Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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mich mit Wehmut:

      Damals war die Welt noch in Ordnung! Ich griff mir ein großes Taschentuch und schnäuzte mich. Und mit dem Rotz, den ich meiner Nase entblies, schoss es mir wie ein Blitz in den Kopf: Was wäre passiert, wenn ich mich bei Ming Li dissertiert hätte? Und die Antwort folgte wie ein Donner: Garantiert wäre ich nicht in der Forschung gelandet! Direktiven anderer auszuführen, war schlicht nicht mein Ding!

      Mit einem Mal sah ich alles klar und deutlich vor mir: An der Forschung faszinierte mich nicht das simple Benutzen ihrer Werkzeuge, sondern die geistige Freiheit, diese Werkzeuge nach meiner Überzeugung anzuwenden. Die Freiheit, zu bestimmen, welche Fragen mich interessierten. Die Freiheit, wie ich deren Beantwortung anginge. Und die Freiheit, wie ich mit den Antworten verfahren würde. Ebenso klar war, dass mir nicht im Geringsten gefallen konnte, Werkzeug zur Beantwortung der Fragen eines anderen Wissenschaftlers zu sein. War mir als unabhängigem Wissenschaftler das Träufeln der Lösung auf die Gewebeprobe meditativer Genuss, war mir drögster Stumpfsinn, meine Lösungen auf die Ideen eines anderen zu träufeln. Ich hatte auf einmal nicht den geringsten Zweifel, dass ich an der Forschung so lange keinen Spaß haben würde, wie ich Verrichtungsgehilfe war.

      Könnte sich an meinem Status als Verrichtungsgehilfe etwas ändern? Die Chancen hierfür standen, vorsichtig gesagt, überhaupt nicht gut. Ich kannte das Geschäft. Einem Typen, der zwei Mal ob „familiärer Gründe“ eine Professur geschmissen hatte, gibt man nicht noch eine dritte Chance, vor allem nicht, wenn man eine Menge in diese Chance würde investieren müssen. Die sich mir im Dezember bietende Möglichkeit an UT Austin (siehe Band II: „Überraschungen“) war insofern anders gewesen, als keine Investitionen erforderlich gewesen wären, mich zu re–installieren. Mein Labor dort war noch eingerichtet gewesen! Doch meine Möglichkeiten, wieder in UT Austin einzusteigen, hatten sich inzwischen „verflüchtigt“, und zwar gänzlich!

      Ich hatte kurz nach meiner Ankunft in St. Louis mit Günter über die Sache gesprochen. Er sah die Dinge wie ich: Die Sorge darüber, meine Ex–Frau könne ihre Finger in die noch bestehende Wunde meines laufenden Strafverfahrens legen, existiere nach wie vor (was Günter gemeint hatte, war das Verfahren wegen des Unterhalts, den ich im vergangenen Jahr zwischen August und Dezember nicht geleistet hatte). Zudem sei Bill genesen und als Head of Department re–installiert. Laut Günter war es mit Bill nicht zu machen, dass ich zurückkäme. Das sei damals ein einmaliges „Window of Opportunity“ gewesen, das wir leider nicht hatten nutzen können.

      Existierte ein Weg, der mich – auch ohne unabhängige Stelle – unabhängige Forschung betreiben ließe? Theoretisch ja. In den Vereinigten Staaten ist es möglich, sich über bestimmte Drittmittel nicht nur die Forschung, sondern sogar das eigene Gehalt zu finanzieren. Ergatterte ich solche Drittmittel, könnte ich auch ohne „Stelle“ unabhängig forschen. Ein so ausgestatteter Forscher fände nämlich jederzeit eine Forschungsinstitution, seine Studien durchzuführen. Um jedoch diese Art Drittmittel zu bekommen, musste man extrem erfolgreiche Forschung über Jahre hinweg gemacht haben!

      Es gibt – relativ gesehen – einige wenige Wissenschaftler, die Derartiges schaffen. Und deren überwiegende Mehrheit arbeitet an Harvard auf einem Niveau, das ich nie erreicht hatte. Ich war sehr gut, aber eben nicht absolute Spitzenklasse. Und ich kam soeben – mit fünfundvierzig Lenzen auf dem Buckel und nach Jahren professioneller Unbelecktheit! – von meinem Bötchen aus La Graciosa zurück, und wollte in mäßigem Umfeld wieder anfangen zu forschen. Was sprach dafür, dass ich gerade jetzt und hier in diese exosphärischen Forschungsgefilde aufstiege? Zuweilen ist es nützlich, die eigenen Grenzen zu kennen. In diesem Punkt kannte ich sie: Der Zug, unabhängige Forschung machen zu können, war für mich abgefahren. Endgültig!

      Was blieb, war die Erkenntnis, dass mir forschen im zweiten Glied keine Freude bereitete. Ich hatte vormals ähnliche Ahnungen gehabt, allerdings eher „hypothetisch“ und offenbar nicht tief genug, die rechten Schlüsse zu ziehen. Nun hatte ich durch Dienst im zweiten Glied empirisch „begriffen“.

      Welche Konsequenzen ergaben sich hieraus? Ich könnte bei Ming Li bleiben und später ein anmutigeres Pöstchen suchen, auf dem mich helleres Licht beschiene. Vielleicht würde es so mancher gar für meines halten. Warum nicht? Aber nein, das war mein Ding nicht. Und vor allem: Warum sollte ich dies tun? Mir brächte es weder Zerstreuung noch Vorzüge: Auch im zweiten Forschungslied schuftet man mehr als in den meisten anderen Berufen, verdient jedoch weniger, als ich mühelos als Arzt hätte verdienen können. Und zuoberst fehlte in der Forschung – für mich mittlerweile – ein wesentlicher Vorzug, den die Heilkunde – mir mittlerweile – zu bieten hatte: Freiheit!

      Meine Freiheit in der Forschung war verloren. Doch als Arzt hätte ich eine andere Freiheit gewonnen: ein Leben auf Reisen. Wie das? Ganz einfach: Als Arzt könnte ich überall arbeiten und mir ein Leben auf meinem Boot ermöglichen. Im Gegensatz dazu wäre ich als Forscher an wenige Ballungsräume gebunden und lange nicht so flexibel. Und was ich, wie bereits gedacht, nicht vergessen sollte: Als Arzt würde ich besser verdienen! – Ich musste mir eingestehen, dass für mich kein Argument mehr dafürsprach, in der Forschung zu bleiben. Im Gegenteil: Jedes gewichtige Argument sprach dagegen.

      Mir fiel auf, dass sich meine Überlegungen zu den Konsequenzen meines verlorenen Forschungsenthusiasmus reflektorisch um meine „Freiheit“ drehten. Der Wunsch nach der war offensichtlich stark ausgeprägt in mir. Und im Grunde war es auch in meinem Wissenschaftlerleben um sie gegangen: um das Ausleben wissenschaftlicher Freiheit. Die war zwar letztlich nur eine „Freiheit im Kästchen“. Aber ich hatte sie genossen und mich intellektuell austoben können. Beides ging jetzt nicht mehr. Zum Glück hatte ich in einem Leben auf dem Boot einen alternativen Weg gefunden, meinem Freiheitsbedürfnis nachzukommen. Und dies in recht konkreter Weise.

      Darüber hinaus konnte ich mir diese neue Freiheit auch tatsächlich leisten: Ich hatte keine Verpflichtungen und eine Jobalternative, die mir große Flexibilität bot (als „Beruf“ hätte ich eine ärztliche Tätigkeit trotz meines „Wandels“ nach wie vor nicht bezeichnen mögen; nach wie vor war der Term „Beruf“ für mich ausschließlich für „meine“ Forschung [als Nummer 1!] reserviert). Warum also sollte ich diesen Weg nicht gehen?

      Die Erkenntnisse des Wochenendes waren neu für mich. Ich war mir zwar sicher, dass sich Wesentliches nicht an ihnen ändern würde. Aber ich wollte dem Ganzen ein wenig Zeit geben, sich zu setzen. Vielleicht hatte ich mich ja doch getäuscht. Oder ich hatte Angst vor dem, was sich konsequenterweise aus ihnen ergeben würde.

      5 „Entheiligt“

      Als ich am Morgen nach meiner erschütternden Erkenntnis aufwachte, verspürte ich eine Art Beruhigung darüber, dass ich dem Ganzen ein wenig Zeit zum sich Setzenlassen hatte geben wollen. Diese Beruhigung änderte derweil nichts an meinem Schrecken über die Einsicht, dass mir die Forschung keinen Spaß mehr machte. Mir schien, als hätte ich etwas Wichtiges „entheiligt“. Frustriert fuhr ich zur Arbeit. Im Institut angekommen, freute ich mich auf den Feierabend.

      Ich beschloss, mich hinter meinem Schreibtisch zu verstecken und so zu tun, als hätte ich zu lesen. Irgendwie musste ich Zeit gewinnen! Noch bevor ich mein Großraumbüro erreicht hatte, rief Ming Li nach mir. Sie musste mich an ihrem Zimmer vorbeihuschen gesehen haben und wollte anscheinend wieder etwas von mir.

      Ich hielt an und drehte mich um. Sie fragte, ob ich heute Bilder von den Immunhistochemien, die ich vor ein paar Tagen gemacht hätte, schießen könne. Die Bilder brauche sie für einen Vortrag, den sie nächste Woche in San Diego halten müsse. Ich war höchst genervt, weil herumzufotografieren meinen Feierabend verschöbe, aber ich stimmte zu. Schließlich konnte Ming Li nichts für die Schwierigkeiten, in denen ich steckte. Überdies wurde mein Ärger über die verschobenen Mußestunden durch das Entzücken darüber gepuffert, dass sie nächste Woche außer Haus wäre. Dann würde mich auch keiner stören, wenn ich mich mit sinnlosen Verrichtungen zum Dienstschluss und ins Wochenende hangelte.

      Mein Großraumbüro betretend war ich froh, dass die anderen Mitarbeiter nicht da waren. (Sie wuselten bereits fleißig im Labor.) So konnte ich in Ruhe bei einem Käffchen meine E–Mail checken. In der Annäherung