Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium


Скачать книгу

die innere Sicherheit werfen. Es würde so aussehen, als ob sie sich für die Kolonialisten einsetzen würden. Folglich durften keine Informationen aussickern.

      Sein Entschluss stand binnen weniger Sekunden, aber bevor er ihn mitteilen konnte, musste er sich den Bericht der anderen fertig anhören. Also ließ er sie reden. Er erfuhr von dem Anruf der älteren Schwester, dass keine eindeutigen Spuren am Tatort gefunden werden konnten und dass das Opfer erst in etwa einer Woche ansprechbar sein würde.

      Als alle Informationen auf dem Tisch lagen schwieg Pillert eine Zeit lang. Er wusste, wie er seiner Antwort einen Hauch Autorität geben konnte. Sollten sie sich fragen, wie er entscheiden würde. Jede Sekunde des Rauszögerns gab seiner Entscheidung mehr Gewicht. Leise gab er sie schließlich bekannt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Vorfall an die Presse dringt. Als Ihr vorgesetzter Offizier befehle ich Ihnen, außer den hier Anwesenden niemanden in die Ermittlungen einzubeziehen.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte er das Mahrai die Stirn runzelte. Natürlich konnte ihr seine Entscheidung nicht gefallen. Sie würde keine zusätzlichen Ressourcen erhalten und das von ihm verhängte Embargo würde es ihr erschweren potenzielle Täter zu befragen, geschweige denn sie zu identifizieren.

      Aber dies war der Preis für den guten Ruf der Inneren Sicherheit. Walter Pillert war in normalen Zeiten ein Mann, der es absolut ablehnte, Verbrecher davon kommen zu lassen. Aber im Fall Ari Orinama würde er seine moralischen Werte biegen. Sie war eine Orinama was schwer genug wog, den Ausschlag gab jedoch der mögliche Rufverlust der inneren Sicherheit. Also fuhr er fort. „Wir werden zudem die offiziellen Berichte zurückhalten, bis wir den oder die Täter benennen können“, was natürlich nicht passieren würde, „Also denken Sie daran. Kein Wort zur Presse oder einer anderen offiziellen Stelle. Wegtreten.“ Pillert beobachtete ganz genau, wie seine Untergeben auf dieses Manöver reagierten. Alle schienen es zu schlucken, alle bis auf Mahrai, die wohl an dem Fall weiterarbeiten wollte. Kein Problem, dachte er bei sich, er würde ihr die nächsten Wochen und Monate schlicht keine Zeit lassen sich mit diesem Fall zu beschäftigen. Er würde sie mit dringenden Aufträgen überfluten und so seinen, nein den Ruf der inneren Sicherheit erhalten.

      Warten

      Das wenige was von der Nacht noch blieb verbrachte Naomi am Bett ihrer Schwester, während sie darüber nachdachte, wie sie Ari in Zukunft vor so etwas schützen konnte.

      Bisher war ihr Plan gewesen in den Sicherheitsdienst einzutreten und dort den Ruf ihrer Familie als Staatsfeinde zu revidieren. Aber dies war ein langfristiger Plan, ein Plan, der immer noch ganz am Anfang stand und von dem sie nicht wusste, wann und ob er Erfolg haben würde. Was sie brauchte waren sofortige Ergebnisse. Ein Weg sich und Ari öffentlichkeitswirksam von ihrer Mutter loszusagen. Sich von der Frau zu trennen, die sie mehr hasste als jeder andere auf diesem Schiff. Naomi war noch nie gut mit Worten gewesen und das Sprechen vor vielen Menschen machte ihr Angst. Würde ihr überhaupt jemand zuhören, geschweige denn seine Meinung aufgrund bloßer Worte ändern?

      Naomi bezweifelte das, also grübelte sie weiter, suchte nach einer nachhaltigen Möglichkeit Ari zu beschützen. In verworrene Gedankenspiele versunken schlief sie schließlich ein. Ihr Kopf senkte sich herab und fiel langsam auf das Bett, vor Aris Gesicht.

      Hinter ihren zuckenden Augenliedern durchlebte Naomi das erste Mal seit vielen Jahren die Nacht, nach dem Anschlag. Es war mehr als ein Traum, es war, als ob Naomi wieder 13 Jahre alt wäre.

      Beim Aufbrechen der Geiselnahme hatten die Kolonialisten Sprengladungen gezündet. In dieser Nacht stießen die umliegenden Krankenhäuser an ihre Grenzen. So einen Vorfall hatte es nie zuvor gegeben, noch nie mussten so viele Schwerverletzte auf einen Schlag behandelt werden. Selbst unter Aufbietung alles verfügbaren medizinischen Personals gab es zu wenige, um all die Verletzten zu behandeln. Also hatte man Naomi in einem regulärem Patientenzimmer untergebracht. Dort lag sie mit der aufklaffenden Rückenwunde, die die Ärzte behelfsmäßig genäht hatten, bevor sie sich dringenderen Fällen widmeten. Naomi konnte nicht schlafen. Mit leerem Blick starrte sie die gegenüberliegende Wand an. Die war, wie das restliche Zimmer klinisch weiß, die digitalen Fenster waren deaktiviert worden und so durchdrang nur der stechende Geruch nach Desinfektionsmittel den ansonsten leeren Raum. Sie fühlte sich so leer. Sollte sie nicht traurig sein? Oder wütend? Aber nein, sie fühlte nur Leere in sich. Sie wusste nicht wie viel Zeit verging, aber irgendwann öffnete sich die Tür.

      Eine Frau schob ein weiteres Bett in den Raum. Naomi konnte nicht erkennen wer darauf lag, aber es war ihr eigentlich auch egal. Die Frau verdeckte mit ihrem Körper das Gesicht der Person, als sie das Bett an die Wand zog und dann das Display auf die Überwachung der Geräte programmierte. Ein großer Schweißfleck war am Rücken der Ärztin zu sehen. Sie war wohl gestresst, denn mehrfach gab sie falsche Befehle ein und fluchte leise vor sich hin. Endlich war sie wohl fertig und hetzte wieder aus dem Raum. Desinteressiert wandte Naomi ihre Augen auf das Gesicht der anderen Person und mit einem Mal fühlte sie wieder etwas.

      Es war, als wäre ein Damm der alten Erde gebrochen, hätte den Fluten der alten Meere nachgegeben. Vor ihr lag ihre kleine Schwester, Mika. Sie hatte Mika seit der Explosion nicht mehr gesehen. Die alte Frau hatte Naomi mitgeschleift, aber Mika konnte nicht so schnell laufen. Naomi konnte nur Ausschnitte von Mika’s Gesicht sehen, der größte Teil ihres Körpers war in Plastikschalen oder in Bandagen eingewickelt. Sie musste schwer verletzt sein.

      „Mika.“, flüsterte Naomi. „Mika. Bist du wach?“ Sie lauschte. Ganz leise konnte sie das Atmen ihrer Schwester hören. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, aber die kleinste Bewegung tat weh. „Mika.“, flüsterte sie nochmal. Sie musste mit ihr reden. Musste mit ihr über die letzten zwei Tage sprechen. Also redete sie. Sie hatte mal gehört, dass Bewusstlose unterbewusst wahrnahmen was mit ihnen besprochen wurde. „Mika. Ich weiß nicht, ob du dich an alles erinnerst. Papa ist tot. Und Mama … Mama“, sie stocke. Nein sie konnte nicht darüber reden. Also versuchte sie das Thema zu umgehen. Sie redete und redete, bis ihr Mund ganz fusselig war. Dann schwieg sie, wartete auf eine Reaktion. Als keine kam wurde sie wütend. „Mika! Sag was! Rede mit mir!“ Sie beschimpfte ihre Schwester, weinte, flüsterte, flehte. Aber Mika reagierte nicht.

      Schließlich schwieg Naomi. Ihr Blick war auf die Wand hinter Mika gerichtet, sie strafte sie mit Nichtbeachtung. Auf dem dort angebrachten Display leuchtete eine gezackte Linie.

      Das musste der Puls von Mika sein. Er ging auf und ab, auf und ab und auf und ab. Im Stillen starrte Naomi das Display an. Auf und ab. Was sollte jetzt aus ihnen werden? Auf und ab. Sie hatten keine Verwandten mehr, nur Ari. Auf und ab. Was war mit Ari? Sie musste schreckliche Angst haben. Auf und ab. War sie daheim in der Wohnung, ganz allein? Nein, sie war viel zu jung. Sie musste bei einer Freundin sein. Auf und ab. Könnten sie alle zu Freundinnen? Sie könnten bestimmt bei Misa einziehen. Misa war Naomis beste Freundin. Sie würden alle bei ihr wohnen können. Auf und ab. Aber Papa war nicht mehr da. Papa war weg. Für immer. Auf und ab. Und Mama? Mama war auch weg, entschied Naomi. Ab und ab. Sie weigerte sich weiter über Mama nachzudenken. Wie hatte sie das nur tun können? Ab und gerade. Misas Familie würde sich um Naomi und ihre Schwestern kümmern. Misa war ihre beste Freundin. Ganz bestimmt.

      Gerade. Gerade?

      Die rote Linie war gerade. Sie lag bei 0.

      „Mika!“ Panik durchströmte Naomi. „Mika. Jetzt sag was! Mach mir keine Angst!“ Sie horchte. Sie hörte … nichts. Nichts. Mika atmete nicht mehr. „Mika!“, kreischte sie. „Wach auf!“ Wo waren die Ärzte? In den Filmen kam in so einen Fall immer jemand herbeigeeilt und rettete den Patienten. Aber es kam niemand. „Hallo?“, schrie sie. „Ist hier jemand?! Mika braucht Hilfe!“

      Sie erwartete eilige Schritte zu hören, ein Aufstoßen der Tür, aber es kam nichts. „Hilfe! Kommt doch. Schnell!“ Sie schrie so laut sie konnte, aber niemand reagierte. Sie musste etwas tun, Hilfe holen. Aber dafür musste sie aufstehen. Naomi versuchte sich aufzurappeln. Ein unvorstellbarer Schmerz durchfuhr sie. Ihr Rücken brannte, als ob in der offenen Wunde noch immer Splitter stecken würden. Wahrscheinlich waren einige der provisorischen Nähte gerissen. Naomi spürte, wie warmes Blut ihren Rücken hinabfloss. Aber sie kümmerte sich nicht darum und schrie wieder „Hilfe. Bitte. Irgendwer?“

      Sie