Bernat Fabre

Semana Santa


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die schreckliche Sorgen um einen kleinen Jungen hatte.

      „Habt Ihr einen Arzt gerufen?“ Das war ja wohl die nächstliegende Frage. Montses Großmutter nickte kraftlos. Der Dorfarzt sei aber wohl über das Wochenende nach Barcelona zu Verwandten gefahren.

      „Verdammt, das ist doch keine Entschuldigung. Für solche Fälle gibt es einen Notarzt. Jetzt haben wir viel Zeit verloren, wertvolle Zeit. Montse, pack’ Dani in eine warme Decke. Nimm ihn auf den Schoß und schnallt Euch auf dem Rücksitz des Hummers an. Und schwing Deinen Hintern!“ Montse tat was ich ihr aufgetragen hatte – auch etwas Neues für mich.

      „Señor Jan, was haben Sie vor?“ Es war das erste Mal, dass Montses Großmutter das Wort an mich richtete. Ich musste daran denken, dass ich noch nicht einmal wusste, wie ihr Name war. Scheiß drauf – jetzt war keine Zeit für Höflichkeiten.

      „Señora, soweit ich das beurteilen kann, hat der Junge hat einen Schock, der auf das Atemzentrum wirkt. Wenn wir ihn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde in ein Krankenhaus schaffen, wird er sterben.“

      „Dios mio“, war ihr einziger Kommentar zu dem sie das Kreuz schlug. Wenn das überhaupt noch möglich war, dann war auch die letzte Farbe aus ihrem Gesicht gewichen.

      „Was kann ich tun?“

      „Señora, wenn Sie beten können, dann beten Sie. Und ich hoffe, dass Sie einen besseren Draht zu dem alten Mann da oben haben als ich.

      SECHS

      Wenn ich zuvor Formel-1-Qualitäten an den Tag gelegt hatte, so legte ich jetzt noch zu. Der H3 schoss die NII mit einer Geschwindigkeit entlang, dass Jason Statham als Transporter wie ein Postbote ausgesehen hätte. Statt nach Roses zu fahren, was ein paar Kilometer näher gewesen wäre, entschied ich mich für die Poliklinik in Figueres. Die war erstens schneller zu erreichen und zum anderen für Notfälle besser ausgerüstet. Vor ein paar Jahren hatte ein Freund von mir einen schweren Tauchunfall und ohne die Kompetenz der Ärzte in der Klinik würde er heute längst die Petersilie von unten bewundern.

      Der Hummer ignorierte zwei rote Ampeln, verschreckte ein paar unvorsichtige Karnickel und ebensolche späte Radfahrer und hinterließ eine breite Spur auf dem gepflegten Grün eines Kreisverkehrs, dem ich nicht mehr rasch genug ausweichen konnte. Schließlich raste er in den Hof der Poliklinik und viel hätte nicht gefehlt, und wir wären buchstäblich mitten in der Notaufnahme gelandet. Ich hatte die gesamte Scheinwerferbatterie aufgeblendet und betätigte pausenlos das Horn, was in der Tat den beabsichtigten Erfolg hatte und zu gesteigerter Aufmerksamkeit führte. Der Hummer war kaum zum Stehen gekommen, so dass sich ein paar weiß gewandete Gestalten aus der Sicherheit verschiedener Müllcontainer wieder hervor trauten, als ich schon heraussprang.

      „Choke respirativa. Necesitamos oxígeno, pronto, pronto!“

      Wahrscheinlich hatte mein Spanisch an dieser Stelle Streifen, aber es sprach für die gute Ausbildung des Notfallpersonals, dass sie meine vermutlich inkompetente Formulierung nicht in Frage stellten, sondern sofort reagierten. Als Montse mit Dani auf dem Arm ausstieg, stand bereits eine Rolltrage bereit und zwei Helfer kamen mit einem tragbaren Beatmungsgerät angerannt. Einen Wimpernschlag später hatte der Junge eine Maske auf dem Gesicht und atmete reinen Sauerstoff. Aus dem Bereitschaftsraum war inzwischen auch ein Arzt aufgetaucht, der ihn untersuchte und hastig Anweisungen gab. Keine halbe Minute später wurde die Trage weggerollt, die Tür der Notaufnahme schloss sich und wir standen allein in der kalten Aprilnacht. Montse weinte und ich nahm sie in den Arm. Ich hätte mir für dieses Wiedersehen tausend romantische Alternativen ausmalen können. Aber wie ich schon einmal angemerkt hatte: das Leben ist Scheiße und der Regisseur ein sadistisches Arschloch.

      SIEBEN

      Die ersten Sonnenstrahlen krochen zögernd über die Sierra als ich die Augen aufschlug. Mein Kreuz schmerzte und erzählte mir, dass ich mehr als 44 Jahre alt war. Mein linkes Bein war nach wie vor im Tiefschlaf. Montse hatte sich in meinen Arm gekuschelt – leider eher aus Verzweiflung als aus Zuneigung. Ich versuchte meine Position nicht zu verändern, trotzdem wachte meine schöne Begleiterin mit mir zusammen auf. Irgendwann in der Nacht hatte eine mitleidige Seele uns den Aufenthaltsraum für das Pflegepersonal aufgeschlossen und ein paar Chips für die Kaffeemaschine spendiert. Kurz darauf war eine weniger besorgte Dame aufgetaucht, die die Kostenübernahme geregelt wissen wollte. Ich gab ihr meine Kreditkarte, mit der sie das Weite suchte, wie mein Kater, der soeben ein Stück Roastbeef ergaunert hatte. Die Turmuhr aus der nicht weit entfernten Kirche am Dalí-Museum hatte längst Mitternacht geschlagen, aber wir hatten immer noch nicht in Erfahrung bringen können, wie es Dani ging. Er hätte längst tot sein können. Irgendwann hatte die Natur dann ihr Recht gefordert und waren in einen unruhigen Schlaf gefallen.

      Als hätte es nur eines Zeichens von uns bedurft, öffnete sich die Tür und ich erkannte in der durchnächtigten Gestalt den Arzt, der Dani vor Stunden in der Notaufnahme versorgt hatte. Seine Augen waren gerötet, das Gesicht von grauen Bartstoppeln überzogen. Auch er schien das Gegenteil einer ruhigen Nacht gehabt zu haben.

      „Sind Sie die Eltern?“

      Typische Frage: Mann + Frau + Kind = Familie. Noch bevor ich über den Reiz einer solchen Konstellation philosophieren konnte, bemühte sich Montse die Familienverhältnisse klar zu stellen. Offenbar lief ihr Motor schneller an als meiner.

      „Dani ist mein Neffe und das hier ist ein guter Freund von uns.“

      Na, ja, immerhin hatte ich es schon bis zum Status des „guten Freunds“ geschafft.

      „Hm, und wo ist seine Mutter und sein Vater?“

      Montse ignorierte die Nachfrage.

      „Sagen Sie uns, wie geht es Dani?“

      Wenn ich erwartet hätte, dass sich der Arzt auf seine Schweigepflicht berufen und hier eine große Show abbrennen würde, wurde ich eines Besseren belehrt. Offenbar hatte ich es mit einem Vertreter seiner Art zu tun, der nur am Wohl seiner Patienten interessiert war. Jedenfalls setzte er ein müdes Lächeln auf und antwortete:

      „Fangen wir mit den guten Nachrichten an, Señora: der Junge wird durchkommen. Wir werden ihn noch ein, zwei Tage zur Beobachtung hier behalten müssen, aber dann wird er wieder toben können, wie bisher.“

      Montse fing wieder an zu weinen, diesmal aber aus Erleichterung. Ich würde gerne einwerfen, warum Frauen wohl alle so nah am Wasser gebaut haben, aber ich muss bekennen, dass auch meine Augenwinkel mehr als nur feucht waren. Tatsache ist, dass ich nun schon das zweite Mal innerhalb von zwölf Stunden wie ein Schlosshund flennte. Immerhin konnte ich wenigstens die nächste Frage folgerichtig formulieren:

      „Und was sind die schlechten Nachrichten, Doktor …?“

      „Dr. Sanchez, aber sagen Sie einfach Doc zu mir, das tun alle hier.“

      „Mein Name ist Jan und meine Freundin heißt Montse.“

      Wir tauschten ein müdes, aber freundliches Lächeln aus. Für eine förmliche Vorstellungsrunde taugte die Situation nun wirklich nicht. Ich für meinen Teil mochte den Mann, vor allem weil er einem kleinen Jungen, von dessen Existenz ich vor ein paar Stunden noch nichts gewusst hatte, wohl gerade das junge Leben gerettet hatte.

      „Nun, ich weiß nicht, ob ihr beide, das wirklich hören wollt, aber während der Nacht war der Junge zweimal klinisch tot.“

      Erschrocken schlug Montse die Hand vor den Mund und ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Ungerührt fuhr Sanchez fort:

      „Das erste Mal konnten wir ihn mit dem Defibrillator reanimieren, beim zweiten Mal habe ich ihm Atropin direkt in den Herzmuskel spritzen müssen. Also, Herrschaften, so etwas habe ich hier bislang noch nicht erlebt. Was ist hier eigentlich passiert?“

      Das schien die einhunderttausend Euro-Frage zu sein, so oft wie sie in den letzten Stunden gestellt worden war. Leider waren wir der Lösung des