Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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      Sie schob ihre Brille, die ihr unterdessen ein wenig über den nervös zuckenden Nasenrücken nach unten gerutscht war, auf eben diesem nach oben.

      „Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll“, wusste ich nicht genau, wo ich anfangen sollte. (Ich erinnere daran, dass es sich bei dieser Art Formulierung nicht um Redundanz handelt, sondern um einen Ausdruck der Aufrichtigkeit meines Vortrags. Unterdessen war ich fortgefahren:) „Die Angelegenheit ist kompliziert, aber ich kann sie auf einen Nenner bringen: Mir bedeutet die Forschung bei weitem nicht mehr so viel wie früher.“

      „Wirklich?“, grinste Ming Li spöttisch, und erläuterte blinzelnd: „Vielleicht musst du dich erst eingewöhnen oder solltest einfach mehr arbeiten. Dann kommst du gar nicht erst auf solche Gedanken. Außerdem ist das eigentlich gar nicht so schlimm. Meinst du, ich hätte immer Lust auf diesen ganzen Krempel? Ich komm doch kaum noch zu Experimenten und schlag mich die meiste Zeit mit Sachen herum, die mich überhaupt nicht interessieren: Tierschutzanträge, allen möglichen anderen Papierkram, Committee Meetings, irgendwelche lästigen Gutachterkommentare und was weiß ich noch alles. Aber so ist das halt mal in diesem Job. Der Laden muss laufen!“

      „Klar“, nickte ich bedächtig, und erinnerte sie behutsam, für den Fall, dass sie es vergessen habe: „Ich kenne diesen Beruf. Mit all seinen lästigen Begleiterscheinungen.“

      „Wo liegt dann das Problem?“, sah sie mich mit großen Augen an; ihre Nase zuckte; ihre Brille rutschte; ich erklärte das Problem:

      „Mir fehlt die Freude am eigentlichen Forschen, die mich früher all diese Begleiterscheinungen problemlos hatte ertragen und locker erledigen lassen. – Es macht mir keinen Spaß mehr!“

      „Dann mach’s halt ohne Spaß!“, steigerte sich ihr Blinzeln nahezu zu einer periokulären Konvulsion (ich musste kurz an Günter denken), und sie schob ihre Brille nach oben. Sich wieder ein wenig beruhigend, aber nach wie vor angespannt, ergänzte sie: „Die Arbeit ist da und muss erledigt werden. Außerdem ist es mir eigentlich vollkommen egal, ob du deine Arbeit mit Spaß oder ohne Spaß machst. Hauptsache, der Output stimmt. Dafür bezahle ich dich immerhin.“

      Ming Li machte es mir wirklich leicht. Ich lächelte diskret und erläuterte:

      „Hier sprichst du einen wesentlichen Aspekt an: den Output. Für mich gibt es keinen Grund, eine Arbeit zu machen, die mich nicht interessiert, wenn ich mit einer mich ähnlich wenig interessierenden Arbeit deutlich mehr Geld verdienen könnte.“

      „Was möchtest du damit sagen?“, hob sie überrascht das Kinn.

      Ich lehnte mich entspannt zurück und erklärte ruhig:

      „Wie du weißt, bin ich auch Arzt. Als solcher kann ich jederzeit und fast wo ich will arbeiten und deutlich mehr Geld machen als in der Forschung. Meine einzige Motivation, in der Forschung zu arbeiten, war mein Enthusiasmus für diese. Und exakt der ist mir abhandengekommen.“

      „Verstehe“, schob sie ihre Brille nach oben und blinzelte. „Aber du hast doch gar keine Erfahrung als Arzt. Hast du überhaupt eine Lizenz?“

      „Wofür hältst du mich?“, musste ich lachen, „Natürlich habe ich eine Lizenz! Überdies brauchst du dir um meine klinischen Erfahrungen nicht den Kopf zu zerbrechen.“

      „Worauf willst du hinaus?“, flirrten ihre Augen so nervös, dass ich mich fast um sie, Ming Li, gesorgt hätte.

      „Das ist ganz einfach“, sagte ich, und faltete meine Hände auf meinem Schoß ineinander, „Ich will mich mit dir über eine einvernehmliche Lösung für die Beendigung meines Aufenthaltes in St. Louis unterhalten.“

      Ming Li zögerte einen Augenblick mit ausdrucksloser Miene. Dann fragte sie gepresst und mit unkoordiniert fibrillierender Gesichtsmuskulatur:

      „Meinst du das jetzt im Ernst?“

      „Über Derartiges scherzt man nicht“, zuckte ich die Schultern.

      „Ich fasse es nicht!“, schnaubte sie, „Du bist gerade mal einen Monat hier und willst schon wieder gehen? Das ist absolut lächerlich. Das kann ich nicht ernst nehmen!“

      „Wie du meinen Entschluss siehst, ist deine Sache“, entgegnete ich ärgerlich, doch ruhig, und erläuterte weiter: „Mir ist dieser Entschluss ernst und ich sehe ihn nicht im Geringsten als lächerlich an.“

      „Doch, das ist absolut lächerlich!“, winkte sie ab.

      „Meinetwegen hältst du ihn für lächerlich“, lachte ich durch die Nase aus, „Ist mir egal. Ich habe mich sicherlich schnell entschlossen, ...“

      „Das kann man sagen!“, unterbrach sie mich energisch, und schob sich die Brille nach oben; ich lächelte und fuhr fort:

      „... aber besser schnell als zu langsam.“ (Ich hatte bewusst „besser schnell“ gesagt und auf das „zu“ zwischen „besser“ und „schnell“ verzichtet, um prophylaktisch meiner Einschätzung Ausdruck zu verleihen, dass ich sehr wohl die Schnelligkeit meines Entschlusses anerkannte, ich diesen aber nicht als „zu“ schnell ansähe. Ming Lis nervöses Augenzucken betrachtend war ich mir allerdings nicht sicher, ob sie diese Nuance meines Ausdrucks realisiert hatte, fuhr dennoch in meiner Darlegung fort:) „Ich bin hierhergekommen, um wieder in die Forschung einzusteigen. Gut. Aber ich musste – erneut mit der Materie befasst – feststellen, dass sich einiges geändert hat und mir forschen keinen Spaß mehr macht. Für mich ist diese Erkenntnis nicht lächerlich, sondern einschneidend, ebenso wie der Schluss, dass ich ihretwegen handeln muss. Wenn du sie und ihn trotzdem als ‚lächerlich‘ bezeichnest, verfehlst du den Punkt und drückst bestenfalls Frustration darüber aus, dass sich unsere Zielsetzungen nicht mehr miteinander decken. Und um auf den Zeitaspekt zurückzukommen: Stell dir vor, dieser Entschluss wäre erst in einem Jahr gefallen, nachdem alle möglichen gemeinsamen Projekte am Laufen wären und ich mich tatsächlich auf Verpflichtungen eingelassen hätte: So etwas könnte man dann als ‚unangenehm‘ bezeichnen, aber noch immer nicht als ‚lächerlich‘.“

      Wir sahen uns an. Die Luft zwischen unseren Augenpaaren schien zu oszillieren. Nach einem Moment sagte Ming Li gedrängt und sich die Brille nach oben schiebend:

      „Wir haben jetzt schon gemeinsame Projekte laufen.“

      „In deiner Vorstellung vielleicht“, schmunzelte ich, und erläuterte behutsam: „Du hast mich soeben von dem Projekt, das ich bisher bearbeitet habe, abgezogen und mir ein neues angetragen. In der Hinsicht wäre somit kein Verlust entstanden, wenn ich bald ginge. Außerdem wollte ich mich mit dir speziell darüber unterhalten, wann ich gehe, um eventuell die eine oder andere geplante Sache abschließen zu können, damit möglichst kein Schaden aus der Geschichte entstünde.“

      „Warum hast du nicht noch ein paar Monate gewartet mit irgendwelchen Entscheidungen?“

      „Der Antrag, den du mir eingangs vorgeschlagen hast, hätte eine langfristige Verpflichtung geschaffen, sobald wir ihn abgeschickt hätten. Nebenbei wäre es auch absurd, einen Antrag für ein jahrelanges Projekt zu schreiben, wenn ich ohnehin wüsste, dass ich mich verabschieden werde.“

      „Ich sehe“, rückte sie agitiert auf ihrem Stuhl hin und her, „Du wirfst mir also jetzt vor, ich hätte dich zu sehr gepusht.“

      „Nein. Ich habe dir lediglich erklärt, warum ich dir jetzt und nicht erst in einem Monat von der Angelegenheit erzählt habe. Länger hätte es sowieso nicht gebraucht, bis ich sie angesprochen hätte. Wie gesagt, ich sehe sie klar.“

      „Ich finde, du siehst gar nichts klar! Ich kann deine Entscheidung nicht ernst nehmen! In meinen Augen hast du eine Depression und brauchst dringend ärztliche Hilfe.“

      „Du gehst zu weit!“, antwortete ich, und sah sie ernst an.

      „Nein. Du hast eine Depression!“

      „Es langt!“, hob ich meine Stimme leicht, und erklärte, wieder ruhig: „Abgesehen