Siegfried, Hans Hofmann

HOO


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Schoß unserer Mutterwolke wurden wir dann Abend für Abend in sauberster Luft und dem sanften, betörenden Gesang des Windes in den Schlaf gewiegt. Über uns, am unendlichen Nachthimmel, das Leuchten der Sterne und die bandförmige Aufhellung der Milchstraße.

      Manchmal, des Nachts, wenn alle Tropfen fest schliefen und mich das silberne Licht des Mondes sanft am Schnorchel kitzelte, stand ich traumverloren auf. Wie mondsüchtig bewegte ich mich mutterseelenallein und mit schlafwandlerischer Sicherheit über die flaumigen Kissen und unzählige Artgenossen hinweg. Manche schnarchten, doch so sanft, leise und ruhevoll, wie das Schnurren eines friedlich schlafenden Kätzchens. Ich, äh, erträumte mir so sehr, dass ich irgendwann einmal mit vielen Tropfenfreunden dazu auserkoren würde, in dieses urgewaltige, unendliche Meer hinabzuregnen. Meine Sehnsucht, einmal eine oder gar mehrere lange Lebensperioden darin verbringen zu können, mich dabei frei entfalten und bewegen zu dürfen, war unstillbar – und, äh, ist es noch!“

      Hoo schluchzte wehmütig. Er konnte es nicht verhindern, dass einige klitzekleine Tränen über seine wasserglatten Wangen kullerten.

      „Das kann ich gut verstehen, Hoo. Bestimmt hättest du dann mit deinen Wasserfreunden eine große Planscherei veranstaltet“, versuchte Birne ihn aufzumuntern. „Aber, Hoo, sei doch bitte nicht traurig. Vielleicht ...?“

      „Ja, ja, vielleicht ...? Vielleicht ...?“, dachte Mucks laut nach. „Wer weiß? Vielleicht wird alles wieder gut?“

      „Genau! Das will ich meinen! Wer soll denn heute schon wissen, was morgen ist“, philosophierte Birne.

      „Aber erzähl' doch bitte weiter, lieber Hoo“, bat Mucks ihn freundlich. „Was ist denn geschehen?“

      „Ja, was genau ist vorgefallen?“, piepste Birne hinterdrein. Ihre Neugierde wuchs.

      „Ach, äh, wisst ihr“, machte Hoo seinem Herzen Luft, „die Vorstellung in diesem tiefblauen Ozean zu schwimmen, die salzige Luft zu schnuppern und die mal sanft schwankenden, mal etwas heftiger schaukelnden Bewegungen der warmen Wellen zu spüren, sich auf und mit ihnen treiben zu lassen, darin einzutauchen und auch mal mit ihnen zu verschmelzen, ließ mich nicht mehr los. Ich, äh, hatte mir so sehr erhofft, dass dieser wunderbare Traum bald in Erfüllung ginge. Doch dann, äh ...?“ Hoo hielt kurz inne. Er wischte sich über die feuchten Augen und seufzte. „Ach herrje! Dann, äh, dann kam alles ganz anders!“

      „Ganz anders? So ganz anders?“, tuschelten die Blattläuse. Achselzuckend schauten sie einander an, dann ihren melancholisch wirkenden Regentropfenfreund.

      „Ja, total anders!“, empörte sich Hoo. Der Klang seiner Stimme kam aus dem tiefsten Innern seiner hochempfindsamen Seele. Seine Lippen zitterten. Um sich ein wenig zu beruhigen, sog er tief den süßlich-fruchtigen Apfelduft ein, der in der lauen Luft lag. Dann beschrieb er seine weiteren Erlebnisse.

      „Eines schönen Tages wurde ich unsanft aus meinem gewohnten Mittagsschläfchen wachgerüttelt: „Hallo, Hoo! Du Schlaftropfen! Los, aufstehen!“, riefen einige meiner Spielkameraden. Dabei hüpften sie wie wild geworden auf unserem Wolkenkissen herum. „Steh' auf! Steh' doch endlich auf! Du hast lange genug geschlafen! Die Pflicht ruft! Du wirst doch wohl nicht die große Versammlung vergessen haben? Mach' schon, Hoo, beeil dich!“

      „Was? Wie? Äh, welche Versammlung denn?“, fragte ich müde blinzelnd. Noch schlaftrunken, gähnte und streckte ich mich.

      „Na, die Versammlung aller Wassertropfen in der großen Wetterhalle! Hoo, du weißt doch, heute werden wir unserer Bestimmung zugewiesen. Komm endlich! Raff dich auf! Wir müssen sofort los!“

      „Wie? Heute? Äh, a-a-aber ...?“, stotterte ich verwirrt. Ich schluckte. Die überraschende Nachricht ging mir echt unter die Haut. Wie vom Donner gerührt stand ich da! Nicht eine Millisekunde später war ich hellwach. Besorgt schaute ich um mich. Überall rannten Wassertropfen aufgeregt umher. Unsere weiße Sommerwolke hatte sich zusammen mit anderen Wolken zu einem mächtigen, sich allmählich dunkler färbenden Gesamtkunstwerk á la Bombastisches Wolkengebirge aufgequollen, das nun ein unschätzbares Gewicht an Wasser mit sich trug. Und, äh, der blaue Ozean, das weite Meer? Es war weg! Verschwunden. Einfach nicht mehr da!

      „Wo sind wir? Was ist denn passiert?“, meldete sich meine innere Stimme. Wisst ihr, ich überlegte, wie lange ich wohl tief und fest geschlafen haben musste. Wieso war niemand meiner zahlreichen Tropfenfreunde dazu fähig und bereit gewesen, mich eher aufzuwecken? Warum bin ich, wie sonst ja auch, nicht einfach von selbst wach geworden? Hatte man mir eine Beruhigungsphase für zu ausgelassenes Herumtollen aufgebrummt?! Verbüßte ich etwa eine Wolkenschulstrafe für zeitweiliges Versäumen des frei wählbaren Unterrichtsangebots?! Oder befand ich mich gar in einem, mir von überirdischer Macht auferlegten, längeren Blackout?! Bis heute ist mir das völlig rätselhaft. Wie ein unerklärlicher, dunkler Schleier schlummert da irgendetwas in einem Hinterstübchen meines Gehirns. Ich, äh, war völlig durcheinander!“

      Hoo stutzte. Für einen Moment schloss er seine Augen. Er atmete schwer, als er sagte: „Das Einzige, an was ich mich noch dunkel entsinnen kann, ist ein Traum, eine Art Prophezeiung, die in den Tiefen meines Gedächtnisses untergetaucht ist. Ein besonderer Tag sollte mir bevorstehen, schon bald, äh ...?“ Seine Worte verstummten hinter bebenden Lippen. Alle Erinnerung lief ins Leere ...

      BIRNE UND MUCKS VERHIELTEN SICH STILL. Das bisschen Heben und Senken seines Bauches, auf dem sie ja eng aneinander gekuschelt saßen, schien sie nicht weiter zu stören. Das sanfte Auf- und Abwippen, obwohl jetzt zu leichtem Schaukeln sich steigernd, fanden sie eher lustig. Auch hörten sie, wie sein Herz aufgeregt pochte. Doch stellten sie keine Fragen und piepsten auch nicht dazwischen. Ohne jegliche Furcht hielten sie sich fest an den Händchen. Respektvoll warteten sie darauf, dass er seine Geschichte weitererzählen würde, was er einige Atemzüge später dann auch tat.

      „WIE ICH SEHEN KONNTE, befanden wir uns über Land, am Rande eines hoch aufragenden, wolkenverhangenen Gebirges. Unter mir erblickte ich saftig grüne Wiesen, auf denen prächtige Milchkühe grasten und rassige Pferde weideten. Fleißige Landwirte arbeiteten in ihren offenen Stallungen. Mit bulligen Traktoren und Mähdreschern bestellten sie Felder und Ackerland. Auf Straßen fuhren allerlei Fahrzeuge und an idyllisch gelegenen Badeseen waren die Parkplätze überfüllt. Familien picknickten auf den Liegewiesen. Sie hatten ihre Decken und Matten unter bunten Sonnenschirmen und im Schatten hoher Laubbäume ausgebreitet. Viele Erwachsene und Kinder schwammen und planschten ferienvergnügt im erfrischenden Wasser.

      Ein breiter, silbrig glitzernder Fluss schlängelte sich durch diese liebliche Tallandschaft. Gemächlich floss er vorbei an Mischwäldern, Siedlungen, Dörfern, Gehöften und unter Brücken hindurch. Eine Stauwehr mit mehreren Schleusen teilte den Fluss in aufgestautes und fließendes Wasser. Nahe dem Fluss verlief geradlinig eine dreigleisige Eisenbahntrasse. Ein waggonreicher Güterzug ratterte gemächlich über die Gleise, während in Gegenrichtung ein vollbesetzter Hochgeschwindigkeitszug seine Passagiere beförderte. Auf einem Sportplatz wurde Fußball gespielt. Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, befand sich ein kleiner Flugplatz mit Hangar, vor dem einige Sport- und Segelflugzeuge herumstanden. Gerade wurde auf der Startbahn ein weißer Segler mittels eines Schleppseils von einem Schleppflugzeug in die Höhe gezogen, um so in aufsteigende Luftströmungen zu gelangen. Ein anderes setzte unter sanftem Wind zur Landung an. An dem sich verschmälernden Ende des Tales thronte auf einer bewaldeten Anhöhe ein mächtiges, mittelalterliches, weißgetünchtes Kastell. In der Ferne, wo sich das Tal auf der anderen Seite weit öffnete und in flaches Land überging, wuchs unter leichtem Dunst schemenhaft eine größere Stadt dem Horizont entgegen.

      Plötzlich war ein langes, dumpfes Donnergrollen zu hören. ‚Rainer Celsius‘, einer der gestrengen Botschafter des Globalen Wettermeisters ermahnte zur Eile. Die Versammlung in der Wetterhalle sollte jeden Augenblick beginnen. Einige der aufsteigenden Wolken hatten sich nun bereits zu grauschwarzer Melange verfärbt und einem wulstigen Monster gleich riesenhaft aufgetürmt. Ich wusste, dass jeder, der zu spät kam oder der anberaumten Versammlung nicht beiwohnte, mit strengster Bestrafung zu rechnen hatte.“ Hoo atmete tief durch. Die Spannung seiner kleinen Zuhörer wuchs.

      „Donner und Blitz! Bloß