Simone Stöhr

Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft


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worden und sie wusste auch nicht, ob sie kurze Zeit mit dem Erbrechen aufhören hätte können, um ihre Sprache wieder zu finden. Er beugte sich zu ihr hinunter, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

      „Cathy, es ist so, dass Bella der Meinung ist“, begann er vorsichtig „dass ich etwas schlafen sollte. Sie würde sich gerne um dich kümmern, wenn du möchtest. Ich habe ihr aber schon gesagt, dass du das nicht möchtest, aber sie besteht darauf, dass ich mit dir spreche.“

      Cathy nickte schwach, doch Mike ging nicht darauf ein und sprach weiter.

      „Ich habe dir versprochen, dass ich für dich da bin und dazu stehe ich auch“, versicherte er ihr.

      Cathy versuchte sich aufzuraffen und ihm fest in die Augen zu blicken. Es kostete sie unheimliche Kräfte, kurz mit ihm sprechen zu können.

      „Sie hat Recht...“, flüsterte sie mit rauer Stimme.

      „…Du brauchst deinen Schlaf…“

      Sie musste kurz aussetzen, ehe sie weitersprechen konnte. „…dass du dich um Mum kümmern kannst… das ist vorerst wichtiger…“, krächzte sie „…Ich werde mit ihr schon klarkommen… Versprich mir bitte, dass du Mum … zurückholen wirst…“

      Mit letzter Kraft beugte sie sich zu ihm vor und sagte: „Versprich es!“, ehe sie zusammensackte. Dann brachen ihre Worte ab und mit einer schwachen Handbewegung winkte sie ihn zur Tür hinaus.

      „Ich verspreche es dir“, sagte er aufrichtig und verabschiedete sich dankbar von der engelsgleichen Frau hinter Cathy.

      Er ging und die Frau, die Mike vorhin Bella nannte, schloss die Tür. Sie beugte sich hinunter und Cathy konnte sie erstmals richtig ansehen und ihr Gesicht studieren. Sie hatte sanfte grüne Augen, die genau zu wissen schienen, was Cathy dachte oder fühlte. Ihr Mund zeigte ein verständnisvolles Lächeln und ihre blonden Locken umspielten frech ihr Gesicht. Aber das Unglaublichste an ihr war das Strahlen, das von ihr ausging. Cathy dachte erst sie phantasierte und der Entzug spielte ihren Sinnen einen Streich. Aber mehr und mehr passte das Strahlen zu der Person vor ihr. Vor ein paar Stunden dachte Cathy von der Frau noch, dass sie durchschnittlich wäre und sie konnte sich nicht erklären, was Mike an ihr fand. Doch jetzt war es ihr klarer, denn je. Sie musste ein Engel sein! Cathy rechnete ihr das hoch an, gerade, weil die Frau sie nicht kannte und sich dennoch wie ein Engel uneigennützig die ganze Nacht um die Ohren schlug für sie. Cathy hatte den Wunsch sich zu bedanken und erkenntlich zu zeigen, aber ihr Körper versagte ihr jeglichen Dienst. Die Anstrengung war schon zu groß, als sie vorhin noch mit Mike sprach. Zumindest ließ ihr Brechreiz nach und sie konnte sich etwas entspannen, auch wenn ihr durch die ruckartigen Bewegungen des Brechens jeder Muskel im Körper wehtat. Die Frau schien zu wissen, dass es aufhörte und spülte das Erbrochene hinunter. Anschließend packte sie Catherine unter den Achseln und zog sie rückwärts in ihr Zimmer und legte sie vorsichtig auf ihr Bett. Sicherheitshalber brachte sie noch einen Eimer ins Zimmer und dämmte das Licht bis auf das kleine Licht am Nachttisch. Es war als konnte sie Cathys Gedanken lesen und wusste sofort was sie brauchte oder was ihr schadete. Die ganze Nacht blieb sie auf und war ständig auf den Beinen, um auf ihre Bedürfnisse, die schier im Minutentakt wechselten, einzugehen. Mal bekam sie Fieber und Bella machte ihr Wadenwickel, dann fror sie wieder und ihr Engel packte sie in Decken ein. Es war ein wunderbares Gefühl so gut verstanden zu werden, ohne auch nur ein einziges Wort sprechen zu müssen, was sie auch definitiv nicht gekonnt hätte. Auch wenn sie sich Mike gewünscht hatte, so musste sie eingestehen, dass er bei weitem nicht so fürsorglich gewesen wäre, wie sie. An ihrem Schmunzeln erkannte Cathy, dass sie auch diese Gedanken gesehen haben musste. Es war eine schier endlose Nacht, in der an Schlaf nicht im Geringsten zu denken war. Sie hatte Schmerzen und wünschte sich nur noch tot zu sein. Wenn sie nur daran dachte, wie die Schmerzen die nächsten Tage noch zunehmen würden, war sie froh, dass Mike für sie die Variante der Vollnarkose gewählt hatte. Momentan saß sie gefangen in ihrem Körper und musste alles ertragen. Während der Vollnarkose war das nicht anders, aber zumindest empfand sie dann keine Schmerzen mehr. Die Aussicht war durch den jetzigen Zustand geradezu verlockend. Daher kam es ihr wie eine Erlösung vor, als Mike plötzlich mit den Worten „wir müssen los“ vor ihr stand. Alles was jetzt kam, konnte nur noch besser werden.

      Samstag, 09.08.2008 Wellington, 08:03 Uhr

      Da sie selbst unfähig war aufzustehen, hob Mike sie auf und trug sie hinunter zum Wagen. Sie wollte dem Engel der Nacht noch dankbar zulächeln, doch ihre Gesichtsmuskeln waren zu verkrampft, um sie gezielt zu einem Lächeln einsetzen zu können. Die Fahrt war eintönig, zumal Cathy nicht reden konnte und Mike müde und gerädert hinter dem Steuer saß. Einzig und allein die Musik aus dem Radio durchbrach die Stille. Mike hatte ein, zweimal versucht eine Konversation anzufangen, doch genauso schnell wieder aufgehört, als er den verkrampften Gesichtsausdruck von ihr sah. Die Fahrt zog sich wie Kaugummi für Catherine und sie sehnte sich endlich nach Erlösung von den Schmerzen. Wie diese aussehen mochte war ihr letztlich egal, Hauptsache es hatte ein Ende. An der Medical Klinik angekommen, trug Mike sie hinein und setzte sie unter Aufsicht einer Stationsschwester in den Wartebereich, ehe er beim Chefarzt verschwand und kurze Zeit später erleichtert zurück kehrte.

      „Gute Nachrichten, Cathy. Dr. Briskow wird sich gleich um dich kümmern. Er erklärt dir noch kurz die weiteren Schritte und kann dich gegen Mittag in Narkose versetzen.“

      „Mmittaagggg?“, brachte Cathy unter Zähne klappern hervor. Ein weiterer Schüttelfrost hatte sie heimgesucht und es fiel ihr schwer überhaupt den Mund aufzubekommen. Es waren unter normalen Umständen ein paar Stunden, doch in Catherines Situation klang es wie eine Ewigkeit. Stunden, die Cathy nicht mehr überstehen würde. Da war sie sich ganz sicher. Die Schmerzen brachen ihren Willen und die Mauer ihrer Standhaftigkeit, die sie Mike zuliebe aufgebaut hatte, bröckelte Minute für Minute dahin. Und nach der langen Nacht war sie mehr ein Trümmerhaufen, denn eine schützende Mauer. Sie musste mit allen Mitteln versuchen, die Schmerzen zu beenden, ehe die Schmerzen sie umbrachten. Sie war in einem Krankenhaus. Es musste hier doch irgendwelche Drogen geben. Ein Krankenhaus war doch voll davon! Mit irrem Blick schaute sie sich konzentriert um. Jedes Alltagsgeschehen blendete sie aus und schärfte ihren Blick nur auf Tabletten, Flaschen und Spritzen, die in ihr Blickfeld rückten. Sie fühlte sich wie ein Raubtier, das nur darauf wartete seine Beute zu erlegen. Die Kraftlosigkeit der letzten Stunden wich aus ihrem Körper und sie spürte ungeahnte Kräfte in sich aufsteigen. Sie war in einem Zustand, in dem sie alles machte, nur um an Drogen heranzukommen. Mike hielt ihre Hand, aber auch er würde sie nicht daran hindern können, wenn sie ihre Gelegenheit dafür fand. Dr. Briskow kam schließlich aus seinem Büro und sah mit ernstem Blick die Situation vor sich.

      „Wie lange ist sie schon auf Entzug?“, fragte er Mike leicht erregt.

      „Ich weiß nicht. Vielleicht gestern oder so? Ich kenne ihren Konsum nicht.“

      „Wenn wir kein Unglück hier wollen, können wir das Koma nicht länger aufschieben. Ihre Augen zeigen Anzeichen von Wahnsinn auf und ihre Muskeln haben sich extrem angespannt. Ihr momentaner Zustand ist vergleichbar mit einem wilden Raubtier, das gerade ausgehungert auf Beute stößt. Abbey?“

      Die Schwester aus der Wartehalle horchte auf und kam eiligen Schrittes Dr. Briskow entgegen.

      „Abbey, können Sie bitte sofort alles vorbereiten. Sie steckt mitten im kalten Entzug und kann keine Minute mehr länger warten.“

      Die Krankenschwester eilte davon und Dr. Briskow wandte sich an Mike.

      „Sie könnten mir helfen, wenn Sie dazu in der Lage sind?“

      Mike nickte und so fuhr er in seinen Erklärungen weiter.

      „Es gibt mehrere Phasen eines Entzuges. Am Anfang stehen Schüttelfrost, Fieber, Erbrechen und Schmerzen. In dieser Phase versucht jeder Abhängige irgendwo Drogen aufzutreiben, um die Phase zu beenden. Die meisten überstehen diese nicht und benötigen daher unseren Schritt zur Hilfe. Wenn die Phase überstanden ist, tritt Kraftlosigkeit und die Phase der Unbeherrschtheit des eigenen Körpers ein. Die Muskeln zucken unkontrolliert und einfachste Dinge,