Siegfried, Hans Hofmann

HOO


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meldete sich Mucks mit gedämpfter Stimme, „hast du denn nicht versucht, dich dagegen zu wehren und das Missverständnis aufzuklären, um den Schrecken der Eiskammer doch noch irgendwie zu entkommen?“

      „Freilich Hoo, unbedingt“, piepste Birne kühn. „Du, als guter Tropfen, hättest doch zum blauen Schleuseneingang laufen können? Ähm, ich meine, du wusstest doch, dass da für dich etwas schiefläuft. So wäre es vermutlich ein Leichtes gewesen, die ungerechte Entscheidung einfach nicht zu beachten?“

      „Um Himmelswillen, nein! Wie sollte ich? Daran wagte ich, äh, gar nicht zu denken! Beschwerdestellen sind in Wetterhallen nirgends eingerichtet. Jedes Fehlverhalten meinerseits wäre töricht und zwecklos gewesen. Ich, äh, konnte nicht entrinnen!“, schluchzte Hoo. Sorgsam wischte er sich dabei das Tränenwasser aus seinen verweinten Augen. „Läuse, glaubt es mir, das war, äh, echt unmöglich! Hätte ich mir mit meiner Körperfülle erlaubt in die Regenkammer zu gelangen, wäre ich in flagranti erwischt und aufs Allerschärfste bestraft worden. Dafür bin ich eine viel zu ehrliche Haut, und die ist halt, äh, leider, mehr als mollig! Wisst ihr, die allerschlimmste Strafmaßnahme für mich als aufrichtiger, junger Wassertropfen wäre gewesen, in die Hitzekammer eingesperrt zu werden, qualvollen Durst erleiden zu müssen, oder, äh, gar jämmerlich zu verdampfen!“

      „Beim grünen Barte aller Blattläuse! Das ist so entsetzlich!“, erregte sich Mucks. Er schüttelte sein kleines, grünes Köpfchen und schaute himmelwärts. „Regenkammer! Eiskammer! Hitzekammer! Strafkammer? Ihr habt aber äußerst strenge Regeln da oben, im Wolkenreich! Und es gab wirklich keinen Ausweg? Auch nicht den klitzekleinsten?“

      „Auch nicht den klitzekleinsten, nein. Absolut nicht!“, beteuerte Hoo noch einmal. „Die geltende Gesetzgebung gegenüber uns Wasserwesen ist in diesem Fall absolut starr und himmelschreiend ungerecht. Da war nichts zu machen! Sozusagen unanfechtbar!“ Entschieden setzte er noch eins drauf, indem er erklärte: „Sollte ich irgendwann einmal, wie und wann auch immer, ins Wolkenreich zurückgelangen, werde ich all meine mir innewohnenden Kräfte in Gang setzen, um an Ort und Stelle beim zuständigen Gremium vorzusprechen. Es ist unbedingt notwendig, einige durchgreifende Gesetzesänderungen anzuregen, die diese völlig unhaltbare Regelung sowie weitere Diskriminierungen für uns Tropfen ein für allemal ausräumen! Die ‚Globale Verordnung für Wasserwesen‘, in der solch untröpfliche, längst überholte Bestimmungen anscheinend noch verankert sind, bedarf dringend einer Entrümpelung! Sie dürfen in unserer modernen Wasserwelt keinen Platz mehr finden! Das Zusammengehörigkeitsgefühl muss gestärkt werden. Da werde ich, so wahr ich Hoo heiße, schon für frischen Wind sorgen und hohe Reformwellen schlagen! Ja, ja, das tue ich! Hundertpro!“

      „Das ist ein superguter Gedanke, lieber Hoo“, rief Birne aus. „Absolut einleuchtend – und sicherlich sehr mutig und engagiert. Voll cool!“

      „Wirklich toll, ja! Starke Worte. Ein großartiger Vorsatz“, äußerte sich auch Mucks dazu. Er überlegte kurz. „Hm, wie sagt man doch gleich? Solidarisch?“

      „Solidarisch! Sehr richtig, Mucks“, bestätigte Hoo. Er war bass erstaunt über den bemerkenswerten Wortschatz und das beachtliche Wissen dieser winzigen, drolligen Lebewesen. „Schließlich sind wir uns doch gegenseitig verpflichtet, nicht wahr? Wollen wir denn nicht alle gut behandelt werden, in Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, globaler Sicherheit, in Frieden und in Würde leben – und nicht nur existieren, auf diesem einzigartigen blauen Planeten, unser aller Mutter Erde und Wasser?“

      „Natürlich wollen wir das!“, antworteten die Blattläuse wie aus einem Mund, als wäre es ihnen ebenso ein persönliches Anliegen.

      „Doch wie es scheint, geschehen auch noch Wunder“, stieß Birne frohgemut hervor. Ihre Äuglein funkelten. Wie eine Glücksfee fuchtelte sie dabei mit ihren putzigen Händchen vor ihrer und Mucks' Nase herum. Hoo rief sie zu: „Denn sonst, mein lieber Hoo, wärst du ja jetzt nicht hier bei uns. Stimmt's?“

      „Ja, ihr Lieben, zum Glück! Das ist wohl wahr“, antwortete Hoo beruhigt. Sanft lächelnd stimmte er den beiden zu, die, wie er feststellte, so grün hinter den Ohren gar nicht waren. Dann dachte er still und in sich gekehrt über irgendetwas nach. Birne und Mucks warteten geduldig, bis er sich wieder zu Wort meldete.

      „Liebe Blattlausfreunde, das, äh, schier Unfassbare passierte erst einige Zeit später! Das Glück hatte riesige Flügel! Ich, äh, werde es euch gleich erzählen. Doch lasst mich bitte erst was trinken. Ich brauche dringend eine innere Erfrischung. Ich habe trockene Lippen und verspüre mächtigen Durst.“

      „Oh ja, Hoo“, seufzte Birne. Ihren Läusemann stupste sie mit goldig blitzenden, hungrigen Augen an. „Wir sollten auch wieder etwas zu uns nehmen. Meinst du nicht auch, mein lieber, guter Mucksischatz?“

      Dieser untrügliche Blick, dachte Mucks. Ihm war sofort klar, worauf sie hinauswollte. „Sowieso, mein Birnchen, das ist die erfrischende Idee!“ Etwas befangen guckte er zu Hoo hoch, räusperte sich und fragte ihn: „Hoo? Dürfen wir bitte auf deinen Bauch zurückkrabbeln? Dort war es vorher so gemütlich. Liebend gerne würden wir auch noch einmal von deinem köstlichen Wolkenwasser trinken, wenn du es uns bitte erlaubst?“

      „Aber ja, sehr gerne sogar. Da freu ich mich!“, rief Hoo ihnen zu. „Äh, wartet! Vorher mache ich es mir selbst wieder bequem.“ Gesagt, getan. „So! Bitte sehr, kommt nur rauf und bedient euch. Trinken wir auf unsere Freundschaft! Und, äh, danke, liebe Birne, lieber Mucks, danke dass ihr mir meinen ungewollten Wutanfall verziehen habt.“

      Sein zuvor heiß gelaufener Gemütszustand hatte sich abgekühlt und stabilisiert. Hoo benahm sich wieder vollkommen normal.

      Birne und Mucks kehrten freudig zurück auf seinen Wasserbauch. Sie waren durstig. Sogleich labten sie sich an seinem wohlschmeckenden Wolkenwasser. Durch die heftige, innere Aufwallung, ja tiefe Empörung, die Hoo ereilt hatte, war sein Wasser etwas warm geworden. Gleichwohl blieben Qualität und Geschmack voll erhalten. Dem munteren Blattlauspärchen mundete sein Körpertrunk nach wie vor erstklassig.

      Hoo schnappte sich einen Trinkhalm. Lässig führte er die runde Öffnung an seinen Mund. Schlürfend gönnte er sich einige tüchtige, wohltuende Schlucke. „Aaaahhh, tut das gut!“, brummelte er zufrieden. „Das ist schon eine prima Sache, so eine Apfelsafttankstelle! Da muss ich mir, äh, gleich nochmal ein paar kräftige Schlucke genehmigen.“

      Letztendlich, nach seinem lauten, fast schon obligatorischen Rülpsen und Entschuldigung sagen, klinkte er sich umgehend wieder in seine noch brühwarme Geschichte ein.

      Frisch gestärkt kuschelten sich Birne und Mucks nahe seiner Bauchmulde aneinander. Aufmerksam lauschten sie dem weiteren Verlauf seiner Geschichte, die immer noch spannungsreicher zu werden schien.

      „ICH, ÄH, ERGAB MICH ALSO MEINEM MIR AUFERLEGTEN LOS. Meine lieben, und durchweg schlankeren Tropfenfreunde, Spiel- und Wolkenschulkameraden, mit denen ich auf unserer Mutterwolke die gemeinsame, wunderschöne, und unbeschwerte Zeit des Heranwachsens erleben und verbringen durfte, waren in dem Gewimmel längst entschwunden. Auf Nimmerwiedersehen! Unendliche Traurigkeit in mir, schlurfte ich auf dem undurchlässigen, kühlen Wasserboden durch den gigantischen Wassertunnel nach vorne. Als ich endlich vor der großen, eckigen und aus purem Eis bestehenden Schleusenwand stand, hinter der sich die Eiskammer verbarg, war mein Lebensgefühl gleichsam auf Null gesunken. Nie zuvor war mir jämmerlicher zumute gewesen.

      Dort herrschte bereits wildes Gedränge, meines Erachtens völlig unnötiges Geschubse und Geplärre. Alle dicken, älteren, und überraschend viele kranke Wassertropfen waren vor dem geschlossenen, hell beleuchteten Eisportal zusammengelaufen.

      Erholungsbedürftig und ausgelaugt, gezeichnet und vom Pech verfolgt, taten mir die kranken Wassertropfen besonders leid. Mindestens einmal schon, waren diese Tropfen mit Niederschlägen der Vergangenheit in den von der menschlichen Gesellschaft durcheinander gebrachten, arg belasteten Kreislauf des Wassers oder sonst wohin geraten. Dabei waren sie von Schadstoffen, giftigen Substanzen und Bakterien angereichert und verseucht worden, oder zumindest mit Gesundheitsgefährdenden Verunreinigungen in Berührung gekommen. Hinzu kam der immense Mangel an Sauerstoff und Licht. Die fehlenden Basisenergien machten ihnen derart