Siegfried, Hans Hofmann

HOO


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über die sanften Hügel geschoben. In zunehmender Vollmondphase schon kugelrund und kräftig orange leuchtend, hatte er den ungewöhnlich warmen Altweibersommertag in unwirkliches Licht getaucht. Jetzt schmückte sein silbriger Schein den sternenübersäten Nachthimmel. Der lange und ereignisreiche, sommerwarme Tag, einer der letzten in diesem Jahr, hatte sich still und leise verabschiedet.

      „Woahhh! Unglaublich!“, äußerte sich endlich Mucks mit respektvoller Miene. Er erhob sich von seinem Platz und gähnte. „Hast du heute viel durchgemacht, Hoo!“

      „Ja, eine unglaublich mitreißende Geschichte“, fügte Birne hinzu. „Hach, war das jetzt spannend.“ Müde gähnend, doch voller Bewunderung, klatschte sie kaum hörbar wieder einmal in ihre winzigen Hände. „Ähm, Hoo, du hattest ja im wahrsten Sinne des Wortes einen ‚Glücksfall‘ aus den Wolken!“

      Hoo lächelte. „Oh, ja, äh, vortrefflich formuliert, liebe Birne. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh und glücklich ich bin, hier zu sein. Für mich jungen Tropfen war das wie ein schockierender Albtraum und eine ungewisse Odyssee mit glimpflichem Ausgang in einem! Doch allmählich, äh, sollte ich darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Hier bei euch, in eurem Apfelbaum, kann ich ja leider nicht mehr allzu lange verweilen.“

      Hoo rieb sich die schläfrigen Augen und gähnte. „Uuaaahh, – jedenfalls, äh, bin ich jetzt zum Umfallen müde!“

      „Du liebe Güte, du hast ja so recht, Hoo“, piepste Birne. „Es ist ganz schön spät geworden. Wie gut, dass der Mond scheint und uns noch genügend Licht spendet.“ Aufmunternd stupste sie ihren Läusegatten an: „Mucksischatz, wir sollten schleunigst eine geeignete Schlafstelle für uns und unseren lieben Regentropfenfreund ausfindig machen!“

      „Ja, klar, natürlich, das tun wir“, antwortete Mucks gedehnt. Suchend, die Augendeckel schwer, guckte er um sich. „Ahh, da oben! Hab schon ein Plätzchen erspäht. Komm, mein Birnchen! Wir kriechen unter das große Blatt hier über uns. Und du“, wandte er sich an Hoo, „du legst dich bitte oben drauf. Am besten schläfst du dich erst einmal richtig aus. Morgen früh, wenn wir ausgeruht sind, denken wir gemeinsam darüber nach, wie wir dir helfen könnten, ja? Ganz bestimmt fällt uns dann etwas ein!“

      „Das ist wirklich sehr nett von euch, danke“, antwortete Hoo lächelnd. Doch jetzt freute er sich auf eine Mütze voll Schlaf.

      „Eine dringende Bitte hätten wir aber noch, lieber Hoo“, rief Mucks ihm augenrollend zu.

      „Ja, gerne, äh, stets zu Diensten“, bot Hoo sich gähnend an. „Was ist denn, Mucks?“

      „Dürfen wir bitte ganz schnell an dir hochkrabbeln? Das wäre, mit Verlaub, der kürzeste Weg zum Schlafplatz?“

      Hoos Erlaubnis kam prompt. „Aber sicher, wenn's weiter nichts ist. Das geht schon in Ordnung.“ Dabei warf er einen blinzelnden Blick auf Birne. „Passt aber auf, dass ihr mich nicht zu sehr dabei kitzelt, okay?“

      „Cool. Das ist voll cool! Danke, Hoo“, freute sich Birne.

      „Also dann, ab in die Heia!“, sagte Mucks. Er nahm seine Birne fest an der Hand. Ohne lange zu zögern krabbelten die Blattläuse flink an Hoos fülligem Wasserkörper hoch. Von seinem Scheitel aus sprangen sie mit einem kräftigen Satz direkt an die Unterseite des großen Apfelbaumblattes. In kuscheliger Schlafstellung klammerten sie sich daran fest.

      „Gute Nacht, lieber Hoo. Wir wünschen dir, dass du richtig gut schläfst!“, piepsten sie ihm noch gemeinsam zu.

      „Oh, ja, äh, Gute Nacht, ihr beiden! Das wünsche ich euch auch“, rief Hoo zurück. Ein übermächtiges Gähnen überkam ihn. Mit nur noch halb geöffneten Augen winkte er zu ihnen hoch.

      „Und, danke noch mal, dass du uns deine Geschichte so ausführlich erzählt hast“, fügte Birne leise an. „War atemberaubend. Träum was Schönes, Hoo!“ Dann gaben sie sich einen zärtlichen Gutenachtkuss und schlummerten selig ein.

      HOO DAGEGEN BEREITETE ES NOCH ETWAS MÜHE, zu seinem ihm von Mucks angebotenen Nachtlager auf die Oberseite des Blattes zu gelangen. All seine momentane Kraft und Geschicklichkeit waren gefordert. Erst einmal versuchte er, den knorrigen Ast zu erwischen. Dazu hüpfte er ein paar Mal in die Höhe und streckte sich in die Länge. Dann kosteten ihm einige Klimmzüge viel Puste. Danach vollführte er noch einen kurzen Balanceakt über den Blattstiel. Schließlich hatte er den ausgewählten Schlafplatz auf dem dunkelgrünen Blatt erreicht. Mit gefalteten Händen machte er es sich rücklings in der Blattmitte bequem.

      Ein neugierig heranfliegendes Glühwürmchen leuchtete ihm noch freundlich und lautlos zur guten Nacht.

      Hoo schloss seine Augen. Trotz großer Müdigkeit und letzter Anstrengungen konnte er nicht gleich einschlafen. Immer wieder, in einer Flut von Erinnerungen schwimmend, spulten sich die Szenen der schicksalsträchtigen Ereignisse dieses Tages in seinem Kopf ab. Insbesondere der dramatische Sturzflug, den er als Hagelkorn aus dem Wolkenbauch wie durch ein Wunder überlebt hatte.

      Jetzt, im Nachhinein, empfand er die spektakuläre Wandlung vom ursprünglichen Wassertropfen über das weiße Hagelkorn zum edlen, himmelblauen Regentropfen nicht nur als körperliche Fortentwicklung und erfrischende Regeneration, sondern zugleich auch als das Erreichen eines höheren geistigen und spirituellen Reifegrads. Und noch eins wurde ihm ganz plötzlich klar: Durch die Verwandlung von farblosem Flüssigwasser in den Gefrierzustand Eis und schließlich zum edelblauen Regentropfen hatte er einen totalen Erneuerungsprozess durchlaufen. Wahrscheinlich kam dies auch vielen kranken Wassertropfen, deren Funktionen zur Selbstreinigung kontaminiert und völlig geschwächt waren, irgendwie als ganzheitliche Genesung zugute.

      „Ein Heilungsprozess allererster Güte! Wie wasserwunderbar!“, lief die freudvolle Erkenntnis leise über seine Lippen. Somit hatte sich seine Beschwerdeklage, die er vor dem zuständigen Gremium im Wolkenreich eines Tages vorbringen wollte, ganz von selbst erledigt und in Luft aufgelöst.

      Neben den chaotischen Empfindungen, die in seinem freundlichen Herzen und seinem hellen Verstand umherwirbelten, machte sich auch noch ein anderes Gefühl bemerkbar, das die erlebten Geschehnisse nachhaltig linderte. Es war das unbeschreibliche Gefühl, ein Sieger zu sein. Ja, ein Sieger! Am heutigen Tag, inmitten des schrecklichen Gewitters, war Hoo dem Tod bildlich so nahegestanden, dass er sich jetzt vor nichts mehr fürchtete. Seine Ehrfurcht vor dem Leben war noch stärker geworden. Mit seiner wiederaufkeimenden Energie wollte er sich den schon seit seiner Geburt leidenschaftlich gehegten Wunsch erfüllen, sein Traumziel doch noch zu erreichen: den größten, schönsten und wasserreichsten Swimmingpool auf Erden – das weite Meer!

      Trotz oder gerade wegen der unglaublichen Ereignisse, die dieses Ziel in weite Ferne gerückt hatten, war er zu der festen Überzeugung gekommen, dass er es schaffen könnte! Sei ihm dann auch noch das Glück gewogen, würde er sicherlich schon bald in ein intaktes, fließendes Gewässer geraten. Auf seinem Weg zum Meer, ja spätestens in den unendlichen Weiten des Ozeans, würde er bestimmt Tropfenkontakte in Hülle und Fülle knüpfen können und bewegungsfreudig an allerlei Wasserspielen teilhaben.

      Aus dem Meer, der Urbrühe des Lebens, war er gekommen und als Wasserdampf zu seiner Mutterwolke aufgestiegen. Durch sie, in ihr und den unglaublichen Vorgang der Wandlung hatte er sich zum lebensfähigen, starken Regentropfen gemausert.

      Mit diesen weit zurückreichenden Gedanken und einem innigen Dankgebet auf den Lippen war er zur Ruhe gekommen. Leises Schnarchen deutete darauf hin, dass auch er nun eingeschlafen war.

      RETTUNGSAKTION

      Durch den melodisch flötenden Gesang eines Amselmännchens, das hoch oben im Apfelbaum saß und den Aufgang der Sonne am wolkenlosen Morgenhimmel begrüßte, erwachte Hoo aus seiner ersten Erdennacht. Nur langsam kam er aus seinen Träumen zu sich, fühlte sich dann aber recht frisch und ausgeruht.

      Einige flinke Sonnenstrahlen blinzelten bereits warm und heiter durchs grüne Blätterwerk. Hoo lag ausgestreckt auf der schattigen, schlafgemütlichen Oberfläche des seidig glänzenden Apfelbaumblattes. Still