Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium


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ein dumpfes Pochen. Tränen rannen ihr übers Gesicht, aber sie hatte keine Zeit sich darum zu kümmern. Wo waren die Ärzte? Wo das ganze medizinische Personal? „Hilfe. Meine Schwester braucht Hilfe“, ihre Stimme erstickte. Sie musste weiter. Unter lautem Stöhnen stützte sie sich auf ihre Ellbogen und kroch in Richtung Tür. Sie sah auf das Display hinter Mika‘s Bett, es blinkte immer noch rot. Vor Verzweiflung überschlug sich ihre Stimme. „Hilfe! Kommt doch irgendwer.“

      Sie war an der Tür. Glücklicherweise ließ sie sich in beide Richtungen aufschieben. Mühsam robbte sie ein Stück vorwärts und lag jetzt zum Teil im Flur des Krankenhauses. Niemand reagierte auf ihre Rufe. Wo musste sie hin? Gehetzt blickte sie den Gang erst links und dann rechts hinunter. Es sah gleich aus. Wo konnte sie Ärzte finden? Sie holte nochmal tief Luft und schrie aus voller Kehle. „Meine Schwester braucht Hilfe!“ Schwer atmend wartete sie, aber keine der Türen, die den Gang säumten, öffnete sich. Aus keiner kamen Ärzte gerannt, um Mika zu helfen. Sie entschied sich für den linken Weg. Das Kriechen fiel ihr zunehmend schwerer, aber sie schrie so oft sie konnte. Sie kam zwei Türen weit, bevor sie es hörte. Endlich hörte sie jemand anderen als sich selbst. Sie hörte Schritte.

      Sie drehte den Kopf und sah 2 Männer in weißen Kitteln auf sie zu rennen. „Kind. Was machst du denn da?“, schrie der eine sie an. „Bitte. Bitte helfen Sie meiner Schwester.“ Waren es Tränen der Erleichterung, die jetzt über ihre Wangen rollten? Jetzt würde alles gut werden. Sie sah, wie der eine Mann das Zimmer betrat, aus dem sie gerade gekrochen war. Der andere kam zu ihr und beugte sich zu ihr runter. „Alles wird gut, Kind. Ich bin Dexter. Ich helfe dir, währen Boil deiner“, mitten im Satz wurde er unterbrochen. „Dexter. Komm sofort her. Wir müssen sie in den OP bringen. Schnell.“ Bevor Naomi die Worte auch nur verarbeiten konnte richtete sich der freundlich lächelnde Mann auf und folgte seinem Kollegen.

      Wenige Sekunden später kamen sie wieder heraus. Sie schoben Mikas Bett mit sich und sprinteten dahin, von wo sie gekommen waren. Sie ließen Naomi zurück.

      Langsam verarbeitete sie die letzten Sekunden. Stück für Stück setzte sie die Bruchstücke zusammen und folgerte was das für sie bedeutete. Es war etwas Ernstes. Sie hatten Mika mitgenommen. Sie wollten ihr helfen. Sie wollten zum OP. Also musste sie auch dahin. Sie musste jetzt aufstehen, sonst würde sie die Ärzte nie einholen. Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war durchfuhr neue Kraft ihren Körper. Mit einem lauten Aufstöhnen kam sie auf die Knie und Hände und richtete sich mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung schließlich auf die Beine auf. Sie spürte, wie dieser Akt noch mehr der Nähte platzen ließ, sie ignorierte den Schmerz und tat den ersten Schritt. Sie kam zwei Schritte weit, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie zu Boden sackte.

      Der Aufprall riss Naomi aus dieser schrecklichen Erinnerung. Schwer atmend zuckte sie hoch und sah sich desorientiert um. Das Zimmer sah aus wie jedes Krankenzimmer der Last Hope, steril und weiß. Aber es war nicht Mikas Zimmer. Hier lag Ari vor ihr. Zwar schwer verletzt, genau wie Mika, aber Ari würde leben. Anders als Mika würde Ari dieses Bett verlassen. Naomi würde nicht zulassen, dass auch das letzte Teil ihrer Familie sie verließ. Nie wieder würde sie sich so hilflos fühlen wie an jenem Morgen, als sie nach Mika fragte und sie tot war. Nie wieder.

      Aber sie hatte Angst. Angst einzuschlafen und zu merken, dass Ari gestorben war, also stand sie auf und begann zu laufen. Solange sie sich bewegte konnte sie nicht schlafen und solange sie nicht schlief konnte sie sehen, dass Ari lebte. Also ging sie, sie ging, bis ihre Beine schmerzten und sie nur noch langsam vor sich hin trottete. Irgendwann klopfte jemand an die Tür und Naomi sprang erschrocken zurück, als diese sich öffnete. Eine Frau in weißen Kittel kam herein, gefolgt von einem Assistenten. Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. „Miss Orinama, ich bin Doktor Jenn und das ist mein Assistent, Herr Kal. Ich möchte nach Ihrer Schwester sehen und sie sollten sich ausruhen und etwas schlafen.“ „Aber ich kann nicht weg, Doktor. Bitte, lassen Sie mich bleiben.“ Die Frau musterte stirnrunzelnd die tiefen Ringe unter Naomis Augen, ihren entschlossenen Blick und seufzte dann. „Nils, bringst du bitte noch ein Bett hierher.“ „Danke, Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Die Frau nickte und verwies Naomi auf ein angrenzendes Bad. „Während ich ihre Schwester untersuche können sie sich dort umziehen. Klamotten sollten dort in allen Größen ausliegen.“

      Verwirrt blickte Naomi an sich herab und bemerkte, dass sie immer noch das schwarze Trauerkleid trug.

      Sie dankte der Frau und als sie wenige Minuten später zurück kam stand ein zweites Bett, neben dem von Ari, auf einem Beistelltisch lag ein Tablet mit Rührei und Toast. Ihr Magen knurrte bei dem Anblick und sie erinnerte sich, dass ihre letzte Mahlzeit schon einen ganzen Tag her war. Hungrig verzerrte sie das Frühstück und blickte sich anschließend suchend um.

      Die Bewegung und das Frühstück hatten sie wieder munter gemacht, also sollte sie sich jetzt an die Analysen von Professor Kirginja setzen, damit sie in seinem Unterricht nicht zurückfiel. Sie versenkte sich in die Arbeit, verbrachte Stunde um Stunde mit der Vorbereitung und der Wissensaufnahme.

      Irgendwann brachte ihr jemand ein Mittag- und schließlich ein Abendessen. Ihre Augen wurden immer schwerer und sie musste sich immer stärker kneifen, um nicht einzuschlafen, bis irgendwann spät in der Nacht Doktor Korjing das Zimmer betrat. Er nickte ihr zu, bevor er an Aris Bett trat und einige Anzeigen überprüfte. Sie beobachtete ihn schweigend, wartete auf das kleinste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Schließlich kam er zu ihr, setzte sich neben sie und schaute sie an. „Miss Orinama, erinnern Sie sich, worum ich Sie gebeten hatte?“, fragte er freundlich, aber bestimmt. „Ja. Es tut mir leid Doktor, aber ich kann sie nicht allein lassen.“, versuchte sie sich rauszureden, aber er wollte auf etwas anders hinaus. „Wie lange sind Sie jetzt schon wach? Sie müssen schlafen, sonst schaden Sie nur sich selbst.“ Sie erschauerte bei dem Gedanken an das was ihre Träume ihr zeigen würden.

      „Ich kann nicht.“, hauchte Naomi und rieb sich die Augen. „Wenn ich schlafe wird ihr was passieren und ich bin nicht da, ich war nicht da für … Ich kann nicht schlafen.“ Prüfend musterte er sie, dann zog er aus seinem Kittel eine kleine Schachtel. „Nehmen Sie eine vor dem Schlafen gehen, es sorgt für traumlosen Schlaf.“, er drückte ihr die Packung in die Hand und verließ den Raum wieder. In der Stille, die der Arzt hinterließ, rang Naomi mit sich, bis schließlich ihr Wunsch nach Schlaf gewann. Sie erhob sich, fühlte noch einmal die beruhigende Wärme des Lebens an Ari und legte sich dann in ihr eigenes Bett. Sie schluckte die weiße Pille und fiel nur Minuten später in einen tiefen Schlaf.

      Zwischenspiel: Geburtstagserinnerungen

      Langsam knöpfte der Mann sein Hemd zu. Er beobachtete im Spiegel, wie es sich immer weiter schloss, während seine Hände nach oben wanderten. Es war ein grünes Hemd. Es war jedes Jahr ein grünes Hemd. Sie hatte es geliebt, wenn er grüne Hemden trug. Und so trug er nun zu jedem Jahrestag eines. Es war eine Erinnerung an sie.

      Er betrachtete sein Gesicht. Seine breite Stirn zierte nun weniger Haar als damals. Er hatte es kurz geschoren, da es zu viel Zeit kostete es jeden Tag zu waschen. Er wirkte in seinen Augen bulliger, gefährlicher. Hätte sie sich wieder in ihn verliebt, wen sie ihn so sehen würde? Er konnte es nicht sagen. Er legte die Krawatte an. Eine schwarze. Es war ein Tag der Trauer. Er nahm die Weste von Beistellstuhl, streifte sie über und legte schließlich das Jackett an. Er war bereit.

      In der Küche traf er auf seinen Sohn. 8 Jahre war er jetzt älter. 8 Jahre seiner Entwicklung hatte sie verpasst. Hatte verpasst, wie der jugendliche Problemschüler zu einem der herausstechensten Studenten der Sicherheitsakademie wurde. Er hatte ihre Haare geerbt. Schwarz glänzend bedeckten sie den Kopf ihres Jungen. Er trug einen schwarzen Anzug. Er stand ihm gut. Mit einem anderen Hemd könnte er auch zu einem Empfang getragen werden. Das hätte sie gefreut. Der Junge hielt in seinen Händen einen Umschlag. Auch dieser war schwarz.

      Der Junge schrieb jedes Jahr einen handschriftlichen Brief. Er erzählte nicht was darin stand und so fragte er ihn nicht. Er klopfte seinem Jungen auf die Schulter und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Sie warteten gemeinsam, verbunden in tiefem Schweigen.

      Einige Minuten später kam sie die Treppe hinunter. Sie trug ein blaues Kleid. Es war das letzte Kleid gewesen, dass ihre Mutter ihr