Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld


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ihr, was der Unterschied zwischen einem Könner und einem Versager ist?, hatte ihnen Deggenhoff auf ihrer letzten Redaktionssitzung zugeworfen. Ein Versager sieht einen Mann am Straßenrand stehen und eine Zigarette rauchen. Nicht mehr und nicht weniger, einen Mann mit einer Zigarette, das ist alles. Anders gesagt, er hat überhaupt nichts gesehen. Ein Könner sieht ebenfalls einen Mann mit einer Zigarette am Straßenrand, aber er blickt ihm ins Gehirn und liest jeden seiner Gedanken. In diesem Kopf, so ahnt er, wird gerade ein Raubüberfall ausgebrütet oder ein Flugzeugabsturz geplant oder ein politisches Attentat ausgedacht. Ein Könner, Baschke, der sieht niemals nur das, was ihm vor Augen steht, sondern sieht zur gleichen Zeit alles, was in seinem Kopf alles möglich wäre. Der Könner ist der echte Realist. In unserer Zeitung brauchen wir nur den Könner.

      Baschke fühlte sich bei diesen Worten elektrisiert: Sie drückten nicht weniger aus als seine eigene Weltanschauung. Als er gestern mit dieser Frau zusammenlag, da dachte er noch an nichts anderes als an ein kurzfristiges Abenteuer ohne weitere Folgen, eines von vielen, die er sich gönnte, weil man doch nicht einzig und allein für seinen Beruf leben kann. Aber dann regte sich der Könner in ihm, das Mögliche stand ihm auf einmal vor Augen. Würde diese Frau nicht die ideale Ergänzung zu seiner immer noch unbeweibten Person abgeben? Er war ja nicht mehr der Jüngste, mit über dreißig wird man von vielen schon zum alten Eisen gezählt.

      Baschke blickte auf seine Uhr. Sie zeigte bereits zwanzig vor acht. Normalerweise erscheine Johanna Steuben gegen acht Uhr an ihrem Arbeitsplatz, so hatte ein Detektiv des Hauses im Auftrag von Deggenhoff vorsorglich herausgefunden. Zu Fuß, denn sie legte den Weg jeden Tag auf diese Weise zurück, brauchte sie eine gute halbe Stunde, manchmal etwas mehr, wenn die Ampeltaktung an den Zebrastreifen gerade besonders ungünstig war. Um absolut sicher zu gehen, dass er die Frau nicht verfehlt, hatte Baschke seinen Golf gegenüber von Nummer 39 schon um viertel nach sieben geparkt. Auf keinen Fall durfte er sie verfehlen, eine halbe Stunde Weg musste reichen, um sich ihr als Helfer und Freund zu präsentieren und die wichtigsten Fakten aus ihr herauszuholen.

      Das wichtigste Faktum war immer noch offen. Mit ihrem Anruf bei der Polizei hatte Marianne Steuben den Mordanschlag im letzten Moment vereitelt. Aber in welcher Absicht war das geschehen? Hatte die Steuben ihre Freundin vor Schaden bewahren wollen oder war sie eine Verräterin?

      Das Motiv der Fürsorge verkauft sich schlecht, damit bekommt man keinen guten Artikel hin, so viel stand für Baschke von vornherein fest. Die Leute sprechen auf starke Gefühle an, sie wollen etwas Deftiges, um sich zu empören. Fürsorge gehört zu den schwachen Gefühlen, mit denen man nur bei Softies und Weicheiern reüssiert. Verrat, das klingt so viel härter und besser. Darüber reden die Leute, das beschäftigt sie noch nach Tagen. Es ist wie bei dem qualmenden Mann am Straßenrand. Man muss nach dem Möglichen forschen, die Wirklichkeit ist eine erbärmliche Sache, für die Post-Zeitung ist die Wirklichkeit nie großartig genug, das hatte ihnen Deggendorf immer schon eingebläut, und er, Baschke, hatte das auf Anhieb begriffen. Er wusste, dass er zum Mittelpunkt seiner Geschichte unbedingt einen Verrat machen musste.

      Allerdings musste er damit rechnen, dass die Steuben sich hartnäckig zeigt - intellektuelles Milieu, wir kennen das, die üblichen Vorbehalte gegenüber unserer Zeitung. Der durchschnittliche Geistesmensch glaubt sich ja himmelhoch über die Massen erhaben, die alten Klassenbarrieren wurden in den Köpfen bis heute nie eingerissen. Wenn ich ihr sage, in wessen Auftrag ich hier erscheine, dann muss ich damit rechnen, dass sie das gutbürgerliche Schnäuzchen zu einem Grinsen verzieht und mir einfach den Laufpass gibt. Wir kennen das, darauf sind wir vorbereitet. In solchen Fällen bekämpft man den Teufel mit Beelzebub. Ich werde mich als Journalist eines sogenannten gutbürgerlichen Blattes ausgeben. Eine Notlüge, die mir nicht schaden kann, da niemand unser Gespräch aufzeichnet. Ratsam und eine List, die Deggenhoff sicher gefallen würde, wäre es sogar, ihr mit den schmutzigen Praktiken gewisser Massenmedien zu kommen - da sei es doch weitaus besser, wenn ein seriöser Journalist die Wahrheit in einem seriösen Blatt aufbereitet!

      Baschke schloss ganz kurz die Augen, in seinem Hirn poppte eine Weisheit auf, die ihm auch für diesen Fall gültig schien. Hast du es mit einer Frau zu tun, dann appelliere an ihre Gefühle, an ihr mitleidendes Herz! Ein schöner Spruch, dachte er, könnte von Nietzsche sein! Baschke liebte es mit den Namen der Großen zu spielen, wenn auch nur in Gedanken, denn er hatte früh erkannt, dass er sie keinesfalls lesen musste. Wenn man Artikel für den Mann auf der Straße schreibt, dann braucht man einfache Worte und einfache Gefühle. Von den Großen konnte man in dieser Hinsicht nichts lernen.

      Das Wichtigste ist das Mitgefühl, erteilte er sich selbst eine strategische Weisung. Wir haben es mit einer Frau zu tun, die bei der Caritas angestellt ist. Die ist von Kopf bis Fuß auf Mitleid eingestellt. Auf die Tränendrüsen werde ich drücken, das hat sich bisher noch immer bestens bewährt. Selbst wenn es anders sein sollte und sie ihre Freundin mit ihrem Anruf bei der Polizei in Wahrheit verraten wollte, zugeben würde sie das bestimmt nicht, sondern immer behaupten, alles nur aus Sorge und Mitleid getan zu haben. Ich muss mich als ihren wohlmeinenden Freund und Helfer anbieten, dem es allein darum geht, die sensationslüstern bellende Meute von der Hochreith fernzuhalten.

      Diesmal strich sich Baschke nicht über den Bauch - seine Selbstliebe steigerte sich zu einem Schlag mit der flachen Hand auf das Knie.

      Das ist es! Ich muss ihr als Retter erscheinen, der alles daran setzt, die öffentliche Meinung günstig zu stimmen. Gelingt mir das, dann dürfte es nicht allzu schwierig sein, alles aus der Steuben herauszuholen.

      So intensiv war Baschke mit sich selbst und den Gedanken zu seinem nächsten Artikel in der Post beschäftigt, dass er nichts davon bemerkte, wie heil und geradezu heiter die Welt in diesem Viertel am südlichen Rande der Stadt noch war. In den sorgsam gepflegten Gärten blühten die Rosen, bei den Nachbarn zur Nummer 39 lockte weißblühender Jasmin, Amseln sangen auf den Buchen jenseits des Zauns. Was sich im Kopf des Reporters Otto Baschke abspielte, besaß nicht den geringsten Bezug zu der umgebenden Stille. Überhaupt strahlte der Himmel im schönsten Blau und wusste offensichtlich nichts davon, dass es einen Fall Hochreith gab, der erst gestern wie eine Bombe geplatzt war und ein Feuer legte, das bald in allen Köpfen lodern sollte.

      Der tote Zaubergarten

      Für den Chronisten einer Geschichte ist es ein nicht allzu schwieriges Unterfangen, den Menschen in seinem Normalzustand darzustellen. Er darf sich sogar erlauben, seine belustigten Bemerkungen zur Selbstüberschätzung eines Mannes wie Baschke abzugeben. Dessen neue Freundin Jutta würde ihm, hätte er sie jetzt schon näher kennengelernt, sicher auch zu manchem ironischen Seitenhieb ermuntern. In der Welt der Baschkes stimmt eben vieles nicht, auch wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, mit Dreigroschenartikeln in einem Massenblatt Millionen von Menschen zu Hass oder Empörung zu entflammen.

      Aber jetzt befinden wir uns an einem ganz anderen Ort, nämlich im ersten Stock einer hinter großen Buchen verborgenen Villa, die schon äußerlich vom guten Geschmack und natürlich auch vom Wohlstand, um nicht zu sagen, vom Reichtum ihrer Bewohner kündet. Wenn Wohlstand und Reichtum etwas über den Seelenzustand aussagen könnten, dann dürften wir glauben, uns hier in einem Refugium des Glücks zu befinden. Wären wir vor einer Woche eingetroffen, dann hätte es dieses Glück wohl auch wirklich gegeben, am heutigen Tag aber ist davon nichts zu bemerken. Daher rührt auch die Vorsicht, mit der wir dieses Haus betreten und uns dem Manne nähern, der sich in dessen erstem Stock aufhält. Belagert wird er jetzt ohnehin von allen Seiten. Ein Mindestmaß an Zartgefühl gebietet es, sich nicht noch unter die auf ihn einstürmende Meute zu drängen.

      Über einen Menschen im Unglück zu reden, fällt schwer. Es lähmt einem beinahe die Zunge. Denn für den Betroffenen selbst bedeutet es weder Hilfe noch Trost, dass wir uns ihm als objektive, um Verständnis bemühte Betrachter nähern.

      Dennoch sind wir gezwungen, Edwin v. Hochreith in seiner Villa aufzusuchen und ihm indiskret über die Schulter zu blicken, denn er gehört nun einmal zu den Hauptpersonen des Dramas, das wochenlang die Gerichte beschäftigte und die öffentliche Meinung wohl noch lange in Atem hält. Allerdings werde ich mich bemühen, dem Vater Julia v. Hochreiths in meiner Darstellung jenes Maß an Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, welches von Leuten wie Baschke und der