Siegfried, Hans Hofmann

HOO


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nach Größe, Dichtigkeit und Art der Wolke sind überall kleine oder größere Bildungs- und Kommunikationszentren für wissensdurstige, lern- und bewegungsfreudige Wassertropfen, sogenannte ‚www‘-Räume eingerichtet. Innerhalb dieser unterschiedlich gestalteten, offen zugänglichen und flexibel sich verändernden Aktionsräume und Plattformen, die alle aus Wasser, Schnee oder Eis bestehen, werden von erfahrenen und ausgewählten ‚Meistertropfen‘ Seminare und Vorträge gehalten, Schulungen und offene Workshops durchgeführt. Häufig werden Film- und Bildershows gezeigt, wie auch Wassersportwettbewerbe ausgetragen.

      Zum Beispiel lief, äh, vor einigen Tagen noch, im www-Raum ‚Weltausstellungen – Weltwunder – Weltmeisterschaften‘ ein absolut sehenswerter Farbfilm über ‚Die sieben neuen Weltwunder‘, der von dem Weitgereisten und Hochgebildeten Meistertropfen, namens Wally Wender höchstpersönlich vorgestellt und dokumentiert wurde. Ich war sagenhaft begeistert!

      Ganz genau erinnern kann ich mich auch noch an die hochinteressante Bildprojektion über Hagelabwehr im www-Raum ‚Wolken-, Wind- und Wetterkunde‘. Äh, Professor Harry Vogl, einer der bekanntesten Meistertropfen im Wolkenreich, berichtete über die Hagelbekämpfung. Ihm verdanke ich dieses fundierte Wissen. Er erzählte von stets einsatzbereiten Flugzeugen, deren Piloten, und von schlimmen Hagelkatastrophen. Auch zeigte er uns ergreifende Luftaufnahmen von hagelträchtigen Wetterlagen.“

      „Voll fett, ey! Supercool! Da ist echt was geboten in eurem riesigen Wolkenreich da oben!“, zeigte sich Birne hingerissen. Tüchtig klatschte sie in ihre Händchen.

      „Ja, Hoo, das ist schon fantastisch! Kaum zu glauben!“, äußerte sich Mucks, wieder mal voll beeindruckt. Er malte sich aus: „Gäbe es solche Bildungszentren hier bei uns in unserem Apfelbaum – ich stelle mir dabei auf jedem Apfel einen anderen Schulungsraum, mit immer wieder neuen und für uns interessanten Wissensthemen vor –, ich glaube, da wären wir ständig auf Achse, gell, Birne?“

      „Oh, ja, mein Liebster, bestimmt wären wir das“, bestätigte Birne, „weil wir doch so furchtbar neugierig sind! Doch wenn dem so wäre“, fügte sie noch stutzig hinzu, „hätten wir ja gar keine Zeit mehr zum Fressen und Saugen! Ohne Fressen? Ohne Saugen? Nein, das würde mir keinen Spaß machen. Außer, es wäre dafür gesorgt, dass es zum Gucken auch immer was Leckeres zum Saugen und Knabbern gäbe? Das wäre dann genial!“

      Hoo und Mucks lachten herzhaft über ihre juxige Äußerung. Sie jedoch senkte, ruckzuck und ohne lange zu fragen, ihr Köpfchen und begann unbekümmert ein übriges Tröpfchen Wolkenwasser aus Hoos Bauchmulde aufzusaugen.

      Mucks schien ihr argloses Benehmen etwas peinlich zu berühren. Er wusste nicht so recht, ob Hoo es überhaupt noch als angenehm empfand, wenn sie sich einfach so von seinem kostbaren Wolkenwasser bedienten.

      Mucks' plötzliche, sentimentale Gehemmtheit war jedoch der regen Wachsamkeit von Hoo nicht entgangen. So bedeutete er ihm mit fast schon liebevoller, aufmunternder Stimme: „Nur zu, lieber Mucks. Keine Sorge. Erfrischt euch wie ihr wollt. Ich habe noch reichlich Wasser gespeichert und heute meine Spendierhosen an!“

      „Ohh, danke, lieber Hoo, das ist wirklich lieb von dir.“ Mucks atmete sichtlich erleichtert auf. Der ungenierten Sauglust seiner süßen Birne schloss er sich nun durstig, jedoch nicht ganz so gierig, an.

      Die wohltuende und sättigende Wassernascherei des putzigen Läusepärchens nahm nur wenig Zeit in Anspruch. Zur Genüge ließ Hoo für seine durstigen Blattlausfreunde sein wohlschmeckendes Wolkenwasser aus seiner Bauchöffnung perlen und fand wieder zurück zum Ernst der Lage in seiner Geschichte. Die wollte er nun in fließendem, ausführlichem Erzählstil zum glücklichen Ende führen.

      „NUN, ÄH, ALL DIESE DINGE, die ich im Vortrag von Meistertropfen Harry Vogl über die Hagelabwehr gehört, gesehen, gelernt und aufgenommen hatte, schossen durch meinen vereisten Brummschädel, als ich inmitten dicker Eisenschrauben, irgendwo auf der gepanzerten Tragfläche der fliegenden Kiste lag. Das rhythmische Vibrieren und hochdezible Brüllen der beiden Motoren versetzte mich in eine Art ängstliche Trance. Noch dazu bibberte ich vor Kälte und davor, was wohl noch alles passieren würde.

      Allmählich zuerst, doch dann sehr plötzlich, lichteten sich die dunklen Gewitterwolken. Der Pilot steuerte die tonnenschwere Maschine durch die windgebeutelten Luftmassen horizontal hinaus unter strahlend blauen Himmel und gleißendes Sonnenlicht. Auf einmal schraubte sich der Hagelflieger steil in die Höhe und überschlug sich zu einem kunstvollen Looping. Ich geriet in Bewegung und trudelte kopfüber von der stählernen, metallic silbernen Tragfläche. Die äußere Hagelkornschicht war schon ein wenig geschmolzen. Ich konnte gerade noch sehen, wie der riesige Blechvogel seitlich abdrehte, eine scharfe Kehre beschrieb und zurück unter die finstere, gigantische Wolkenwand röhrte.

      Während ich mich im freien Fall befand und der Erde entgegenraste, wurde mir immer wohliger zumute. Die Luft erwärmte sich. Stille toste in meinen Ohren. Und, ich konnte nun richtig spüren, wie mein dicker, weißer Eispanzer rasch hinwegschmolz. So erlebte ich die einmalige Verwandlung vom dick vereisten Hagelkorn zu einem lauen, hellblau schimmernden, edlen Regentropfen! Sofort wurde mir bewusst, dass ich nicht als Hagelkatastrophentropfen enden würde!

      Mich durchströmte ein, äh, unbeschreibliches, andauerndes Glücksgefühl. Meine geistige Frische lebte allmählich wieder auf. Körperlich war ich eher noch schwach. Meine ehemalige Farblosigkeit hatte sich zu himmlischen Blautönen verwandelt. In mir erwachte ein noch nie verspürtes Gefühl von Daseinsfreude. Ich begann, fest an mich zu glauben, und fühlte mich sogleich wieder als der, der ich schon immer gewesen bin: ein dicker, friedvoller, lebensfroher, bewegungsfreudiger, wissensdurstiger und, na ja, bisweilen vielleicht auch ein, äh, etwas tollpatschiger Tropfen! Das war Glück im Unglück! Das war perfektes Timing, und, äh, meine wundersame Rettung!

      Ganz allein fiel ich lautlos und als freudetrunkener Regentropfen der Erde entgegen. Über mir wölbte sich der Vergissmeinnicht-blaueste Himmel, den ich je gesehen hatte, und unter mir, äh, oh – Obstbäume! Ich sauste einer Obstbaumpflanzung entgegen!

      Platschend landete ich, ohne mich zu verletzen, auf einem großen grünen Blatt in der üppigen Krone eines Apfelbaumes. Ich war so glücklich und erschöpft zugleich, dass ich in meinem Freudentaumel erst einmal saft- und kraftlos von Blatt zu Blatt rutschte. Als ich den ersten Halt und ein Plätzchen fand, um eine wohlverdiente Verschnaufpause einzulegen, befand ich mich bereits einige Astgabeln weiter unten, inmitten des dichten Blätterwerks.“

      Hoo holte tief Luft. Er gähnte, reckte und streckte sich. Dann bog er den Trinkhalm zu seinem Mund und saugte tüchtig Apfelsaft daraus. Nach einem lauten Schmatzer und einem genüsslich folgenden „Aaaahh“ schleckte er mit der Zunge über seine vollen Lippen. Ein kurzer Rülpser blieb nicht aus.

      Mit schier feierlicher Stimme verkündete er: „Nun, äh, liebe Birne, lieber Mucks, das war meine bisherige Lebensgeschichte. So ist's gewesen! Momentan bin ich erst einmal hier bei euch im Apfelbaum. Das ist jetzt Gegenwart und Realität! Von nun an steht mein weiteres Leben, äh, ich weiß nicht, vielleicht da oben, in den Sternen?“

      Still und bewegt richtete Hoo seinen Blick zum unendlichen Firmament, an dem sich, zusammen mit der fortschreitenden Dunkelheit, immer mehr funkelnde Sterne zeigten. Allerdings blieb ihm durch das dichte Blattwerk des Apfelbaumes die freie Sicht, so, wie er sie auf seiner weißen, schwerelosen Sommerwolke gewohnt war, verwehrt. Mit innerer Gelassenheit transferierte Hoo das gewölbte Sternenzelt einfach vor sein geistiges Auge und ließ dabei seine vielen Gedanken noch ein wenig schweifen.

      Das Blattlauspärchen hatte den ungemein fesselnden Schilderungen seiner wahrhaft abenteuerlichen Erlebnisse bis zum Schluss aufmerksam gelauscht. Total beeindruckt und ergriffen, aber auch schon ziemlich müde, mit schweren Augenlidern, saßen sie aneinander gekuschelt auf seinem Bauch. Sekundenlang, – und mucksläuschenstill!

      DIE ABENDDÄMMERUNG HATTE SCHLEICHEND ihr dunkles Kleid über den lieblichen Obstbaumhain ausgebreitet. Das geschäftige, bisweilen laute Gezwitscher der heimischen Vogelarten war schon gänzlich verstummt. In den Baumkronen ließ der laue Südwestwind die Blätter rascheln. Feldgrillen zirpten im