Klaus M. G. Giehl

Die Methode Cortés


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hatte ich früher zügig aus meinem Labor entsorgt!

      Ich war unglaublich von mir selbst genervt. Kopfschüttelnd erinnerte ich mich an die Worte eines Freundes und Kollegen. Unmittelbar vor seinem Vorruhestand hatte mir der Gute gestanden, in den letzten Berufsjahren eigentlich nur noch damit beschäftigt gewesen zu sein, E–Mails zu checken – und zu schreiben, um auch genug E–Mails zu checken zu haben. Ich war auf dem besten Weg, auf genau dieses Niveau abzurutschen! Dereinst, nach dieser Beichte, hatte ich mich gewundert, wie ein ehedem hochengagierter und erfolgreicher Wissenschaftler eine derartige Drückebergermentalität hatte entwickeln können. Ich hatte meinen Freund gefragt, ob er okay sei, hätte am liebsten seinen „Ölstand geprüft“, um mich zu vergewissern, ob ihm nicht ein wesentliches Elixier fehle. Mein Freund hingegen hatte schlicht gemeint, er habe genug Geld und wolle sich einfach nur noch um den Garten kümmern und das Leben genießen. Das hatte ich nicht verstehen können. Forschung war doch der Genuss schlechthin! Mein Freund hatte zwar andere Gründe gehabt für seinen Begeisterungsverlust als ich, aber ich verstand ihn jetzt: Ich quälte mich mit meiner Arbeit und träumte von meiner Smuk und schönen Stränden.

      Während ich auf die Betriebsbereitschaft meines soeben eingeschalteten Computers wartete – inzwischen saß ich an meinem Schreibtisch – fragte ich mich, ob es nicht erbärmlich sei, dass ich mich gerade einmal vier Wochen nach meinem sogenannten „Neuanfang“ am liebsten schon wieder verkrümelt hätte. Ich beantwortete mir die Frage zunächst nicht und machte mich ans „Werk“: Ich checkte meine E–Mail.

      Mein Blick versank in Buchstabenspiralen – und ich sann über das „erbärmlich“ nach, das mir gegen mich herausgerutscht war:

       Nein, mir meine Zweifel einzugestehen war nicht erbärmlich. Sollte es sich bei meinem Desinteresse an der Forschung um ein konstantes Phänomen handeln, würde ich es besser früher erkennen als später. Im Augenblick gälte vor allem zu klären, ob es sich tatsächlich um ein konstantes Phänomen handelte oder bloß um eine vorübergehende Irritation.

      Letzteres hätte denkbar sein können, weil mein „Neubeginn“ nicht nur der Versuch war, in mein altes Leben zurückzukehren, sondern mit diesem Versuch auch erheblich Änderungen des Lebens verbunden waren, das ich während der letzten Jahre geführt hatte. Ich hatte dieses freie Dasein auf meiner Smuk liebgewonnen!

      In den nächsten beiden Wochen setzte sich mein „Phänomen“ allerdings nicht nur kontinuierlich fort, sondern verstärkte sich zusehends. Ich verrichtete meine Arbeiten widerwillig und flüchtete mich in sinnlose Ablenkungen. Mir drängte sich immer mehr die Einsicht auf, dass ich mit Ming Li über die Sache reden musste. Aber ich schob das Unvermeidliche vor mir her und quälte mich mit Zweifeln und schlechtem Gewissen.

      6 Ming Li machte es mir wirklich leicht

      Aus diesem Schlamassel heraus halfen mir mein „Verantwortungsbewusstsein“ und (wie schon so oft!) der Zufall. An meinem sechsten Freitag in St. Louis steckte Koinzidenzia ihr beziehungsweise Ming Lis Köpfchen in mein Großraumbüro. Sie, Ming Li, müsse mich sprechen. Ich folgte ihr (widerwillig), betrat ihr Office (widerstrebend), schloss die Türe (widerständig) und Ming Li kam zur Sache, noch bevor ich mich (widerborstig) gesetzt hatte:

      „Jakob, ich hab noch mal über unsere Projekte nachgedacht.“

      Ich setzte mich (ganz). Ming Li erläuterte, es verschwende eigentlich meine Qualitäten, mich an den Dingen arbeiten zu lassen, die sie mir bisher aufgetragen habe. Dafür könne sie einen x–beliebigen Postdoc einstellen. Ich lächelte. Künftig, fuhr sie ernst fort, solle ich mich in Zukunft mit einem Projekt beschäftigen, das meine Expertisen voll, aber auch gänzlich zum Tragen bringe. Ich betrachtete meine Schuhe und überlegte einen Augenblick, ob Redundanzneigungen und Ähnliches auch interkontinental übertragbar seien. Unterdessen erläuterte mir Ming Li das Projekt, das sie sich für mich vorgestellt habe. Mir war es egal. Sie begeisterte sich. Ich empfand die Situation als nahezu unerträglich. Während Ming Lis Ausführungen hörte ich gar nicht richtig zu. Vielmehr suchte ich krampfhaft nach einer galanten Überleitung zu dem Punkt, an dem mir gelegen war: meinem endgültigen Ausstieg aus der Forschung. Der Entschluss war in diesem Moment (fast) gefallen: Das hier war nicht mehr meine Welt! Und Ming Li ins Leere rotieren zu lassen, wäre unfair.

      Irgendwann machte Ming Li einen weiteren Vorschlag:

      „Und dann hab ich mir überlegt, dass unsere Chancen für Funding langfristig besser wären, wenn du in der Sache gewissermaßen ein eigenes Profil entwickeln würdest. Das wäre auch für dich nicht schlecht. Wenn ich dann an einer anderen Uni eine Stelle bekomme, wäre es für mich leichter, eine Art unabhängige Research Associate Position für dich zu verhandeln. Du hättest dann etwas mehr Freiraum für deine Projekte – natürlich unter der Bedingung, dass wir unsere Sachen gemeinsam weitermachen und sich deine Projekte künftig auch in Zukunft weiter mit meinen verzahnen.“

      Ming Li plante damals, sich an eine andere Universität zu bewerben. Ich überlegte, ab jetzt und auch ein bisschen in die Zukunft, und antwortete:

      „Aha.“

      Sie, Ming Li, antwortete, sich ihre Brille über die nervös zuckende Nase nach oben schiebend:

      „Ich hab schon was aufgesetzt. Schick’s dir eben zu.“ Ming Li drehte sich zu ihrem Computer, sendete eine vorbereitete E–Mail ab und erklärte blinzelnd, sie habe mir soeben ein Layout für einen das neue Projekt betreffenden Drittmittelantrag zugeschickt. Anfangs wolle sie das Projekt finanzieren. Später plane sie, es hauptsächlich aus den Drittmitteln zu unterhalten, die ich nun – nach Vorgabe des Antragslayouts, das sie mir gerade zugesendet habe – beantragen solle. Ming Li fuhr, gehetzt wirkend, fort: „Du machst dann den Antrag als Principal Investigator mit mir als Co–Principal Investigator fertig. Das geht. Und wir haben auch schon preliminary Data und die Sache müsste wohl eigentlich steigen. Ich kenne ein paar Leute in der Gutachterkommission und die haben mir ein verdammt gutes Feedback gegeben.“

      „Ach ja?“, neigte ich meinen Kopf.

      „Ja“, nickte sie, und erläuterte nasenzuckend und sich gelegentlich die Brille nach oben schiebend: „Am besten fängst du gleich mit dem Antrag an. Das Ding muss Mitte Juli rausgehen. Wir müssen uns also beeilen. Allerdings müsstest du noch ein paar Experimente machen, um die preliminary Data ein bisschen zu verbessern. Ist nicht viel, kannst du zwischendurch und an den Wochenenden machen.“ Und sie ergänzte, abfällig lächelnd: „Hast ja lange genug Urlaub gehabt in den letzten Jahren und müsstest jetzt ja eigentlich gut erholt sein. Gelle? – Ich schick dir eben eine kleine Liste mit den Experimenten zu, die wir benötigten.“ Ich sinnierte kurz über die terminologische Passung von „Urlaub“ für den „Urlaub“, den ich in den letzten Jahren gemacht haben sollte. Währenddessen drehte sich Ming Li auf den Computer zu, suchte eine Datei auf dem Desktop, transferierte diese in eine an mich adressierte E–Mail, und drückte auf den „Send“–Knopf. So einfach ging das. Wir sahen uns an. „Tja, das war’s dann eigentlich“, schloss Ming Li, und ihre Augen wurden unruhig.

      Ich blieb sitzen, schaute auf ihren Computer und konzentrierte mich auf die Essenz des Geschehens: Wenn ich diesen Antrag fertig machte, verpflichtete ich mich auf Jahre hinaus! Falls der Antrag angenommen würde. Davon aber war auszugehen. Ich betrachtete Ming Li. Sie fummelte nervös an einigen Papieren herum und schob hie und da ihre Brille über den nervös zuckenden Nasenrücken nach oben. Offensichtlich hatte sie noch anderes zu tun, als einen meditativen Vormittag mit mir zu verbringen. Ich hatte Derartiges auch nicht vor. Die Zeit war reif, reinen Tisch mit Ming Li zu machen. Ich besann mich auf die Befeuchtung meines mentalen Putzläppchens und begann also, „den Tisch zu wischen“:

      „Ming Li, hast du einen Augenblick Zeit? Ich müsste etwas Wichtiges mit dir besprechen.“

      Ming Li schaute mich fragend und – wie ich fand – sorgenvoll bis genervt an, und antwortete:

      „Ja. Für etwas Wichtiges hab ich immer Zeit.“

      Ich „wischte“ weiter:

      „Dir