Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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Burger gerissen hatten, und ich biss nochmals hinein. Beglückt kaute ich und schaute wieder nach draußen. Während dieser göttliche Fleischbrei durch meinen Mund meinem Schlund entgegen wogte, sog ich den zarten Lavendelduft des Raums ein und ließ meine Augen sich in dem diffusen Glitzern verlieren, das die untergehende Sonne über die sauberen Wagendächer sprühte. Und immer wieder machte ich mir ungläubig klar, dass ich nun zuhause sei. (Tatsächlich fühlte ich mich in den USA heimischer als in Deutschland oder sonst wo.)

      Endlich zuhause!, dachte ich. Wieder und wieder dachte ich dies. Endlich hatte ich es geschafft!

      Wenig überraschend hatte ich von den privaten Lebensumständen her keine Probleme, mich in St. Louis wohlzufühlen. Bevor ich angekommen war, hatte ich allerdings erwartet, dass sich Schwierigkeiten mit Ming Li ergeben könnten. Sie hatte wie auch ich einen „eigenen“ Charakter. Reibungen zwischen uns waren somit vorprogrammiert. Das Ganze war jedoch für mich eine Chance, in meine geliebte Forschung zurückzukommen. Darum gedachte ich, die absehbaren Spannungen mit Ming Li geduldig und mit Vernunft anzugehen.

      Reibereien mit Ming Li hatte ich schon nach ein paar Tagen. Sie wolle, dass ich meine Arbeitsabläufe so plante und durchführte, wie sie es als richtig erachte, womit ich mich gar nicht anfreunden konnte, weil ich gewohnt sei, meine Forschungsarbeiten selbst zu organisieren, und zwar in einer Weise, die ich für angebracht hielte. Das Konfliktchen hatte sich schnell erledigt. Wir einigten uns auf einen Kompromiss, der irgendwo zwischen meiner und Ming Lis aber näher an meiner Position lag. Das war okay. Ich hatte das Problem also im Griff und war beruhigt. Doch schnell holten mich Probleme aus einer Richtung ein, die mich völlig überraschte:

      Das war in meiner dritten Arbeitswoche, als ich etwas mich vollkommen Befremdendes zur Kenntnis nahm: Meine Arbeit machte mir keinen Spaß mehr! Wenn ich die Lösungen auf meine Objektträger träufelte, fragte ich mich, wozu dieser Blödsinn gut sei. Wenn ich Literatur recherchierte, überlegte ich, wen dies eigentlich interessiere. Und hatte ich einen die Arbeit betreffenden Text zu schreiben, stellte ich fest, dass mich dieser Schmarrn überhaupt nicht interessierte.

      Ich maß dem Phänomen zunächst keine größere Bedeutung bei. Zuweilen sann ich darüber nach, warum ich so fühlte. Meine ersten Antworten waren nicht befriedigend: Ich war weder gestresst noch brauchte ich Urlaub und in meiner neuen Umgebung gefiel es mir. Desgleichen konnte ich gelegentliche Zänkereien mit Ming Li reinen Gewissens als Ursache negieren. So weit also kein Grund zur Panik. Als sich aber gegen Ende der Woche mein Angeödetsein derart dramatisierte, dass ich – mich nach dem Wochenende verzehrend – verkündete, mir diesmal nicht nur den Sonntag, sondern auch den Samstag frei zu nehmen, begann ich mich ernsthaft zu sorgen:

       Was war nur mit mir los?

      4 Entdeckung

      Ich beschloss, das Wochenende der Lösung des Problems zu widmen. Die Lage war ernst. Mittlerweile lag nämlich auf der Hand, dass mir meine gegenwärtige Arbeit deutlich weniger zusagte als die Arzttätigkeit, die ich im Jahr zuvor schon ein paar Monate hatte „ausprobieren“ können. Der besorgniserregende Punkt hierbei war, dass dieser „Lustwandel“ nicht auf einer unverhofft alles überstrahlenden Begeisterung für eine ärztliche Tätigkeit beruhte. Ich stand auch dieser distanziert und desinteressiert gegenüber. Aber ich konnte mir bei ihr wenigstens die Zeit durch amüsante Gespräche mit Patienten und Mitarbeitern vertreiben. Im Gegensatz dazu empfand ich meinen Forschungsalltag auf einmal einsam und trostlos. Ich saß – von Tiefkühltruhengebrumme und surrendem Neonlicht umwabert – in fensterlosen Gruften, um Zahlen– und Buchstabensequenzen anzustarren, die mir einen Lufthauch bedeuteten, glibberige Lösungen auf irgendwelche Gewebeproben zu träufeln, oder bedauernswerten Mäusen die Köpfe auf– oder abzuschneiden. Und der Reiz, das „Unbekannte“ zu erkunden, war verschwunden und damit verloren, was mich einst so fasziniert hatte an diesem Tun. Doch ich wusste nicht, warum.

      An der Art der Forschung lag es nicht. Ich war, von trivialen Variationen abgesehen, mit meinem alten Forschungsschwerpunkt befasst. Gut, mein Projekt mit Günter (mein ehemaliger Kollaborationspartner in Austin), das ich gerne weitergeführt hätte, lag momentan wegen gewisser Egoismen Ming Lis auf Eis (diese Egoismen waren auch Günter aufgefallen, wie er mir in einem Telefonat vor ein paar Tagen anvertraut hatte; und es sei daher wohl derzeit vernünftiger, hatte er gemeint, unsere Studie noch ein wenig ruhen zu lassen). Aber dieses Projekt mit Günter hätte im Vergleich mit meinem augenblicklichen lediglich eine banale Wortrochade bedeutet, was die Grundmechanik des Vorgehens betraf. Was also konnte der Grund meines Desinteresses sein? Ich zermarterte mir den gesamten Samstag den Kopf über diese Frage, ohne auch nur einen Mikrometer voranzukommen.

      Gegen neun Uhr am Abend gab ich auf und fuhr in den „Whole Foods Market“, um mir eine Flasche Rioja zu besorgen. Beim Schlürfen des Weins spielte ich noch mit diversen Lösungsansätzen, aber es nutzte nichts. Vergeblich, meine Denkesmüh. Ich ging zu Bett. Möglicherweise brachte der Sonntag die Antwort.

      Zunächst brachte er sie nicht, denn am Sonntagmorgen rauschte es zwischen meinen Ohren, als ich aufwachte, und mein Kopf schmerzte. Offensichtlich hatte ich am Vorabend zu viel geraucht. Ich bereitete mir einen Kaffee, schluckte eine „Aspirin“, und checkte wie gewohnt meine E–Mail:

      Mein alter Freund Gonzalo hatte geschrieben. Ihm hatte ich zu verdanken, dass ich in der Forschung gelandet war. Er war mein Doktorvater gewesen. Nach seiner Emeritierung hatte er eine Offerte einer Universität in Madrid bekommen und war daraufhin mit seiner Frau in die alte Heimat zurückgekehrt. Er konnte es nicht lassen. Vollblutforscher durch und durch! Bei meiner jüngsten Stippvisite in Madrid, als ich mein Visum für die Staaten hatte abholen müssen, hatte ich die Gelegenheit genutzt, mich mit ihm zu treffen. Er erkundigte sich jetzt, wie mir St. Louis gefalle und wie meine Projekte liefen.

      Ich wollte gleich antworten. Als ich aber den Text nach Rechtschreibfehlern überflog, fielen mir einige „stilistische“ Besonderheiten auf. In dieser Weise pflegte ich Gonzalo nicht zu schreiben! Ich bejubelte nicht wie früher meine unfassbaren Entdeckungen und verbrodelte nicht die sich aus ihnen entfachenden brennenden Fragen. Auch sprudelten keine begnadeten Eingebungen, wie ich die ersehnten Antworten aus dem sie ummantelnden Brodem enthüllen würde. Und ich frohlockte nicht fiebernd, welche Erleuchtungsportale ich mit der Offenbarung aufstieße, die bald in meinen Händen glänzen würde. Nein. Monoton berichtete ich von einem Projekt X, das mir Ming Li zum Weiterbearbeiten überlassen habe, von einem Projekt Y, das ich vielleicht auch noch machen solle, von diesem und jenem, das ich besser nicht vergessen würde, und dass sich aus der einen oder anderen Studie eventuell ein neuer Aspekt ergebe, den man ganz gut für eine Antragsstellung bei dieser oder jener Organisation verwenden könne. Als ich den Text in diesem Lichte gelesen hatte, klappte mir die Kinnlade herunter und ich fragte mich:

      Was für ein Langeweiler hatte das denn geschrieben? Angewidert lehnte ich mich zurück und hielt inne. Nein, so würde ich Gonzalo diese E–Mail nicht schicken. Das wäre erbärmlich und beschämend, ihn mit derartigem Gallert zu degoutieren!

      Mir fiel jedoch nichts anderes ein. Aber ich erinnerte mich an die Zeit meiner Doktorarbeit: Viel Freud und viel Leid – und am Ende ein beachtlicher Erfolg, der sogar mit dem „Rudolf–Ratte–Preis“ anerkannt worden war.

      Schon dereinst war ich mit Gonzalo befreundet gewesen. Aber manchmal hätte ich ihn verfluchen können. In seiner sanguinisch–mediterranen Art hatte er mich einfach machen lassen. Und ich hatte gemacht und gemacht und gemacht und manchmal gar nicht mehr so recht gewusst, wo mir der Kopf gestanden hatte vor lauter Machen. Hätte mir dieser Hansdampf nicht mehr Direktiven geben können? Aber nein! Er hatte mir „meine Freiheit“ gelassen und mich machen lassen.

      Meine Mühen waren schließlich doch von Erfolg gekrönt gewesen und ich hatte verstanden, dass es genau die seien, die die Spreu vom Weizen trennten: Direktiven befolgen könne jeder Kretin. Probleme aus sich heraus mit aller erforderlichen Zähigkeit, auch Widrigkeiten zum Trotz, zu lösen, sei dagegen genau das, was man in der Wissenschaft benötige. Gonzalo hatte um diese Mechanismen schon lange gewusst. Wie gesagt, ich hatte sie (letztlich)