Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium


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dass niemand von der Sicherheitsakademie mehr im Zug saß, also verließ sie die Bahn und stieg endlich in die Linie 15, die sie nach Hause bringen würde. Während sie durch die Stadt fuhr überdachte Naomi nochmal die Geschehnisse des heutigen Tages. Natürlich war ihr klar gewesen, dass es ein hartes Stück Arbeit sein würde, sich in der neuen Klasse zurecht zu finden, dennoch hatte sie die Hoffnung gehegt, endlich wieder jemanden zu finden der für sie einstand, genau wie sie für ihn oder sie. Aber das war eine trügerische Hoffnung gewesen, die sich in dem Moment in Luft auflöste, als Misa den Raum betrat. Obwohl ihr Freund Goron bestimmt auch seinen Teil dazu beitrug. Es stimmte Naomi wieder traurig, dass Misa nichts mehr mit ihr zu tan haben wollte, dass sie alles tat um sie zu verletzten und doch konnte Naomi Misas Mitleidiges Gesicht in der Sporteinheit, oder den schmerzvollen Ausdruck während der Taktikvorlesung nicht übergehen. Bildete sie sich zu viel ein? Wollte sie so dringend, dass Misa noch freundschaftliche Gefühle für sie hegte, dass sie ihre Gesichtsausdrücke überinterpretierte? Naomi konnte es nicht sagen, genau so wenig, wie sie die Hoffnung darauf nicht aufgeben konnte.

      Dann war da noch F-Lieutanant Sargei, die unerwartet freundlich ihr gegenüber war. Oder war es einfache professionelle Neutralität. War es Sargei egal, wer Naomis Mutter war und was sie getan hatte? Natürlich zeigte kein Lehrer und kein Dozent seine Gefühle offen, aber in der Art der Reaktionen auf die verschiedenen Schikanen der anderen Schüler konnte Naomi erkennen, worauf die Dozenten ihre Präferenzen legten. Und heute hatte diese Präferenz ganz eindeutig bei Naomi gelegen. Ob das nachhaltig war, oder nur ein einmaliger Vorgang würde sich noch zeigen, aber auf jeden Fall tat sich Naomi hier eine Chance auf. Eine Chance, die sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. Sie musste alles tun, um in Sargeis Unterricht erfolgreich zu sein, sie musste zu den Besten gehören, um die mögliche Meinung des F-Lieutanants über sie zu festigen. Dies konnte eine Basis sein, auf der Naomi aufbauen konnte. Einer ihrer Dozenten, der auf ihrer Seite stand würde ein Anfang sein, den sie zu nutzen bereit war. In Gedanken versunken verpasste sie beinah ihren Halt und schaffte es nur mit Mühe noch durch die sich schließenden Türen.

      Sie stand jetzt im Bahnhof Gibraltor, der Anbindestelle an die sogenannten Sozialviertel. Hier lagen die von der Verwaltung bereitgestellten Wohnungen, auf die jeder Bürger der Last Hope ein Anrecht hatte. Allerding lebten hier nur diejenigen, die es sich nicht leisten konnten in einer besseren Lage eine Wohnung zu mieten. Eine der Taktiken, die die Bewohner der Last Hope zu Fleiß treiben sollten, war es die Sozialviertel so unattraktiv, wie möglich zu machen. Jeder versuchte den heruntergekommenen Wohnungen der Sozialviertel zu entfliehen, sodass nur diejenigen übrigblieben, die keine Perspektive auf Besserung hatten. Die Abgehängten, Verwahrlosten und selten auch jemand wie Naomi und ihre Schwester Ari.

      Nach dem Anschlag war das Vermögen aller Familien der Geiselnehmer eingezogen worden, um Reparationen an die Opfer und Hinterbliebenen zu zahlen. Und so war das Vermögen der Orinamas, aufgebaut durch ihren Vater, der in der Entwicklungsabteilung eines Konzerns gearbeitet hatte, zuerst eingezogen worden, bevor ein Teil davon als Entschädigung für den Tod von zwei Familienmitgliedern ausgeschüttet wurde. Nachdem Naomi volljährig wurde und damit eine eigene Wohnung anmieten und dem Waisenhaus entfliehen konnte, hatte sie festgestellt, dass es nicht reichte für eine Wohnung in einem besseren Bezirk. Also wohnten sie und Ari jetzt hier, in den Sozialvierteln. Während sie durch die Gassen auf den Wohnblock 42 zuging fiel ihr eine Streife der Inneren Sicherheit auf.

      Das war selten, normalerweise ließen sie die Bewohner machen was sie wollten, solange es innerhalb des Viertels geschah und nicht zu stark ausartete, um auf andere überzugreifen. Es war das beste so wenig Zeit wie möglich auf offener Straße zu verbringen, also atmete Naomi erleichtert auf, als sie den Fahrstuhl der 42 erreichte. Sie fuhr in die 16. Etage, folgte den Gang einige Meter ins Gebäudeinnere, bis sie vor der Wohneinheit 16-C stand. Der Scanner neben der Tür verifizierte ihren Handabdruck und mit einem leisen Sirren öffnete sich die Tür in ihr Zuhause.

      Es war eine kleine Zwei-Zimmer Wohnung, gerade genug Platz für die beiden Schwestern. Der Flur, in dem sie jetzt stand, führte linkerhand in das Schlafzimmer, rechterhand in ein kleines Bad und eine noch kleinere Küche. Geradeaus lag das Wohnzimmer. Naomi warf im Vorbeigehen ihre Tasche ins Schlafzimmer und betrat den Wohnraum. Den meisten Platz füllte ein Sofa, aber an der linken Wand stand Aris E-Klavier, einer der wenigen Luxusgegenstände den sie besaßen. Die frontale Wand war komplett mit virtuellen Fenstern bedeckt. Im Moment zeigten sie eine Aussicht auf einen der Stadtparks. Dadurch bekam man fast das Gefühl woanders zu leben, freier und mit weniger Sorgen. Der Gedanke daran hellte Naomis Stimmung etwas auf und einige Minuten lag sie einfach still da und ließ ihre Gedanken fließen.

      Irgendwann blickte sie auf die Uhr, es war jetzt fast 16:00 Uhr. Ari würde in etwa einer Stunde kommen, also hatte Naomi noch Zeit mit den Aufsätzen anzufangen. Sie erhob sich von Sofa und machte Anstalten den Raum zu verlassen. Einen Moment hielt sie noch inne, als ihr Blick auf das große Familienbild an der rückseitigen Wand fiel. Es zeigte Naomi und ihre Schwestern Ari und Mika. Alle lachten freudestrahlend in die Kamera. Hinter ihnen stand ihr Vater, mit seinen zerzausten Haaren und einem gutmütigen Grinsen. Seine dunkelgrünen Augen, die Naomi geerbt hatte schienen ihr zuzuzwinkern. Naomi strich liebevoll über das Gesicht ihres Vaters und dem von Ari, wobei sie den Arm, der um die Schulter ihres jüngeren Ichs lag, ignorierte. Er wand sich nach oben bis zu einer schlanken Schulter. Mehr war von dieser Person nicht zu sehen, das Foto war hier abgerissen worden, wobei der hässliche Rand hinter einem Rahmen versteckt war. Seufzend trat sie in den Flur, holte sich etwas zu trinken und setzte sich dann an ihre Arbeiten.

      Naomi beendete die Analyse der Vor- und Nachteile der Blockadetaktik gegen viertel nach fünf. Sie speicherte das Dokument und schloss das Schreibprogramm, dass sie genutzt hatte. Danach erhob sie sich vom Küchentisch und schaute fragend auf die Uhr. Ari war zu spät. Hatte sie heute weiterfahren müssen, um sicher zu gehen, dass ihr niemand folgte? Oder hatten ihre Lehrer überzogen? Ein unbehagliches Gefühl stieg in Naomis Brust auf, aber sie unterdrückte es. Es musste einen Grund für Aris zu spät kommen geben, aber welchen?

      Ari kam wie Naomi immer direkt nach der Schule nach Hause. Sie beide hatten keine Freunde, zu denen sie spontan eingeladen wurden. Sie wurden in Diskussionen gemieden, wodurch sie auch dort nicht aufgehalten wurden. Und Hobbys in der Öffentlichkeit betrieben sie auch keine. Zu groß war die Gefahr, dass sie jemand erkannte und ihnen das Leben fortan zur Hölle machte. Alles was sie nach der Schule taten, taten sie zusammen und so ziemlich alles davon in dieser Wohnung.

      Um sicherzugehen, dass Ari auch wirklich um 16 Uhr Schulschluss hatte, öffnete Naomi ihren Kalender. Ja. Da stand schwarz auf weiß, dass Ari vor einer Stunde das Schulgelände verlassen konnte. Zuzüglich der Umstiege brauchte Ari etwa eine Stunde hierher. Naomi kämpfte die Bedenken runter und entschloss sich zu warten. Sie tigerte im Wohnzimmer auf und ab, während mit jeder verstrichenen Minute ihre Sorgen größer wurden.

      Ari war alles, was Naomi von ihrer Familie geblieben war. Sie würde alles tun, um ihre kleine zu beschützen. Aber sie durfte nicht alles tun. Ari hatte ihr verboten, sie von der Schule abzuholen, da es ihr die anderen in dem Moment in dem Naomi weg war unter die Nase rieben. Naomis Herzschlag beschleunigte sich, während sie an das dachte was Ari ihr von ihren Mitschülern erzählt hatte. Natürlich hatte sie das Schlimmste für sich behalten, ganz wie Naomi es auch hielt, aber das was sie gehört hatte brachte sie zu der Überzeugung, dass Ari kein Stück besser behandelt wurde als sie damals. Regelmäßige Berichterstattung, bei denen ihr Name genannt wurde, sowie die Lust Jugendlicher, sich über das Leid anderer zu definieren, sorgten zusammen mit der stillen Anwesenheit weiterer Opfer des Anschlags dafür, dass niemand vergas, wie sie zu behandeln waren. Naomi tobte und stieß einen leisen Fluch aus. Es war ungerecht. Nicht nur gegenüber ihr, sondern vor allem gegenüber Ari. Sie war damals noch viel zu jung gewesen, um vollständig zu begreifen, was vor sich ging. Außerdem war sie als einziges Mitglied der Orinama Familie nicht mal am Ort des Geschehens gewesen. Alles in allem lud sie noch weniger Schuld auf sich als Naomi, deren einziges Vergehen es war als Geisel genommen zu werden.

      Aber nichts davon zählte. Schließlich waren sie die Töchter einer Kolonialisten Anführerin. Also waren sie die Projektionsflächen der anderen, um sich von diesen Terroristen abzugrenzen. Die meisten ignorierten sie einfach nur, halfen ihnen nicht und taten nichts Schlimmeres als wegzusehen und vielleicht gelegentlich