Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium


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sich nicht etwas beeilen? Endlich, nach einer weiteren Ewigkeit erreichten sie eine große Tür, über der „Nachbereitungsraum“ stand. Die Frau klopfte an die Tür und wurde hereingebeten, dicht gefolgt von Naomi. „Ah Alice, ich nehme an, dass ist sie. Danke dir. Du kannst jetzt nach Hause gehen.“

      Der Raum glich einem Wartezimmer im Kleinformat. Es fand sich Platz für 4 Stühle und einen kleinen Tisch, um den herum bereits drei Personen standen. Zwei davon, eine ältere Frau und ein junger Mann gehörten offensichtlich zur inneren Sicherheit. Der dritte musste Doktor Korjing sein, Naomi erkannte seine Stimme wieder. Naomi schritt weiter in den Raum hinein und erblickte eine Tür und eine Glasscheibe, die in einen angrenzenden Raum zeigten. Dort stand ein einzelnes Krankenbett. Instinktiv wusste sie, dass Ari darin liegen musste, also tat sie einen Schritt auf die Tür zu. Der Doktor, in einen weißen Kittel gehüllt versperrte ihr den Weg und streckte ihr die Hand entgegen.

      „Hallo Miss Orinama. Ich bin Doktor Korjing, wie haben bereits telefoniert.“ Widerwillig schüttelte sie seine Hand, ohne ihren Blick vom Fenster, hinter dem Ari lag, abzuwenden. „Was ist mit ihr passiert? Wird sie wieder gesund?“, bedrängte sie den Arzt mit Fragen, wenn er sie schon offenkundig nicht zu ihrer Schwester lassen wollte. Der hob abwehrend die Hände. „Sie ist soweit stabil würde ich sagen. Wir mussten sie in ein leichtes Koma versetzen, um den Heilprozess anzuschieben“, er wurde etwas lauter, um Naomis losstürmende Fragen zu übertönen, „Aber sie wird wahrscheinlich wieder genesen. Zu den Ursachen“, er drehte sich leicht zu den beiden Sicherheitsbeamten, „sind diese beiden hier.“ Die ältere Frau streckte zuerst ihre Hand aus. Sie war von vielen kleinen Falten gezeichnet und überraschte Naomi mit einem starken Griff.

      „Ich bin Hirab Mahrai, mein Kollege hier ist Dan Shun.“, Naomi schüttelte auch seine Hand, „Miss Orinama, wir sind hier, weil wir ihre Schwester gefunden haben.“ In den Worten der Frau konnte Naomi keine Verachtung, keine Kühle und auch keine heimliche Befriedigung erkennen. Es beruhigte sie etwas, dass wenigstens diese Beamtin sie und Ari nicht aufgrund ihrer Herkunft verurteilte. „Wo haben Sie Ari gefunden? Ich habe überall gesucht, aber ich“, Naomi brach ab, unfähig darüber nachzudenken, dass es nicht sie gewesen war, die Ari gefunden hatte. Hirabs Stimme war ruhig und beruhigend, sie musste schon Erfahrung in solchen Gesprächen haben. „Wir haben Ihre Schwester auf einer Lichtung im Chandler Park gefunden. Ein Passant hatte uns informiert.“ Es ergab immer noch keinen Sinn. Hatte jemand Ari verschleppt und dann in der Dunkelheit loswerden wollen? Aber warum hier, in der Gegend lag eine der am dichtesten bewohnten Flächen des Schiffes. Oder gerade deshalb? Wollte der Täter vielleicht in der Anonymität der Masse untertauchen? In Gedanken versunken bemerkte sie fast nicht, dass ihr eine Frage gestellt worden war. Sie blickte auf. „Entschuldigung, können Sie das bitte wiederholen?“

      Hirab nickte. „Wir wollen Strafermittlungen aufnehmen und würden gerne wissen, ob Sie sich kurz die Zeit nehmen würden mit uns zu sprechen, bevor Doktor Korjing Sie zu Ihrer Schwester lässt?“ Naomi war hin und hergerissen zwischen dem Wunsch direkt an Aris Seite zu eilen und dem Verlangen dafür zu sorgen, dass der Täter bestraft wurde. Nach einem kurzen Zögern stimmte sie zu, sie wollte nicht riskieren die Beamten zu verärgern. Das konnte ihre Ermittlungen behindern. „Setzten wir uns.“, die ältere Beamtin deutete auf die Stühle. Alle, bis auf Doktor Korjing, setzten sich. „Entschuldigen Sie mich, ich warte draußen.“ Die Beamten nickten und der Doktor verließ den Raum. Dan Shun zog ein Protokollgerät aus der Tasche. Er blickte zu Naomi herüber. „Wir zeichnen dieses Gespräch für die spätere Verwendung in der Ermittlung und im Gericht auf, wenn Sie damit einverstanden sind?“ Naomi nickte. Nun übernahm Frau Mahrai wieder das Gespräch. Ihre Stimme hatte den förmlichen Ton angenommen, den Naomi auch schon in der Sicherheitsakademie gelernt hatte.

      „Ari Orinama wurde am Samstag, dem 2. September des Jahres 426 n.E. um 3 Uhr 19 schwer verletzt in das St. Kames Hospital eingeliefert. Zuvor wurde sie durch die Beamten Harib Mahrai und Dan Shun bewusstlos im Chandler Park gefunden. Näheres dazu im Dienstbericht 02-09.426/E.534. In das Krankenhaus wurde die einzige lebende Verwandte des Opfers gerufen, Naomi Orinama. Sie sind Naomi Orinama, Schwester des Opfers Ari Orinama?“ „Ja.“ „Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“ „Heute früh. Auf dem Weg zur Schule. Wir fahren in unterschiedlichen Bahnlinien.“ „Wann genau war das?“ „Um kurz nach 7“ „Sie haben nach unseren Informationen gegen 21 Uhr“, Harib stoppte kurz, sah auf ein Tablet und fuhr dann fort „um 20 Uhr 53 die Innere Sicherheit kontaktiert. Ist das korrekt?“

      „Ja“ „Eine Aufzeichnung des Gesprächs wird diesem Protokoll angehängt. Würden Sie dennoch noch einmal kurz erklären, warum Sie die Innere Sicherheit angerufen haben?“ Naomi rutschte auf dem Stuhl ein wenig herum, wie sollte sie das erklären. „Nun, ähm, Ari hatte bis 16 Uhr Schule und hätte bis 17 Uhr daheim sein sollen. Ich habe mir Sorgen gemacht und bin gegen halb 6 zu ihrer Schule zu fahren und nach ihr zu suchen. Aber ich habe sie nicht gefunden, also wusste ich mir nicht anders zu helfen als bei der inneren Sicherheit anzurufen.“ Dan unterbrach sie „Für ein Mädchen im Alter ihrer Schwester, sie ist 14, ist es nicht unüblich nach der Schule Zeit mit Freundinnen zu verbringen.“

      „Sie … sie hat keine Freundinnen … und auch sonst niemanden“, Naomi sprach leise, schaute zu Boden. Sie wollte die Blicke der Beamten nicht sehen. „Sie ist immer allein. Seitdem … seit dem Anschlag meiden uns alle. Ari hat niemanden außer mich. Sie kommt immer nach Hause, deshalb wusste ich das etwas nicht stimmen konnte“, sie hob kurz den Kopf und sah gerade noch wie die beiden Blicke tauschten. „Was haben Sie unternommen, nachdem Sie mit ihrem Anruf keinen Erfolg hatten?“

      Hirab sprach wieder. „Gar nichts. Ich habe versucht jemanden über ConNow zu finden, der Ari gesehen hatte. Aber es hat nichts gebracht. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Was ich tun konnte.“ Die Tränen stiegen wieder in Naomis Augen. „Können Sie jemanden benennen, der Ihrer Schwester Schaden möchte?“

      Ein erstickter Laut, halb Lachen, halb Schluchzen entfuhr Naomi. „Fast jeder. Wir … wir sind nicht besonders beliebt. Die Leute tun uns etwas an, mal mehr mal weniger oder sie schauen weg und lachen über uns.“ „Das grenzt die Verdächtigen nicht wirklich ein.“ Naomi überlegte. „Es könnten Kinder aus Aris Schule gewesen sein. Sie fährt immer direkt nach Hause und treibt sich nicht irgendwo rum. Also gibt es nur dort die Gelegenheit ihr aufzulauern.“ „Danke dafür. Wir werden diesem Hinweis nachgehen, Miss Orinama.“ Hirab winkte Dan zu, der daraufhin die Aufnahme stoppte. „Ist es OK, wenn wir uns für weitere Fragen bei Ihnen melden?“ Naomi nickte. Die Beamten standen auf, gefolgt von Naomi. „Keine Sorge Miss Orinama, wir tun alles was in unserer Macht steht, um den oder die Täter zu finden.“ „Können es mehrere gewesen sein?“ Die Beamtin zögerte. „Der Art der Wunden nach zu schließen geht Doktor Korjing davon aus, dass sich mehrere Personen beteiligt haben könnten.“ Sie schüttelten die Hände und beim Hinausgehen der Beamten betrat der Doktor wieder den Raum.

      Ein trauriges Lächeln huschte über seine markanten Züge. „So Miss Orinama. Sie wollten jetzt bestimmt zu Ihrer Schwester.“ „Ja, bitte.“, ihre Stimme zitterte. „Da ich Sie wohl nicht daran hindern kann, folgen Sie mir bitte.“ Er ging zu der Tür, legte seine Hand auf einen Scanner. Naomi hielt sich nicht mit einem Blick durch das Fenster auf, sondern folgte dem Arzt mit langen Schritten in das Zimmer. Der Raum war kahl, steril und wirkte geradezu abweisend auf sie. Naomi mochte Krankenhäuser nicht, nicht seit Mika. Nein, daran durfte sie nicht denken. Ari würde leben. Doktor Korjing hatte gesagt, dass sie genesen würde. Neben dem Bett an der Wand standen zwei Stühle, sowie einige medizinische Geräte, deren Einsatzzweck sie nicht kannte. Das Bett war weiß, das Laken, das Gestell, alles.

      Und in diesem strahlenden weiß ergoss sich das Schwarz von Aris Haaren. Sie lag auf der Seite, die Haare unter ihrem Kopf vor die Brust gelegt. Naomi blickte auf ihre Schwester hinab. Das rechte Auge war blau, geschwollen und mit einem grünen Salbe bestrichen. Ein langer Kratzer zog sich von ihrem linken Wangenknochen bis zum Mund, dessen Lippen aufgeplatzt waren. Naomi bemerkte die Reste von schwarzer Farbe an Aris Wangen, aber sie konnte nicht mehr lesen was dort geschrieben worden war. Ein blauer Kittel verdeckte Aris restlichen Körper, aber als Naomi um ihre Schwester herum ging, lief ihr ein Schaudern durch den ganzen Körper, erfasste jedes ihrer Haare und stellte es vor Wut, Angst und Verzweiflung