie große Zähne!)

      Sie tat es nicht, sondern bat mich, in ihr Büro zu kommen. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer hoffte ich, dass sie mich jetzt gleich in hohem Bogen hinauswerfen würde. – Langsam wollte ich zurück zu meiner Smuk! – Mein Hoffen erfüllte sich nicht.

      In ihrem Büro eröffnete mir Ming Li, sie habe überreagiert. Sie akzeptiere meine Entscheidung, hege aber tiefe Trauer darüber, dass meine „Fähigkeiten“ für die Wissenschaft verlorengingen. Ich war gerührt. Ming Li bat mich, wenigstens so lange bei ihr zu bleiben, bis ich das experimentelle Modell etabliert hätte, dessentwegen sie mich im vorigen Dezember in Marokko kontaktiert habe (siehe Band II: „Überraschungen“). (Madame hatte nach meiner Ankunft in St. Louis andere Prioritäten gesetzt. Deshalb war ich noch nicht dazu gekommen, an diesem Modell zu arbeiten.) Ich ging davon aus, dass ich zwei Monate benötigen würde, es zu etablieren, und weitere zwei, um es Ming Li oder einem Mitarbeiter so anzutrainieren, es selbstständig anwenden zu können. Ming Li und ich einigten uns daher darauf, dass ich bis Ende September in St. Louis bliebe.

      Sie wies mich darauf hin, dass ich mir die Sache mit meinem Weggang jederzeit anders überlegen könne. Ich wies Ming Li darauf hin, dass mein Entschluss feststehe. Sie solle sich also keine falschen Hoffnungen machen.

      Unsere Übereinkunft war fair. Ich richtete noch am gleichen Tag einen Raum für die geplanten Experimente her. Am folgenden Montag wollte ich mit ihnen beginnen.

      7 Kühle Winde

      Als ich an diesem Freitagabend nachhause fuhr, war ich mit meinem Tag zufrieden. Die Frühlingssonne strahlte, die Luft war rein, und ich fühlte mich ruhig und ausgeglichen. Die Fronten waren geklärt. Die Einigung, die ich mit Ming Li erzielt hatte, gab mir Zeit, mein Leben nach meiner Abreise aus St. Louis einzurichten. Wie genau sollte dieses Leben aussehen und was müsste ich dafür vorbereiten? Nun galt es, die Zeit zu nutzen, diese sicherlich wichtigen Fragen schnell und gut zu beantworten.

      Doch erst musste ich für das Wesentliche meines Wochenendes sorgen: Mein Kühlschrank war gefüllt, aber ich hatte keine Zigaretten mehr. Ich fuhr an eine Tankstelle, um diesen letzten verbleibenden Mangel auszugleichen.

      Die Kasse der Tankstelle befand sich rechts neben dem Eingang. Der Raum wirkte beengend und die vollgestopften Regale an den Wänden schienen jeden Augenblick in sich zusammenstürzen zu wollen. Ich richtete meinen Blick auf die Kassiererin (eine hochgewachsene Frau in Jeans und kariertem Hemd, die versonnen an ihrem langen Pferdeschwanz spielte) und blieb vor ihr stehen. Auf ihre Frage, was ich wünschte, antwortete ich „Zigaretten“ und bat sie, sich einen Moment zu gedulden. Ich wisse noch nicht, welche.

      Das war für mich gelegentlich ein Problem. Ich hatte keine feste Marke und entschied normalerweise spontan, wonach mir gerade zumute war. Manchmal aber, wie jetzt, hatte ich Schwierigkeiten, zu entscheiden. Die Auswahl in dem Regal hinter der Dame war allerdings wirklich groß! Während mein Blick zweifelnd über die Schachteln strich, schien mich die Dame zu beobachten. Zumindest glaubte ich, ihren Blick zu spüren, was mich aber nicht störte, denn ich bin nun einmal ein attraktiver Mann und war daran gewöhnt, dass sich die Damenwelt um mich riss und manche gar an mir „vergingen“ wie Fliegen in einem Glas offenen Honig.

      Schließlich hatte ich mich entschieden (das Hellblau der „Player’s“ hatte mich am meisten angesprochen) und wollte meinen Wunsch verbalisieren, da schüttelte es die Dame hinterm Tresen und sie hielt sich an diesem fest, als wehrte sie sich, in sich zusammen zu sinken. Ich wunderte mich und sie sagte, fast entsetzt:

      „Holy Shit! Mir ist